Lokaloid
Spekulative Philosophie
Definition
Als Lokaloid soll hier disziplinübergreifend jedes handelnde Subjekt verstanden werden, dass seine Handlungen ganz an räumlich benachbarten Informationen ausrichtet. Wird die räumliche Nähe verallgemeinert zu einer irgendwie definierten Nähe, so wird das Konzept erweitert zum Meroid. Das ist hier kurz vorgestellt.
Boids: das klassische Modell
Schwärme von Vögeln oder Fischen bewegen sich aus der ferne gesehen oft so, als seien sie ein einzelner großer Organismus. Die geflogenen Kurven, Auf- und Abwärtsbewegungen sehen so aus, als seien sie wohlkoordiniert für den ganzen Schwarm. So können Schwärme Hindernissen geschickt ausweichen, fügen sich nach dem Flugmanöver aber wieder zum Kollektiv zusammen. Tatsächlich konnten Computermodelle zeigen, dass ein einzelnes Tier nur Informationen aus seiner unmittelbarsten Nachbarschaft verarbeiten muss, und dennoch entsteht daraus ein scheinbar übergeordnet kollektives Verhalten[12]. Siehe auch Boids ↗
Lokaloide in Militärwesen
Der Guerilla-Krieg auf der iberischen Halbinsel (1808 bis 1813), die Boerekommandos in den zwei Burenkriegen in Südafrika (1880 bis 1902), britische Kommandotrupps im Zweiten Weltkrieg oder die unabhängig operierenden Hilfskreizer der deutschen Marine sind Beispiel für kleine, bewegliche Einheiten, die die lokal vor Ort verfügbare Information nutzten, um dem Gegner nadelstichartig Schaden zuzufügen.
Lokaloide im Gegensatz zur Zentralmacht
In der Geschichte der Politik lässt ich über Jahrtausende der ständige Wettstreit zwischen Lokal- und Zentralmacht zurückverfolgen. So mussten sich bereits die Pharaonen im alten Ägypten häufig gegen aufstrebende Gaufürsten durchsetzen. In der deutschen Geschichte klingt das Motiv im Widerstreit zwischen kaiserlichem Anspruch über die Reichshoheit einerseits und den kleineren Königtümern, Erzbistümern, Freien Städten und Fürstentümern andererseits an. Der britische Philosoph Roger Scruton (1944 bis 2020) charakterisierte über dieses lokale Denken auch den Konservatismus, wenn er schreibt: „Der Konservatismus setzt auf historische Verbundenheit, auf lokale Identität und auf jene Art von Langzeitbeziehung, die zwischen Menschen entsteht, die ihre Neigungen an einen bestimmten Ort und innerhalb eines wohldefinierten Rahmens ausleben.[8]“ Wo das lokale Denken noch verbunden ist mit dem globalen (global denken, lokal handeln), kann man noch nicht von einem Lokaloid sprechen. Erst wenn das Lokale den Vorrang vor allem Übergeordneten genießt, ist der Träger dieses Denkens ein Lokaloid, im Politischen dann oft karikiert als Beispiel für Provinzialismus ↗
Das Subsidiaritätsprinzip
Einen gewissen Ausgleich, ein regierungstechnisches Optimum, zwischen den Möglichkeiten und Interessen lokaler Entscheider und den Interessen und Möglichkeiten einer Zentralmacht strebt das Prinzip der sogenannten Subsidiarität an: "Nur dort, wo die Möglichkeiten des Einzelnen bzw. einer kleinen Gruppe (Familie, Gemeinde) nicht ausreichen, die Aufgaben der Daseinsgestaltung zu lösen, sollen staatliche Institutionen subsidiär eingreifen. Dabei ist der Hilfe zur Selbsthilfe der Vorrang vor einer unmittelbaren Aufgabenübernahme durch den Staat zu geben.[13]"
Lokaloide im (ab)wertenden Sinn
Eng bei der rein sachlichen Idee eines heuristischen oder informationstheoretischen Lokaloiden angesiedelt ist soziale Kleingeist, der engstirnige Kirchturmpolitiker, der bornierte Kleinbürger und engstirnige Nationalist. Bevor man aber vorschnell andere Menschen so abtut, sollte man innehalten und fragen, ob nicht gerade ihre Bescheidung auf einen kleinen Ausschnitt der Welt, überhaupt erst die Voraussetzung dafür bietet, dass viele solche Lokaloide ein gemeinsames, größeres Ganzes bilden können.
Kosmische Lokaloide
Der englische Astrophysiker Arthur Stanley Eddington trug mit einer aufwändigen Messung während einer totalen Sonnenfinsternis wesentlich zur Bestätigung von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie bei. Er setzte sich aber auch philosophisch mit den Folgen dieser neuen physikalischen Weltsicht auseinander. In einem Gedankenexperiment versetzt er sich in das Denken von Wesen auf einem fernen Planeten in einem fernen kosmischen Nebel. Da sich diese Wesen mit 1000 Meilen von uns wegbewegen, nehmen sie Objekte um sich herum anders wahr als wir als ferne Beobachter. Inwiefern sie sich unsere Sichtweise vorstellen können, hängt von ihrer Phantasie ab.
ZITAT:
"Nur in einer Hinsicht betrachte ich meinen Nebel-Bewohners als mehr als einen Registrier-Apparat [von physikalischen Längen]; ich nehme an, er fällt typisch menschlichen Schwächen anheim, nämlich dem Glauben, dass es vor allem sein Planet war, an den Gott bei der Erschaffung des Universums dachte. So ist es wenig geneigt (wie auch mein Leser?), die Sicht von Wesen ernst zu nehmen, die so irregeleitet sind, dass sie sich mit einer Geschwindigkeit von 1000 Meilen pro Sekunde von seinem Kirchturm fortbewegen."[14]
"Nur in einer Hinsicht betrachte ich meinen Nebel-Bewohners als mehr als einen Registrier-Apparat [von physikalischen Längen]; ich nehme an, er fällt typisch menschlichen Schwächen anheim, nämlich dem Glauben, dass es vor allem sein Planet war, an den Gott bei der Erschaffung des Universums dachte. So ist es wenig geneigt (wie auch mein Leser?), die Sicht von Wesen ernst zu nehmen, die so irregeleitet sind, dass sie sich mit einer Geschwindigkeit von 1000 Meilen pro Sekunde von seinem Kirchturm fortbewegen."[14]
Eddington baut sein Beispiel auf einer Folge der Relativitätstheorie auf, die ganz dem gesunden Menschenverstand widerspricht: ein Stab wird in Richtung seiner Bewegung kürzer. Für eine Kugel heißt dass, von außen betrachtet wird sie bei ausreichend schneller Bewegung zu einem Ellipsoid. Und dem Menschen angeboren scheint wohl nach Eddington zu sein, sich selbst nicht nur für das Normale, sondern auch das Gottgewollte zu halten. Soll diese Haltung mit physikalisch-astronomischen Argumenten untermauert werden, bezeichnet man sie auch Anthropismus ↗
Selbstüberforderung: Autokauf in Ostfriesland, 2023
Das folgende Beispiel soll zeigen, wie die Handlung von Lokaloiden zu einer Selbstschädigung führen kann. In einem Zeitungsartikel wird im Juli 2023 ein Autohändler in Ostfriesland mit den folgenden Worten zitiert: "Für unsere Kunden geht die Frage nach Klimafolgen gegen Null": so fasst Wolfgang Hilbert, Autoverkäufer in Leer die Haltung von Kaufinteressenten zusammen[9]. Hintergrund der Äußerung sind Planungen der aktuellen Bundesregierung, das "Klima-Label" für Autos um weitere Angaben zur Klimawirkung zu ergänzen. Seinen Kunden gehe es "beim Autokauf um das Preis-Leistungs-Verhältnis. Nicht um die Klimafolgen", so Hilbert. Das bestätige auch der Auto-Verkäufer Olaf Henken aus Aurich.
Die hier von den Autohändlern verdichteten Einstellungen von Kunden sind ein gutes Beispiel für die Denkweise von Lokaloiden: Personen oder ganz allgemein Akteure (Soziologie) oder Agenten (Informatik), die ihre Entscheidung auf eng umrissenen Informationen aufbauen handeln informationstechnisch gesehen lokal. Die Grenzen können räumlich gesteckt sein (mein Haus, mein Ort, meine Region, Deutschland) oder zeitlich (die nächsten paar Jahre, das nächste Quartal), oder gemischt (hier und jetzt) oder sonstwie (meine Familie, meine Firma, mein Beruf, mein Hobby, meine Glaubensgenossen). Wesentlich für einen Lokaloiden ist, dass er kein Interesse an Informationen von außerhalb seines Interessensgebietes zeigt. Im Beispiel der Autokunden hatten diese kein Interesse an den Klimafolgen.
Bemerkenswert am Desinteresse von Autokunden für den Klimaschutz ist ihre eigene Verletzlichkeit. Ostfriesland liegt bereits heute teilweise unter dem Meeresspiegel (z. B. das sogenannte Sietland) und könnte zu einer der ersten großen Verlierer eines Anstieges der Ozeane werden. Technisch sei eine Erhöhung der heutigen Deiche um etwa 1 Meter noch möglich, gleichzeitig wird zum Jahr 2100 ein Anstieg des Meeres bei einem weltweiten "business as usual"-Szenario (keine nennenswerte CO2-Minderung) von einem Meter oder auch mehr vorausgesetzt[2, Seite 45 ff.]. Die Lokaloide im Beispiel handeln damit möglicherweise selbstzerstörerisch. Das unterscheidet sie von einem (intelligenten) Egoisten, wie er etwa als Homo oeconomicus in vielen Marktwirtschaftlichen Modellen unterstellt wird[11]. Beim Lokaloiden ist die Beschränkung auf eng definierte eigene Interessen nicht Ausdruck von Egoismus oder reiner Vorteilnahme. Die Beschränkung scheint fester Teil der psychischen Grundausstattung zu sein. Ob diese erblich oder kulturell bedingt, ist dabei nicht wesentlich.
Lokaloide als Evolutionsfallen
In der Evolution testen Arten ständig kleine Veränderungen ihrer Merkmale aus. Wenn ein Vogel Nachkommen erzeugt, dann haben alle Küken eine leicht unterschiedliche genetische Ausstattung, sie haben unterschiedliche Erbinformationen. Damit können die Küken zum Beispiel untereinander und auch im Vergleich zu ihren Eltern unterschiediche Färbungen des Gefieders "testen". Verursacht werden die genetischen Unterschiede zum Beispiel durch Mutationen und die Mischung der zwei elterlichen Erbanteile.
In einem abstrakten Sinn als Lokaloide kann man biologische Arten mit dieser darwinistischen Optimierungsstrategie bezeichnen, wenn die genetischen Variation der nächsten Generation vergleichsweise nahe an der Erbinformation der Eltern bleibt. Im Sinnbild einer Erfolgslandschaft[15] sind Individuen Punkte auf einer Fläche mit Hoch- und Tiefpunkten, steigenden und fallenden Bereichen. Je geringer die genetische Variation von einer zur nächsten Generation ausfällt, desto lokaler suchen die Individuen. Sie bewegen sich als Population immer nur "kurzsichtig" bergauf. So wandern sie auf ein lokales Maximum (höchste Fitness) zu und bleiben dann dort "hängen". Die Logik ihrer Optimierungsstrategie erlaubt es nicht, sich auf der Erfolgslandschaft bergab zu bewegen. Gibt es ein Maximum, das ihr momentanes lokales Maximum übertrifft, also mehr Fitness böte, würden sie es nicht finde. Sie sitzen in der Falle eines lokalen Maximus. Im Englischen spricht man auch von einer Falle des lokalen Optimus[16] oder einer premature convergence[17], auf Deutsch vorzeitige Konvergenz ↗
Verfahren mit lokaler Information
Viele Verfahren zum Auffinden möglichst guter Lösungen von Problemen verwenden nur lokale Informationen. Das klassische Beispiel ist ein Wanderer, der im dichten Nebel auf den Gipfel eines hohen Berges steigen will und als Information nur die Steigung in unmittelbarer Umgebung seines momentanen, lokalen Standortes nutzt.
Der Bergsteigeralgorithmus
Für eine Funktion mit unbekanntem Graphen werden Hochpunkte gesucht. Dazu kann man der Reihe nach einzelne Funktionswerte für gegeben x-Werte abfragen. Wenn man so für dicht beinander liegende x-Werte den y-Wert erfragt, kann man in mehreren aufeinanderfolgenden solchen Schritten immer weiter bergauf gehen. Das Verfahren wird oft in gedanlicher Nähe zu einer darwinistischen Evolution gesehen. So gesehen sind alle biologische Individuen und Arten Lokaloide. Siehe mehr unter Bergsteigeralgorithmus ↗