Spekulative Philosophie
Definition
Basiswissen
Der Mathematiker und Naturphilosoph Alfred North Whitehead hat in seinem einflussreichen Buch "Prozess und Realität[1]" das Konzept einer spekulativen Philosophie entworfen. Diese ist der Logik und anderen Anforderungen verpflichtet (die Whitehead nennt), erfordert aber auch eine spielerische Phantasie (play of free imagination). Das ist hier kurz vorgestellt.
Whiteheads Definition einer spekulativen Philosophie
Direkt mit den ersten Sätzen seines Buches Prozess und Realität definiert Whitehead seine Idee einer spekulativen Philosophie: "Spekulative Philosophie ist der Versuch ein kohärentes, logisches und notwendiges System allgemeiner Idee zu formulieren, in welchem alle Teile unserer Erfahrungen gedeutet werden können. Mit dieser Vorstellng von 'Interpretation' meine ich, dass alles, dessen wir uns bewusst sind als erfahren (enjoyed), wahrgenommen, gewollt oder gedacht" jeweils ein Sonderfall eines allgemeinen Prinzips (scheme) ist. Dieses Prinzip sollte also kohärent, logisch und, im Bezug auf seine Deutung, anwendbar und angemessen (adequate) sein. Anwendbar bedeutet hier, dass ein beliebiger Erfahrungsgegenstand deutbar ist und angemessen heißt, dass es keine Erfahrungsgegenstände gibt, die nicht auf diese Weise deutbar sind.[1, Seite 3]
Whiteheads Metapher des freien Fluges
Whitehead erläutert im Anschluss an diese Definition die dort verwendeten Worte weiter. Er deutet dabei die Grenzen sprachlicher Ausrucksfähigkeit (deficiencies of language) und der empirischen Wissenschaften an. In den Naturwissenschaften hätte eine rein empirisch-induktive Methode einen Stillstand der Erkenntnis bewirkt. Hier[1, Seite 5] bringt Whitehaed die Spekulation (play of free imagination) ins Spiel: "Die wahre Methode der Erkenntnis (discovery) ist wie der Flug eines Flugzeuges. Man startet am Ort einer speziellen Beobachtung, man macht dann einen Flug in der dünnen Luft phantasierender (imaginative) Verallgemeinerung. Und dann landet man wieder für eine erneute Beobachtung, geschärft durch eine rationale Interpretation."
Naturforschung an sich ist spekulativ (1695)
Wie wichtig oder auch notwendig das Spekulative in der Naturfoschung ist, formulierte bereits im Jahr 1695 der r niederländische Physiker und Naturphilosoph Christiaan Huygens. Sinngemäß sagte er, dass man letztendlich nichts für sicher wissen kann, man habe nur Vermutungen (gissingen)[3]. Der Nutzen der Naturwissenschaften liege darin, die jeweils wahrscheinlichste Vermutung herauszufinden. Was Huygens im Jahr 1698 beschrieb, bezeichnet man heute als Theorie ↗
Fußnoten
- [1] Alfred North Whitehead: Process and Reality. Corrected Edition. The Free Press. New York. 1978. ISBN: 0-02-934570-7. (gemäß der Gifford Lectures 1927-1928). Hier speziell: Part I The Speculative Scheme, Section I. Speculative Philosophy.
- [2] Xavier Verley: La philosophie spéculative de Whitehead. Band 11 der Reihe Chromatiques whiteheadiennes. Online: https://doi.org/10.1515/9783110322422
- [3] Christiaan Huygens: Cosmotheoros. 1698 (mit einer Rechfertigung der spekulativen Methode (gissen)). Deutsch Weltbeschauer, oder vernünftige Muthmaßungen, daß die Planeten nicht weniger geschmükt und bewohnet seyn, als unsere Erde. Zürich, 1767; eine weitere deutsche Übersetzung von v. Wurzelbau erschien 1703 sowie 1743 in Leipzig. Huygens schreibt dort: „Des stellen wy hier niets voor wis en zeker (want hoe kan dat geschieden?) maar wy gaan alleen te werk met gissingen, over welker waarschijnelijkheid het een yder vry staat naar zijn zin te oordeelen. Wil nu iemand zeggen, dat wy dan vergeefschen arbeid doen, met gissingen te openbaren over zoodanige zaken, van welke wy zelve belijden nooit iets zekers te konnen werden begrepen: daar op antwoorde ik, dat de geheele oeffening der Natuurkunde [Studium Physices], voor zoo verre die in ’t uitvorschen van de oorzaken der dingen bezig is, om de zelve reden moest afgekeurt werden; waar in echter de hoogste lof is het waarschijnelijk gevonden te hebben, en waar in de nasporing der grootste en verborgenste dingen vermaak geeft. Dog der waarschijnelijke zaken zyn vele trappen, d’een nader aan de Waarheid, dan d’ander; waar omtrent naauwkeuriglijk acht te slaan het voor naamste gebruik van ons oordeel te pas komt.“ [3, Kapitel "Gissingen zijn niet ydel, om dat ze niet te enemaal zeker zijn."] Siehe auch Kosmotheoros ↗
- [4] J. D. Bernal: The World, the Flesh & the Devil. An Enquiry into the Future of the Three Enemies of the Rational Soul. Foyle Publishing. 1929. Siehe auch John Desmond Bernal ↗
- [5] Spekulative Philosophie hin zu Weltbildern muss interdisziplinär sein. Dazu schreibt der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912 bis 2007): "Man fühlt mehr und mehr die Gefahr, die in der Spezialisierung der Wissenschaften liegt. Man leidet unter den Schranken, die zwischen den Fächern aufgerichtet sind. Eine spezialisierte Wissenschaft ist nicht imstande, uns ein Weltbild zu geben, das uns in der Verworrenheit unseres Daseins einen Halt böte. Daher sucht man nach der Synthese, man wünscht den großen Überblick." In: Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Geschichte der Natur. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen. Erstauflage 1948, 6. Auflage 1964, mit einem Vorwort aus dem Jahr 1954. Dort in der Einleitung auf Seite 5. Siehe auch Weltbild ↗