Quantenphilosophie
Physik
Definition
Als Quantenphilosophie bezeichnet man die Verbindung von Themen der Quantenphysik mit philosophischen Fragen wie etwa nach Sinn, menschlicher Erkenntnisfähigkeit, dem Wesen von Materie, Geist oder Leben und dem Freien Willen.
Wozu-Fragen: Quantenphilosophie und der große Sinn
Für viele Leser liegt der Reiz der Quantenphilosophie in der Möglichkeit, dass sie das Tor zu einem erfüllteren menschlichen Sein öffnen könnte[15]. Die Wellenfunktion der Quantenphysik legt nahe, dass im Universum alles mit allem verbunden ist, vielleicht sogar durch die Dimension der Zeit. Das klingt für viele so, als sei die Welt ein großes Gemeinschaftsprojekt, in dem jeder einzelne aufgeht. Eine andere Kernaussage der Quantenphysik ist, dass die Welt nicht deterministisch abläuft. Das wird von manchen wie Freiheit und Unbestimmtheit gedeutet. Man sollte jedoch vorsichtig mit solchen Deutungen sein. Die Idee, dass alles mit allem verbunden sein könnte, kann man auch so deuten, dass wir wie eine Katze und eine Maus auf einem treibenden Floß nicht voneinander fliehen können, ob wir uns mögen oder nicht. Zudem stehen wir mit unseren Entdeckungen in der Welt der Quantenphysik historisch gesehen erst am Anfang. Wir sollten jede Weltanschauung nur als Denkmöglichkeit betrachten. Als klassische Kernfragen betrachtet man oft die vier kantischen Fragen ↗
Was-ist-Fragen: Quantenphilosophie als Ontologie
Was ist Materie? Was ist Licht? Was sind Raum, Zeit, Ursache und Wirkung? Wenn Physiker schreiben, dass ein Lichtteilchen gleichzeitig durch zwei voneinander weit entfernte Öffnungen in einer Wand gehe oder zwischen zwei Beobachtungen vielleicht gar nicht existiert, dann stellt sich die Frage, was man sich unter einem Wort wie Existenz überhaupt vorstellen soll[8].
Die Ontologie als Disziplin der Philosophie stellt solche Frage. Dabei ist aber oft unklar, welcher Art die Antwort überhaupt ausfallen soll. So antwortet der Physiker auf die Frage was denn Materie sei oft knapp (und nicht falsch) mit der Aussage: der Quotient aus Kraft und Beschleunigung. Eine solche Antwort befriedigt aber nicht jeden. Wonach man eigentlich fragt ist das Wesen der Dinge. Was aber wiederum meint man mit dem Wesen der Dingen? Unter anderem damit beschäftigt sich die Ontologie (Philosophie) ↗
Wie-können-wir-wissen-Fragen: Quantenphysik als Erkenntnistheorie
Wie-können-wir-wissen-Fragen: Könnte die Welt traumartig sein?[10], können wir die "Dinge an sich" überhaupt sicher erkennen[11]? Solche Fragen durchziehen die Geschichte der Philosophie seit ihren Anfängen in der griechischen Antike. Die Quantenphysik legt es nahe, dass die Dinge nicht unabhängig von uns selbst sind, sondern möglicherweise untrennbar mit dem Akt einer Beobachtung verbunden sind[9]. Die Frage, was wir überhaupt sicher über die Welt der Quanten herausfinden können ist einer der vielen Gegenstände der Erkenntnistheorie ↗
Was-wäre-wenn-Fragen: Quantenphysik als spekulative Philosophie
Was-wäre-wenn-Fragen: anerkannte Wissenschaftler wie etwa der Neurowissenschaftler John Eccles (1903 bis 1997) oder der Mathematik Roger Penrose (geboren 1931) formulierten detaillierte Vermutungen darüber, in welcher Verbindung Geist und Materie stehen könnten[6][7]. Beide suchten nach einem Weg, wie die scheinbare Kausalität der materiellen Welt mit dem Befürfnis nach einem Freien Willen versöhnt werden könnte. Als Wissenschaftler wiesen sie ihre Spekukaltionen aber stehts als solche aus, belegten jeden Gedanken umfangreich mit Hintergründen und gaben dem Leser Material zur eigenen Überprüfung an die Hand. Andere große Physiker waren skeptisch bezüglich einer besonderen Rolle der Quantenphysik im Uhrwerk des Lebens[19]. Dass die Quantenphysik etwas mit Nahtoderlebnissen zu tun haben kann war ein Gedanke des Mathematikers Günter Ewald (1929 bis 2015)[17]. Eine wache Selbstkritik ist ein wesentliches Merkmal für eine erfolgreiche spekulative Philosophie ↗
Zeilingers Kant-Forderung: mehr Philosophie in der Physik
Im Jahr 2006 forderte der spätere Nobelpreisträger der Physik, Anton Zeilinger, dass es mehr Verbindungen zwischen der Philosophie und der Physik geben sollte. In einem Interview im schweizer Fernsehen[5] beschrieb er eine Reihe von Erkenntnisproblemen der Quantenphysik seiner Zeit. Das Interview ist kurz zusammengefasst im Artikel zu Zeilingers Kant-Forderung ↗
Wissenschaftler über Quantenphilosophie
- Forderung nach mehr Philosophie in der Physik Zeilingers Kant-Forderung ↗
- Die Tragweite der Wissenschaft Carl Friedrich von Weizsäcker ↗
- John Arichbald Wheeler und sein partizipatorisches Universum[9] ↗
- Mein Leben, meine Weltansicht von Erwin Schrödinger ↗
- Der Teil und das Ganze von Werner Heisenberg ↗
- Pauli und Jung Briefwechsel Wolfgang Pauli ↗
- Unvorhersagbarkeit Stephen Hawking[4, Seite 78] ↗
- Computerdenken Roger Penrose ↗
Quantenphilosophie als Pseudowissenschaft
Zum Schluss noch ein persönlicher Vorbehalt: viele Autoren verbinden die Quantenphysik mit Spiritualität und Esoterik. Meist wird dem Leser ein einfacher Weg zu individueller Sinnerfüllung angeboten. Häufige Themen sind Gesundheit, Heilung, Spiritualität und Natur. Rhetorische Stilmittel suggerieren dem Leser Wissenschaftlichkeit. Selten aber wird ein physikalisch solider Hintergrund dargelegt, selten werden Vorschläge gemacht, wie man die Behauptungen überprüfen könnte. Dem Leser soll es damit nicht zu schwer gemacht werden. Doch von der Quantenphysik etwas zu verstehen ist schwer. Wo dem Leser aber nicht gezeigt wird, wie er Behauptungen verstehen und nachprüfen kann, darf man stutzig werden. Werden dann noch wissenschaftliche Fachworte und anerkannte Fakten ununterscheidbar mit Glücksverheißungen (Gesundheit, Zufriedenheit, Sinngefühle) vermengt, wird aus Wissenschaft leicht Pseudowissenschaft. Ein Beispiel für eine so verstandene Pseudowissenschaft ist für mich Ulrich Warnkes Quantenphilosophie ↗
Buchempfehlungen zur Quantenphilosophie
- Übersicht: Eine gute Übersicht über gängige Deutungen der Quantenphysik sowie insbesondere eine gut nachvollziehbare Darstellung einiger paradoxer Befunde der Quantenphysik gibt der Amerikaner Henry Stapp in einem kleinen Buch[13]. Das Buch ist gut lesbar mit dem Wissensstand den man in etwa mit dem Realschulabschluss hat. Es ist leider nur auf Englisch verfügbar. Siehe auch Henry Stapp ↗
- Bewusstsein: In einem Sachbuch mit über 500 Seiten[12] entwickelt der englische Mathematiker Roger Penrose (geboren 1931) Schritt für Schritt den Gedanken, dass quantenphysikalische Vorgänge in der Natur mit dem Phänomen des Bewusstseins in Verbindung stehen könnten. Penrose legt legt in scheinbar weit voneinander entfernten Gebieten der Physik, der Mathematik und der Biologie Prämissen, aus denen er am Ende des Buches einen verdichteten Schluss zieht. Das Buch ist gut lesbar für jeden, der über den mathematischen und physikalischen Wissensstand des Abiturs verfügt. Das Buch ist kurz vorgestellt unter Computerdenken ↗
- Wille: Ein Nobelpreisträger der Biologie und ein Erkenntnistheoretiker diskutieren den Gedanken, dass bestimmte quantenphysikalische Prozesse im Gehirn mit dem Freien Willen in Verbindung stehen könnten[6]. Dabei streifen die Autoren viele Gebiete auch außerhalb der Physik, insbesondere aus der Erkenntnistheorie. Siehe auch John Carew Eccles ↗
Fußnoten
- [1] C. F. von Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft. S. Hirzel Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart. 6. Auflage. 1990. ISBN: 3-7776-0468-2.
- [2] C. F. von Weizsäcker: Ein Blick auf Platon. Ideenlehre, Logik und Physik. Reclam Universal-Bibliothek. 1981. ISBN: 3-15-007731-1
- [3] Werner Heisenberg: Quantentheorie und Philosophie. Reclam Universal-Bibliothek. 1983. ISBN:3-15.009948-X
- [4] Stephen Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Englischer Originaltitel: A Brief History of Time. From the Big Bang to Black Holes. Deutsch im Rohwolt Taschenbuch Verlag. 1988. ISBN: 3-499-188-50-3.
- [5] Anton Zeilinger: Einstein auf dem Prüfstand. In: Sternstunde Philosophie. Interview des Schweizer Rundfunks. 14.05.2006. Siehe auch Zeilingers Kant-Forderung ↗
- [6] Popper, Karl R. und Eccles, John C.: Das Ich und sein Gehirn. Piper Verlag, München 1997. Siehe auch John Carew Eccles ↗
- [7] Roger Penrose: Computerdenken. Des Kaisers neue Kleider oder Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Natur. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1991, ISBN 3-8274-1332-X. Siehe auch Computerdenken ↗
- [8] Die zwei Beispiele beziehen sich auf das sogenannte Doppelspaltexperiment, eines der Kernexperimente der Quantenphysik. Es gibt bis heute keine allgemein akzeptierte Deutung, was die vermuteten Lichtteilchen oder Wellen beim Durchgang durch eine Wand mit zwei Spalten sind oder was sie dabei machen. Unter den vielen Möglichkeiten einer Interpretation finden sich Idee wie die, dass ein Teilchen gleichzeitig an verschiedenen Orten sein kann oder dass es zwischen zwei Messungen überhaupt gar nicht existiert. Siehe auch Doppelspaltexperiment ↗
- [9] John Archibald Wheeler: Information, physics, quantum: The search for links. In: Zurek, Wojciech Hubert (ed.). Complexity, Entropy, and the Physics of Information. 1990. Redwood City, California: Addison-Wesley. ISBN 978-0-201-51509-1. (Definition von "participatory universe" auf Seite 5). Siehe auch partizipatorisches Universum ↗
- [10] George Berkeley: Treatise on the Principles of Human Knowledge. 1710. Berkeley führte gute dafür an, dass wir mit der Existenz einer für sich alleine seiende Welt vorsichtig sein sollten. Siehe auch Berkeley-Frage ↗
- [11] Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, AA IV, Kritik der reinen Vernunft. Dort auf Seite 178 argumentierte Kant, dass wir das "Ding an sich" niemals direkt wahrnehmen können. Siehe auch Ding an sich ↗
- [12] Roger Penrose: Computerdenken. Des Kaisers neue Kleider oder Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Natur. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1991, ISBN 3-8274-1332-X. Siehe auch Computerdenken ↗
- [13] Henry Stapp: Mind, Matter and Quantum Mechanics. Springer Verlag. 1993. ISBN: 3-540-56289-3. Siehe auch Henry Stapp ↗
- [14] Stephen Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Englischer Originaltitel: A Brief History of Time. From the Big Bang to Black Holes. Deutsch im Rohwolt Taschenbuch Verlag. 1988. ISBN: 3-499-188-50-3.
- [15] Der Psychologe Stefan Ruf bemerkte, dass die eigentlichen Entdecker der Quantenphysik das völlig Neuartige an ihr erkannten. Sie beschäftigten sich mit alternativen Denkweisen wie dem fernöstlichen Tao (Niels Bohr), der Baghavadgita (Robert Oppenheimer) oder Goethes Farbenlehre (Niels Bohr, Carl Friedrich von Weizsäcker). Doch, so der Psychologe Stefan Ruf, betraf "diese Transformation [...] selbst im Bereich der Physik fast nur die Entdecker der Phänomene. Bereits die nächsten Generationen von Physikern konnten viele der Ergebnisse wieder rationalisieren - die Phänomene wurden verflacht, indem sie theoretisiert oder mathematistiert wurden. Noch viel probelmatischer jedoch erging es den anderen Fachbereichen: in der Chemie, Biologie, Biochemie, Genetik, Medizin, Psychologie, Informatik kamen die Konsequenzen des neuen Weltbildes gar nicht an." In: Stefan Ruf: Klimapsychologie. Atmosphärisches Bewusstsein als Weg aus der Krise. Info3 Verlag. 2019. ISBN: 978-3-95779-109-2. Dort die Seiten 94 und 96.
- [16] Günter Ewald: Auf den Spuren der Nahtoderfahrungen. Gibt es eine unsterbliche Seele? Butzon & Berger. 2. korrigierte Auflage von 2012. ISBN: 978-3-7666-1544-2. Dort die Kapitel "Schafft Bewusstsein das Sein?". Seite 105 bis Seite 107. Sowie: "Bewusstsein und Seele". Seite 130 bis Seite 133.
- [17] Günter Ewald: Auf den Spuren der Nahtoderfahrungen, Butzon & Bercker 2012. Ewald argumentiert dort unter anderem mit dem Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon ↗
- [18] Günter Ewald: Gehirn, Seele und Computer. Der Mensch im Quantenzeitalter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006.
- [19] Der Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger gesteht den Quantenprozessen keine besondere Rolle in biologischen Systemen zu. Im Jahr 1944 schrieb Schrödinger: "Dem Physiker gegenüber möchte ich betonen, daß nach meiner Ansicht, die allerdings verschiedentlich nicht geteilt wird, die Unbestimmtheit der Quanten bei diesen Vorgängen keine biologisch wesentliche Rolle spielt, ausgenommen vielleicht durch Steigerung des Zufallscharakters von Vorgängen wie der Reifeteilung, der natürlichen und der durch Röntgenstrahlen hervorgerufenen Mutation usw. – und das ist sowieso unbestritten." In: Erwin Schrödinger: Was ist Leben?: Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. R. Piper GmbH & Co. KG, München 1987. ISBN: 3-492-11134-3. Dort die Seite 121. Siehe auch Leben ↗
- [20] Die Quantenphysik ist nur ein (lingustistisches) Modell, keine anschauliche Abbildung der wirklichen Welt: "In both physics and pure mathematics, as the abstractness of the theories increased the understanding of their linguistic nature became solidly rooted. The decisive impetus was given to this process in the early twentieth century when physics entered the world of atoms and elementary particles, and quantum mechanics and the theory of relativity were created. Quantum mechanics played a particularly large part. This theory cannot be understood at all unless one constantly recalls that it is just a linguistic model of the
- [21] Schlosshauer, M., J. Kofler und A. Zeilinger: A Snapshot of Foundational Attitudes Toward Quantum Mechanics. Stud. Hist. Philos. Sci. B Stud. Hist. Philos. Mod. Phys. 44 (3). 2013. S. 222–230. Online: https://doi.org/10.1016/j.shpsb.2013.04.004
- [22] Michel Bitbol: Some Steps Towards a Transcendental Deduction of Quantum Mechanics. In: Philosophia Naturalis, 35, 253-280, 1998.