Global Brain
Theorie
Definition
Als Global Brain bezeichnet ein hypothetisches, aber als real angenommenes lebendes weltweites Gehirn: die Bestandteile des Global Brain sind Menschen, Maschinen und vor allem Computer Hard- und Software. Von 1983 bis in die frühen 2000er Jahre ist eine breite Literatur zu diesem Konzept entstanden. Das Konzept des Global Brain ist hier kurz vorgestellt.
Die ursprüngliche Idee
Satellitenaufnahmen von nächtlichen Lichterbändern in Industrieregionen erinnern rein optisch an die Struktur von Nervenzellen im Gehirn, Verkehrsnetze ähneln dem Geflecht von Arterien. Und verlinkte Webseiten an ein assoziatives Gedächtnis im menschlichen Gehirn: solche Analogien machten verschiedene Versionen einer Global Brain Theorie in den 1980 bis 2000er Jahre populär - insbesondere das Internet wird dabei als globales Gehirn eines erwachenden weltweiten Lebewesens angesehen. Zum ersten mal verwendet wurde der Begriff Global Brain von dem Physiker und Mathematiker Peter Russell ↗
Theorie lebender Staaten im 19ten Jahrhundert
Im 19ten und frühen 20ten Jahrhundert waren Theorien zu Staaten als lebende Wesen weit verbreitet. Griffig war die Metapher vom Sozialen Organismus. Dabei hielten einige Autoren die Staatsgebilde für psychisch sich erlebenden, beseelte Wesen. Man verglich dabei zum Beispiel Telegraphensystem mit Nervensystemen von Tieren[19]. Diese Gedankenströmung wurde unter dem Begriff Organische Theorie zusammengefasst. Das Wort Organ, wörtlich so viel wie Werkzeug, sollte angedeutet werden, dass der Staat aus Teilen besteht, die auf zweckvolle Weise auf das Ganze hin wirken. Treffenderweise sprechen wir auch heute noch von Staatsorganen. Siehe dazu unter Organische Theorie ↗
Ab 1960: systemische Theorie und Analogiedenken
Gaia als ein biologisch-geologisches globales Wesen oder die Energon-Theorie des Biologe Hans Hass: Seit den 1960er Jahren entstanden eine Reihe von kybernetisch-systemischen Theorien die vor allem Prozesse der Selbstregulation und der Stabilisierung von Lebensfunktion auf globaler Ebene erkennen wollten. Diese Theorie modellierten dabei kaum oder gar nicht denkerisch-kognitive Prozesse des unterstlelten Weltwesens sondern eher biologische Prozesse, die auch ohne Nervenzellen ablaufen. Siehe dazu beispielhaft unter Gaia-Theorie ↗
Ab 1982: das Global Brain als denkendes Weltwesen
Im Jahr 1982 wurde erstmals der Begriff Global Brain in seiner heutigen Form benutzt[1]. Der Physiker Peter Russell sah in den Prozessen der Erdoberfläche vom Weltraum gesehen ein globales Gehrirn. Mit dem sich abzeichnenenden Internet wurde diese Metapher dann in den 1990er Jahren und vor allem um die frühen 2000er Jahre weiterentwickelt zur Vorstellung einer Verschmelzung der menschlichen Gesellschaft, der Industrieprozesse und vor allem der explodierenden IT-Technologien hin zu einem hybriden soziotechnischen Weltsystem, dem Global Brain im heutigen Wortsinn. Für eine Übersicht zu den vielen Facetten dieses Gedanken siehe die Fachwortliste Global Brain (Glossar) ↗
Das Global Brain Fortsetzung der Evolution?
Manche Autoren sehen im Global Brain eine fast zwangsläufige nächste Stufe der biologischen Evolution auf der Erde: aus Atomen wurden Moleküle, aus Molekülen wurden Zellen, aus Zellen wurden einzelne Lebewesen, aus diesen wiederum entstanden Herden und andere soziale Gefüge. Verschiedene Denker setzen diese vergangene Entwicklung nun fort in die Zukunft und fragen, ob auf der Erde die Evolution eine nächst höhere Stufe der Evolution erklimmt, mit IT-Strukturen als Nervenknoten oder Gehirnen. Die Idee hat jedoch einen inneren Widerspruch. Evolution im darwinistischen Sinn setzt eine Population konkurrierender Individuen voraus. Ein Globales Gehirn kann aber auf der Erde keine Neben-Individuen haben und damit auch nicht auf rein evolutioären Weg sich entwickeln. Zur Idee einer spiralförmigen Höherentwicklung des Lebens auf der Erde ganz allgemein siehe unter evolutionäre Transitionen ↗
Schwierige Mathematisierung der Global Brain-Metapher
Die Theorie neuronaler Netzwerke ist die Grundlage erfolgreicher progammierter künstlicher Intelligenzen. Netzwerkarchitekturen und Algorithmen sind sehr weitgehend mathematisiert und als Computerprogramm umsetzbar. Eine Übertragung dieser Modelle auf globale, regionale oder auch nur organisationale (Firma) Netzwerke ist bis dato (2021) aber noch nicht erfolgt. Zu erwarten wären beispielsweise: wie kann der Erfolg eines globalen Netzes im Sinne einer Erfolgsfunktion gemessen werden? Könnte man in Kommunkationsnetzwerken Backpropagation realisieren? Wie könnte eine synaptische Wichtung menschlicher oder sonstiger Kommunkation im Hinblick auf Zieloptimierung aussehen? Als Vorbild einer Mathematisierung eignet sich ein neuronales Netz ↗
Kritik an bestehenden Konzepten zum Global Brain
Die betrachteten Modelle eines Globalen Gehirns (siehe Literatur unten) sind einleuchtende Beschreibungen von Analogien zwischen der weltweiten Technosphäre einerseits sowie künstlichen neuronalen Netzen und biologischen Nervensystemen andererseits. Auf dem Weg hin zu einer wissenschaftsfähigen Modellbildung fehlen aber wesentliche Schritte:
- Es fehlen Modelle, wie aus getrennten Bewusstsein ein Über-bewusstsein entstehen soll Kombinationsproblem ↗
- Es fehlen Vorschläge zur empirischen Überprüfung von Teilaspekten der Theorie Empirismus ↗
- Es fehlen Vorschläge, wie man die Theorien widerlegen könnte Falsifizierungsprinzip ↗
- Es fehlen Aussagen über die funktionale Rolle von einem oft unterstelltem Bewusstsein ↗
- Es fehlen Kriterien, warum nicht eher Unternehmen oder Staaten zerebralisieren Global Brain ↗
- Es fehlt ein Vorschlag, wie genau das globale Gehirn lernen soll, etwa über Backpropagation ↗
- Es fehlt ein Anschluss an die SETI-Forschung. Gibt es extraterrestrische Globale Gehirne Solaris ↗
Das Global Brain als Dystopie und als Utopie
Die überwiegende Mehrheit der Autoren (Russell, Heylighen, Stock, Rosnay) sah die Rolle des Menschen in einem sozialen Superorganismus eher positiv: die Vernetzung bietet viele Möglichkeiten, die Kreativität wird ausgeweitet und viele Probleme können im Kollektiv besser bewältigt werden. Kritisch im Sinne der Gefahr einer kognitiven und mentalen Degeneration urteilten hingegen der Mediziner Sadegh-Zadeh Kazem (Machina Sapiens) sowie der Roman-Autor Stanislaw Lem soziointegrative Degeneration ↗
Fachworte zum Global Brain: das Glossar
Hebbsche Regel, Kybiont und Metasystem-Tranisitionen: Fachworte aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sowie wichtige Namen im Zusammenhang mit der Theorie des Global Brain sind in einem Glossar zusammengestellt. Siehe dazu unter Global Brain (Glossar) ↗
Bilder zum Global Brain
- https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Global_Brain_-_single_neuron_represents_activity_pattern.gif
Fußnoten
- [1] Peter Russell: The Awakening Earth Our Next Evolutionary Leap. 1982. ISBN: 978-086315-616-8.
- [2] Peter Russell: The Global Brain: speculations on the evolutionary leap to planetary consciousness. Los Angeles: JP Tarcher. 1983.
- [3] Mayer-Kress, G.; Barczys, C. (1995). "The global brain as an emergent structure from the Worldwide Computing Network, and its implications for modeling". The Information Society. 11 (1): 1–27.
- [4] Heylighen, Francis (2011). "Conceptions of a Global Brain: an historical review" (PDF). In Grinin, L. E.; Carneiro, R. L.; Korotayev, A. V.; Spier, F. (eds.). Evolution: Cosmic, Biological, and Social. Uchitel Publishing. pp. 274–289.
- [5] Peter Russell: Auf dem Weg zum globalen Gehirn. Die digitale Revolution ist die letzte Stufe auf dem Weg zu einem Superorganismus. Übersetzt von Florian Rötzer. 3. Dezember 1996. In: Telepolis. https://www.heise.de/tp/features/Auf-dem-Weg-zum-globalen-Gehirn-3412629.html
- [6] Goertzel, Ben (2002). Creating Internet Intelligence: Wild computing, distributed digital consciousness, and the emerging global brain. Kluwer Academic/Plenum Publishers. ISBN 9780306467356.
- [7] Helbing, Dirk (2015). "Creating ("Making") a Planetary Nervous System as Citizen Web". Thinking Ahead – Essays on Big Data, Digital Revolution, and Participatory Market Society. Springer International Publishing. pp. 189–194.
- [8] Howard Bloom: Global Brain. Die Evolution sozialer Intelligenz. Wiley, 2000.
- [9] Stanislaw Lem: Solaris [Roman]. Übersetzung von Irmtraud Zimmermann-Göllheim. Marion-von-Schröder-Verlag, Hamburg & Düsseldorf 1972. Siehe auch Solaris ↗
- [10] Gregory Stock: Metaman: The Merging of Humans and Machines into a Global Superorganism. Simon and Schuster (1993). Kapitel 5: The Mind of Metaman. An evolving global brain. Mehr unter Metaman ↗
- [11] Joel de Rosnay: Le cerveau planétaire. 1986, Editions Olivier Orban.
- [12] G.A.J.M Jagers op Akkerhuis (2010): "The operator hierarchy: a chain of closures linking matter, life and artificial intelligence". Hier speziell das Kapitel 3, ab Seite 77: Extrapolating a hierarchy of building block systems towards future neural network organisms.
- [13] Francis Heylighen, Johan Bollen: The World-Wide Web as a Super-Brain: from metaphor to model. In: Cybernetics and Systems '96 R. Trappl (ed.), (Austrian Society for Cybernetics). Seiten 917-922.
- [14] H. G. Wells: World Brain. London: Methuen & Co., Ltd.; Garden City, NY: Doubleday, Doran & Co., Inc. 1938.
- [15] Cadell Last: Global Brain Singularity. Universal History, Future Evolution and Humanity’s Dialectical Horizon. Springer. 2020. ISBN: 978-3-030-46966-5.
- [16] Evo Busseniers: Foundations for a Mathematical Model of the Global Brain: architecture, components, and specifications (Global Brain Institute, Working Papers No. 2012-05). GBI Working Papers.
- [17] Bernstain, Abraham: The global brain semantic web - Interleaving human-machine knowledge and computation. 2012. Paper of: ISWC2012 Workshop on What will the Semantic Web Look Like 10 Years From Now? DOI: 10.5167/uzh-73180. Siehe auch Semantisches Web ↗
- [18] Gillings, Michael R;Hilbert, Martin;Kemp, Darrell J: Information in the Biosphere: Biological and Digital Worlds. In: Trends in Ecology and Evolution. Volume 31, Issue 3, Pages 180-189, March 2016. DOI: 10.1016/j.tree.2015.12.013. Die Autoren gehen von der Entstehung eines globalen Superorganismus, eines Digitalen Organismus (Seite 5) aus. Dieser bestehe aus digitalen und biologischen Bestandteilen (biological-digital fusion). Das Susbtrat der Evolution verschiebe sich dabei von der Biochemie, zur Biologie, zur Kultur bis hin zur Technologie. Online: https://escholarship.org/uc/item/38f4b791
- [19] Der Biologe Ernst Haeckel (1834 bis 1919) vergleicht den biologischen Seelenapparat eines Wurmes mit der damaligen Kommunikationstechnologie des Telegraphen: "Will man sich eine klare Anschauung von der Tätigkeit eines solchen Seelenapparates, vom Wesen des Seelenlebens verschaffen, so hilft dazu am besten der oft wiederholte Vergleich mit einem elektrischen Telegraphensystem. Dieser bekannte Vergleich ist nicht allein durch die ganze Einrichtung des Seelenapparates gerechtfertigt, sondern namentlich auch daduch, daß bei den Verrichtungen desselben in der Tag elektrische Ströme die größte Rolle spielen." In: Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen (1878). Herausgegeben vom Verlag, im Jahr 1909. Seite 14 f. Siehe auch Zellseelen und Seelenzellen ↗
- [20] George B. Dyson: Darwin im Reich der Maschinen. Die Evolution der globalen Intelligenz. Wien und New York: Springer Verlag 2000, (Bd. XIII der Reihe Computerkultur, hrsg. von RolfHerken), 316 S., ISBN 3-211-83588-1 (orig.: AddisonWesley Publishing Company, 1997)