Pseudoakademisierung
Gedankenskizzen
Grundidee
Pseudoakademisierung im eigentlichen Sinn des Wortes steht für eine nur scheinbare Erfüllung akademischer Ansprüche[50]. Wenn zum Beispiel der Lehrplan für einen Leistungskurs Physik an Gymnasien die Themen Quantenphysik und Einsteins Relativitätstheorie vorschreibt, sich gleichzeitig aber viele Schüler schwer tun mit der Rechnung 4 geteilt durch ½, dann werden die akademischen Ansprüche ganz sicher nur scheinbar erfüllt[53]. Der folgende Artikel zeigt an Beispielen aus der Mathematik und Physik, was man unter eine Pseudoakademisierung verstehen kann.
Pseudoakademisierung in der Schule
Schülern in der Klasse 6 sogenannte Box-Plots aus der Statistik erklären zu wollen[40], halte ich für pseudoakademisch. In der Klasse 12 schwere Aufgaben zur Quantenphysik zu rechnen, wenn Schüler gleichzeitig nicht sicher wissen, dass Kraft mal Weg Arbeit gibt, ist ebenso pseudoakademisch. In diesem Artikel möchte ich[36] einige reale Fälle von deutschen und belgischen[37] Schulen beschreiben, um greifbar zu machen, was Pseudoakademisierung meinen kann. Die Pseudoakademisierung führt dabei zu einem zerstörerischen Unterrichtstil, der viele Schüler dauerhaft überfordert, Lehrer eigentlich frustrieren sollte und manche Schüler in ein Studium als Sackgasse führt[38][39]. Weiter deute ich an, warum eine Akademisierung an sich nicht schlecht sein muss, aber es durchaus eine Pseudoakademierung als Problem gibt. Zunächst möchte ich einige Beispiele aus meiner Erfahrung als Leiter einer Lernwerkstatt in Aachen geben[1].
Fallbeispiel 1: Integralrechnung ohne Division
2023: ein Schüler im vorletzten Jahr vor dem Abitur bearbeitet im Grundkurs Mathematik in Nordhrhein-Westfalen Themen zur Integralrechnung. Es ging um die Ideen des Integrals und der Stammfunktion, deren Herleitung aus einer Ober- und Untersumme, den Unterschied zwischen Flächenbilanz und Flächenbetrag und einiges mehr. Gleichzeitig konnte derselbe Schüler Aufgaben wie 4 geteilt durch 0,5 oder 30 mal 0,1 oder die Lösung einer Gleichung wie 0,5·x-8=50 auch mit beliebig viel Zeit alleine nicht lösen. Derselbe Schüler erreichte in einer Klassenarbeit zur Integralrechnung die Note 3+. Dies ist kein Einzelfall[20]. Wenn Schüler in der höheren Mathematik[44] gute Noten erzielen, gleichzeitig aber große Probleme mit dem Stoff aus den Klassen 5 bis 8 haben, liegt nur scheinbares Können vor.
Fallbeispiel 2: Bohrsches Atommodell ohne Kreisbewegung
2024: ein Schüler im letzten Jahr vor dem Abitur behandelte im Leistungskurs Physik Themen wie die Bohrschen Postulate, die Streuung von Alphateilchen an einer Goldfolie (Rutherford), den Millikan-Versuch, den Franck-Hertz-Versuch, den Welle-Teilchen-Dualismus, Interferenz, stehende Wellen oder auch Materiewellen. Derselbe Schüler[2] konnte alleine nicht berechnen, wie lange ein Stein aus 2 Meter Höhe benötigt, um auf den Erdboden zu fallen. Er vermengte Formeln zur beschleunigten Bewegung mit Formeln zur unbeschleunigten Bewegung ohne dies alleine zur merken. In schriftlichen Arbeiten erreichte er stabil die Note 2.
Fallbeispiel 3: Textaufgaben ohne Wortverständnis
2014: Ein Schüler der Klasse 9 hatte ein Naturtalent für Zeichnen. Ohne Vorlage konnte er naturgetreu und äußerst detailliert Landschaften, Personen und technische Geräte zeichnen. So kam ich auf die Idee, dass er die Texte von Textaufgaben in gezeichnete Skizzen übersetzen sollte, um den Gesamtzusammenhang in seiner bevorzugten Denkweise betrachten zu können. Dabei kam heraus, dass die Wendung "am Fluss entlang" für ihn völlig unverständlich war. Er schwankte zwischen Deutungen wie "senkrecht zum Fluss", "irgendwie schief zum Fluss", "parallel zum Fluss" und anderen Varianten. Als ich das Zeichnen von Skizzen als Methode zur Entschlüsselung von Texten auch mit anderen Schülern nutzte, wurde bald klar, dass er kein Einzelfall war. Präpositionen wie "hindurch", "herum", "jenseits", "abseits", Verben wie "vermindern", "erhöhen", "durchdringen", "dritteln", Substantive wie "das Anderthalbfache", "Quotient", "Gewinn", "Häufigkeit" und Wendungen wie "je desto" oder kurze Worte wie "pro" stiften oft bis in die Oberstufe Verwirrung. Erwachsene überschätzen oft drastisch das Wortverständnis von Kindern, ein Phänomen das bereits in den 1920er Jahren in den USA beschrieben wurde[3]. Wo Kinder in der Klasse 9 mit Hilfe des Satzes des Pythagoras die Länge einer Raumdiagonalen berechnen sollen, aber unsicher bei Wendungen wie "quer durch die Mitte" oder "diagonal" sind, droht wieder, dass am Ende der Schein mehr ist als das Sein. Siehe auch Rechnen und Sprache ↗
Fallbeispiel 4: Sachaufgaben ohne Allgemeinwissen
2016: eine Schülerin aus der Klasse 9 sollte eine anspruchsvolle Textaufgabe zum Küstenschutz lösen. In einem längeren Fließtext wurde der Aufbau eines klassischen Deiches mit Worten wie Deichquerschnitt, Deichkrone, Deichfuß, Trapez, Querschnitt, Sturmflut, Springtide und Böschungswinkel beschrieben. Die Schülerin wollte die Aufgabe zunächst ganz alleine bearbeiten, kam aber nach etwa 15 Minuten nicht weiter. Dabei war ein großer Teil eines DIN-A4-Blattes schon mit Formeln beschrieben. Im Gespräch wurde dann klar, dass sie einen Deich für ein kleines Gewässer in einem Park, also einen Teich, hielt. Von Gezeiten hatte sie bewusst noch nie gehört. In Stichproben unter anderen Schülern der Lernwerkstatt fanden wir dann heraus, dass sogar erwachsene Personen aus Aachen einen Deich mit einem Teich verwechselten. Der springende Punkt hier ist, dass die Schulbücher und Lehrer oft Wissen voraussetzen, dass bei vielen Personen nicht vorhanden ist[45]. Siehe auch Allgemeinwissen ↗
Fallbeispiel 5: Bernoulli-Ketten ohne Würfellogik
2018: an diesen Fall aus dem Jahr 2018 erinnere ich mich noch sehr lebhaft. Ein Schüler in der Abiturvorbereitung konnte mit Hilfe eines Taschenrechners sehr schnell und sehr gut schwierige Aufgaben der höheren Mathematik rund um Bernoulliketten und die Binomialverteilung lösen. Ein Beispiel: wenn bei der Produktion von Nägeln die Ausschussrate bei 1,2 % liegt, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Stichprobe von 20 Nägeln mindestens 3 Nägel fehlerhaft sind? Beschreibe einen Hypothesentest dafür, dass sich die Ausschussrate in der Produktion signifikant erhöht hat. Solche Aufgaben löste der Schüler mit einem Taschenrechner blitzschnell und fast immer korrekt. Die Frage aber, mit wie vielen Sechsen man ungefähr rechnen könne, wenn man 200 faire Spielwürfel auf einen Tisch werfe, konnte er auch nach längerem Überlegen nicht beantworten[54]. Das Grundverständnis, dass die Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel letztendlich eine gute Schätzung für die relative Häufigkeit von Sechsen bei großen Anzahlen von Würfen angibt, hatte er nicht erfasst[4]. Die Pseudoakademisierung besteht hier darin, dass der Schüler immer ähnlich wiederkehrende Aufgaben der Höheren Mathematik mit einer Art Mustererkennung lösen könnte, dabei aber kein Verständnis der tatsächlichen Prinzipien entwickelt hat.
Fallbeispiel 6: Analysis mit fertigen Graphen
2010: Ich erinnere mich noch gut an viele anstrengende Abende meiner eigenen Studienzeit in den 1990er Jahren. Im Physik-Praktikum mussten wir ohne die Hilfe von Computern umfangreiche Messdaten (zum Beispiel zur Kundtschen Röhre) mit "krummen Zahlen" überall in Graphen darstellen. Diese Graphen mussten sauber und exakt sein. Große Probleme bereite mir damals die geschickte Einteilung der Koordinatenachsen, also die Skalierung und die Umrechnung der Messwerte in entsprechende Millimeter auf den Achsen des Koordinatensystems. Aber nach einigen Wochen entdeckte ich immer mehr Methoden und Konzepte, wie alles viel einfacher geht. Ohne diese mühsame lange Arbeit wäre ich nie zu den Erkenntnissen gekommen, die ich heute mühelos nutzen kann. Eine solche mühsame Arbeit wird Schülern und Studenten heute aber oft abgenommen. Wenn Schulbücher oder Lernsoftware zu bestimmten Aufgaben fertig skalierte Koordinatensysteme anbieten, in die man nur noch Punkte eintragen muss, kann das Problem der geschickten Skalierung umschifft werden. Das Ergebnis sind dann oft sehr professionell aussehende Darstellungen, angefertigt von Studenten des Maschinenbaus, die es alleine nicht mehr hinbekommen, eine y-Achse so zu skalieren, dass sich ein Wertebereich von 0 bis 3,4 Millionen optimal auf eine Länge von genau 5,2 Zentimetern verteilt.[21]
Fallbeispiel 7: der Gauß-Algorithmus im Schlaf gelernt?
2024: der sogenannte Gauß-Algorithmus zum Lösen linearer Gleichungssysteme[22] ist Gegenstand der Mathematik in der Oberstufe. Oft wird er als Teil der Vektorrechnung (Schnittpunkte von Geraden) oder der Analysis (Steckbriefaufgaben) eingeführt. In unserer Lernwerkstatt in Aachen beobachten wir, wie zwischen der ersten Erwähnung des Verfahrens und seiner Anwendung in schwierigen Zusammenhängen oft nur eine Schulstunde liegt. Als einzige Anleitung haben die Schüler ein einzelnes isoliert an der Tafel vorgerechnetes Beispiel gezeigt bekommen. Sie haben in ihren Heften und im Schulbuch oft keine ausführliche Anleitung. Dass aber so etwas Detailreiches wie der Gauß-Algorithmus nur dann zu ehrlichen Erfolgserlebnissen führt, wenn man viele Aufgaben dazu möglichst alleine durcharbeitet, zeigt unter anderem ein Lehrbuch der Mathematik für Studenten an Fachhochschulen[23]. Dort folgen auf eine ausführliche Erklärung mit viel Text mehrere Seiten mit Aufgaben (und Lösungen). Wo die praxisbewährten Lehrbücher für Studenten gut 30 bis 50 Aufgaben ansetzen, sollen Schüler Richtung Abitur die Fertigkeit in wenigen Tagen erlangen. Die Pseudoakademisierung wird auch hier durch Taschenrechner gefördert. In schriftlichen Prüfungen muss der Gauß-Algorithmus oft nur sehr eingeschränkt gekonnt werden. Kann man den Algorithmus nicht, droht kein großer Punkteverlust. Mit dem intensiven Üben verloren geht dabei oft die Chance auf klassische Aha-Erlebnisse[55].
Fallbeispiel 8: Microsoft Word nebenher
2024: in den 1990er Jahren arbeitete ich in den Tagebauen des rheinischen Braunkohlenreviers. Die Tabellenkalkulation Excel und das Textbearbeitungsprogramm Word waren damals für mich Neuland, überhaupt graphische Benutzeroberflächen. Ich nahm also an mehreren innerbetrieblichen Fortbildungen teil. Ich erinnere mich noch gut, wie ich ganze Klickfolgen aufschrieb, um etwa einen Text als fettt zu formatieren, wie man Fußnoten mit automatisch erzeugten Seitenzahlen anlegt oder automatisch Inhaltsverzeichnisse einfügt. Ging die Dozentin zu schnell voran, hatte ich sofort den Faden verloren und bekam in den Übungen nichts mehr hin. Es dauerte durchaus einige Woche, bei täglicher Anwendung des gelernten Stoffes, bis ich mich einigermaßen routiniert fühlte. Auch heute noch scheint man Erwachsenen zuzugestehen, dass sie zum Erlernen dieser Office Software mehrere Wochen brauchen dürfen[24]. Und Schüler? Anfang 2024 entschied sich eine Schülerin der Oberstufe eine Mathematik-Facharbeit zu dem anspruchsvollen Thema Berechenbarkeit zu schreiben. Mit Word hatte sie bis dahin keine Erfahrung. Der Lehrer gab ihr eine kurze individuelle Einführung. Ab dort sollte sie sich bis zum Abgabetermin acht Wochen später alleine einarbeiten. Dass in solchen Situationen oft die Eltern dabei helfen[25] oder Nachhilfeinstitute oder sogar Ghost-Writer[26] für viel Geld[27] oder auch (ChatGPT)[28] ist unserer Erfahrung nach ein offenes Geheimnis. Wieder können so eindrucksvolle Arbeiten auf scheinbar akademischem Niveau entsehen, ohne dass dabei wirklich etwas gelernt wurde.
Fallbeispiel 9: Empathie mit Nebenwirkungen
2022: wer nicht selbst Kinder mit einer ausgeprägten Dyskakulie kennt, kann sich das Ausmaß der Probleme nur schwer vorstellen. Eine ansonsten intelligente und aufgeweckte Zweitklässlerin zählte drei Spielzeugtiere immer wieder neu ab, wenn ich eines der Tiere leicht von seiner alten Stelle auf dem Tisch weg bewegte. Ihr war nicht klar, dass die Anzahl nichts mit der Art zu tun hatte, wie ich die Tierfiguren hinstellte. Nach zwei Monaten Training sagte das Kind dann plötzlich voller Stolz: "Das hat ja gar nichts damit zu tun, wo die Tiere stehen, wie viele es sind. Es sind immer drei, egal wie man sie hinstellt"[29]. Bei einer wiederum völlig normalen, interessierten und intelligenten Schülerin mit Dyskalkulie in der Oberstufe versagten jedoch alle meine Fähigkeiten. Ihr Lehrer stellte sie oft bloß, rief sie an die Tafel und verunsicherte sie so stark, dass die Schülerin oft weinend bei mir im Unterricht saß[30]. Den gegenteiligen Weg, nämlich den der Empathie ging eine andere Lehrerin. Sie bot einer Schülerin mit Dyskalkulie an, dass sie die Hausaufgaben von irgend einer anderen Person erstellen lassen könne und die Ergebnisse dann im Unterricht vorträgt. Tatsächlich fand sich im näheren Bekanntenkreis der Schülerin auch eine Lehrerin der Mathematik, die die Hausaufgaben für die Schülerin erledigte. Das Beispiel ist authentisch, ich hatte selbst mit der Lehrerin telefoniert. Das darf man nicht so verstehen, als seien hier Lehrer und Schüler Betrüger mit böser Absicht. Wo eine private Hilfe bei Dyskalkulie oft über 200 Euro im Monat kostet und die Schulen selbst keine professionelle Hilfe bieten, bleibt den Lehrern und Kindern oft nichts anderes übrig. Aber wieder entsteht so eine Pseudoakademisierung: wer Abitur hat, hat eine Allgemeine Hochschulreife, kann damit zum Beispiel auch Elektrotechnik studieren. Auf dies Idee mit Elektrotechnik kommen nun die wenigsten Abiturienten mit einer starken Dyskalkulie. Aber ein Studium der Psychologie ziehen gerade Kinder mit eigenen großen Lernproblemen oft in Erwägung. Und hier mache ich oft die Beobachtung, dass Schüler ihre eigenen Fähigkeiten drastisch überschätzen[38], sich ein Gefühl des Könnens oft viel zu früh einstellt[31]: wenn ich in Mathe eine Vier hatte, dann kriege ich das auch im Studium hin!
Fallbeispiel 10: Boxplots für Jungforscher
2017: seit spätestens dem Jahr 2017 tauchten sogenannte Boxplots häufiger im Unterricht der Klassen 5 und 6 auf[40]. Wenn man etwa für jede von 20 Nüssen das Gewicht in Gramm einzeln misst, kann man die Daten übersichtlich in einem Boxplot darstellen. Dabei treten Worte wie Quartil, Median, arithmetisches Mittel und Antenne auf. Bezeichnend für eine Akademisierung ist hier die Verwendung von vielen Fremdworten[46]. Insbesondere wurde das Wort Durchschnitt in den letzten Jahren zunehmend durch arithmetisches Mittel verdrängt[41]. Nun haben wir in der Lernwerkstatt in Aachen festgestellt, dass Kinder der Klasse 6 die Idee einer Durchschnitts (oder arithmetischen Mittels) bestenfalls im Ansatz verstehen können. Man kann einige einfache Fragen stellen, um den Grad des Verständnisses einzuschätzen: wenn die 20 Nüsse im Schnitt 4 Gramm wiegen, heißt das, dass dann die meisten der Nüsse vier Gramm schwer sind? Kann es sein, dass gar keine Nuss wirklich 4 Gramm wiegt? Für welche Aufgabe aus dem echten Leben braucht man den Durchschnitt? Ich hätte damit in der 6ten Klasse meine Probleme gehabt. Ich erinnere ich noch gut an diese Zeit[42]. Nun sollen die Kinder aber plötzlich den Unterschied zwischen Median und arithmetischem Mittel kennen und wissen, wann was aussagefähiger ist. Und die Kinder sollen anschauliche Grammzahlen zu hoch abstrakt verdichteten Aussagen zusammenführen. Wozu? Im "echten Leben" kommen Boxplots zum Beispiel in wissenschaftlichen Veröffentlichungen[43] oder im Alltag der statistischen Qualitätskontrolle vor. Was sie sagen sollen, ist weit entfernt von der Lebenswirklichkeit von Sechstklässlern.
Weitere Fallbeispiele und Spielarten für eine Pseudoakademisierung
a) Formeln in der Physik werden auf einfache Sonderfälle reduziert[48], gegebene Werte in Arbeiten werden direkt in der passenden Einheit angegeben[49], statt anspruchsvoller Textaufgaben oder Rechnungen kann man auch über das Beschriften von Skizzen Punkte erzielen[52].
Ein Gefühl: alleine in der Eiger-Nordwand
Eine Schülerin aus der Oberstufe beschrieb um das Jahr 2011 ihre Empfindung einmal mit einem Gleichnis: sie kommt sich ständig so vor, als hänge sie alleine in einer gefährlichen Steilwand ohne dass sie jemals gelernt hat, wie man klettert oder seinen Weg im Gebirge findet. Das Bild ist passend. In unserer Lernwerkstatt in Aachen stehen wir täglich neu vor der Situation, dass wir etwas so Abstraktes wie die bedingte Wahrscheinlichkeit[5] anschaulich an einem einfachen Zahlenbeispiel erklären sollen. Und dann wird auf einmal die Frage, wie viel 14 Prozent von 400 sind zu einem eigenen Projekt innerhalb der Stunde. Emotional ist das oft sehr heikel. Besonders ehrgeizigen Schülern wird dann oft bewusst, wie wenig sie von Grundlagen können. Früher ührte diese Erkenntnis bei uns in der Lernwerkstatt oft zu Tränen, inzwischen habe ich gelernt, die Situation abzumildern. Das Bild von der Eiger-Nordwand aber passt. Ich vermittele dann Zuversicht wo ich selbst Herzrasen kriege. Ein Bild, das ich selber gerne verwende ist das vom dünnen Eis. Die Schulen verleiten Schüler durch gute Noten zu der Annahme, dass sie ein Thema "können". Tatsächlich fehlt denselben Schülern oft jede Voraussetzung, um abseits von passend zurechtgeschnittenen Prüfungen[6] eigenständig arbeiten zu können. Das führt zu der Paradoxie, dass ich umso nervöser werde, je besser ihre Noten sind. Ich sehe die Kinder dann gedanklich weit entfernt und alleine auf einer dünnen Eisfläche stehen. Wenn sie einbrechen, sind sie alleine.
Akademische Bildung als sinnvoller Denk- und Arbeitsstil
Die Beispiele bisher sollten zeigen, wie sehr ein akademischer Bildungsanspruch und die Wirklichkeit auseinanderklaffen können. Was aber heißt überhaupt akademisch im Bezug auf Bildung in einer Schule oder Hochschule? Zunächst heißt akademisch nur, dass etwas in einem Bezug zu einer Hochschule, vor allem einer Universität steht[7]. Das alleine kann aber für eine Definition im Bezug auf Bildung noch nicht genügen. So würde man jemanden der eine Ausbildung zum Elektriker an einem Hochschulinstitut gemacht hat noch nicht akademisch gebildet nennen, sondern eher praktisch ausgebildet. Und während man auch ohne eine akademische Bildung durchaus logisch und faktengeleitet denken kann[8], kommt für das akademische Denken doch irgendetwas hinzu. Man wird nämlich nicht nur dazu ausgebildet, für sich alleine logisch und faktenbasiert zu denken, sondern in einer Gruppe oder Umgebung zu arbeiten, in der Theorien und Wissen stark arbeitsteilig entwickelt und überprüft werden. Das setzt bestimmte Denk- und Handlungsweisen, eine spezielle Fachsprache und die Einhaltung von Standards voraus, die im Alltag meist kaum eine Rolle spielen. Diese Art von akademischem Denken ist tatsächlich vorrangig an Universitäten zu finden:
- Nicht die Fülle der Erscheinungen interessiert, sondern die Abstraktion ↗
- Nicht der Einzelfall interessiert sondern die Verallgemeinerung ↗
- Menschen werden zu Objekten, Agenten, Dingen Objektivierung ↗
- Man teilt sich mit über eine wissenschaftliche Publikation ↗
- Titel und Positionen sind ein Maß für Wissenschaftlichkeit ↗
- Die strenge Einhaltung einer Aussagenlogik ↗
- Das letztendliche Ziel ist eine gute Theorie ↗
- Man benutzt eine anerkannte Fachsprache ↗
- Man versteht eine allgemeine Bildungssprache ↗
- Die Wirklichkeit ist höchstens ein Modell ↗
- Man ist Teil von einem Denkkollektiv ↗
Wer akademisch gebildet ist, sollte zum Beispiel verstehen können, was Empirismus, Verifizierung oder Peer-Review meinen. Wer akademisch gebildet ist, sollte wissen, wie man Fakten in Fachveröffentlichungen finden kann, wie man mit Hilfe eines Abstracts (Kurzzusammenfassung) herausfindet, wovon eine Veröffentlichung handelt. Wer akademisch gebildet ist, sollte im Idealfall selbst einmal etwas veröffentlicht haben, sollte wissen, wie man im eigenen Fachgebiet richtig zitiert. Das Wesentliche für das Akademische ist die Fähigkeit, in einem universitären Umfeld als Teil einer Gruppe wissenschaftlich mitarbeiten zu können. Eine akademische Bildung - positiv verstanden - ist also eine Bildung, die darauf abzielt, dass die Lernenden an einem universitäten Forschungsbetrieb teilnehmen können. Siehe mehr dazu unter akademisch ↗
Akademische Bildung am Beispiel der Mathematik und Physik
Zu den allgemeinen Merkmalen eines akademischen Denkens kommen in einzelnen Fachgebieten dann noch oft sehr besondere Kenntnisse und Fertigkeiten hinzu. In der Mathematik sind das vor allem Kenntnisse der sogenannten Höheren Mathematik[10]. Dazu zählen zum Beispiel die Idee des Grenzwertes, Kenntnisse verschiedener Beweisverfahren, ein routinierter Umgang mit Vektoren, ein tiefes Verständnis der Statistik und Stochastik. In der Physik sollte man bei akademisch gebildeten Personen einen sehr guten Umgang mit der Mathematik voraussetzen. Hinzu kommt für die Physik noch die Fähigkeit zum Arbeiten mit Einheiten, die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Denkmodellen wechseln zu können und eine Kenntnisse aktueller Forschungsfragen. An Fachwissen vorausgesetzt werden Grundkonzepte wie die Wellentheorie, die Quantenphysik, die statistischen Mechanik und insbesondere die gesamte klassische Physik.
Beispiele für eine Akademisierung an Schulen
Über die Jahrzehnte, findet ein immer größerer Teil des Schulunterrichts in einem zunehmend akademischen Stil statt. Einerseits werden die Inhalte des Unterrichts immer akademischer vermittelt. Und andererseits streben immer mehr Schüler stark akademisierten Unterrichtsformen zu, etwa indem sie auf Gymnasien anstatt auf Realschulen lernen. Hier stehen einige Beispiele für Stilelemente, die auf eine Akademisierung des Schulunterrichts verweisen könnten:
- Aus Malrechnen wird Multiplizieren: deutsche Worte werden ersetzt durch Fremdworte ↗
- Alltagsnahe Textaufgaben werden ersetzt durch abstraktes formal Rechnen ↗
- Man fordert bei Hausarbeiten ein formal korrektes Zitieren ↗
- Man zieht Bildungsinhalte in frühere Jahre, etwa Wahrscheinlichkeiten in die Grundschule ↗
- Man legt immer abstraktere Themen in Lernplänen fest, etwa die Schrödingergleichung ↗
- Auch die Realschule muss den Weg offen halten hin zum Abitur ↗
- Fachhochschulen imitieren immer mehr eine Universität ↗
- Immer mehr Kinder gehen auf ein Gymnasium.
Eine solche Akademisierung muss nicht schlecht sein. Wo sie auf entsprechend interessierte und befähigte Kinder trfft, ist sie richtig. Wer akademisch Denken und arbeiten kann, hat damit auch Fähigkeiten, die in manchen Berufen durchaus von Nutzen sind. In unserer Lernwerkstatt in Aachen hatten und haben wir immer wieder Schüler vom Vorschulalter bis hin zum Studium, die genau diesen Zugang suchen[56]. Die Frage ist, ob von dieser kleinen Gruppe akademisch veranlagter oder geprägter Menschen auf die Mehrheit geschlossen werden sollte[18].
Aus Akademisierung wird Pseudoakademisierung
Was wir seit der Gründung unserer Lernwerkstatt im Jahr 2010 beobachten, und inzwischen spürbar zunehmend, ist eine paradoxe Anhebung der scheinbaren Anforderungen bei gleichzeitiger Absenkung von de facto eingeforderten Kenntnissen. Das möchte ich mit einigen zugespitzen Aussagen beschreiben:
- Pro forma wird in der Physik der schwer verständliche Franck-Hertz-Versuch behandelt. De facto eingefordert wird am Ende nur die Beschriftung einer vorher besprochenen Versuchsskizze.
- Pro forma wird in der Mathematik eine Kenntnis von komplizierten Rechnungen, etwa zu Bernoulliketten eingefordert. De facto können befriedigende bis gute Noten immer auch mit dem Taschenrechner erreicht werden.
- Pro forma sollen die Schüler in der Oberstufe den Gauß-Algorithmus beherrschen. De facto wird das Thema eine halbe Stunde behandelt und gilt damit als besprochen und gekonnt.
- Pro forma werden anspruchsvolle Textaufgaben gestellt. De facto sind die Fragen so gestellt, dass weder Allgemeinwissen nötig sind noch schwierige Texte entschlüsselt werden müssen[13].
- Pro Forma wird die Analysis in Prüfungen umfangreich abgefragt. De facto werden Arbeiten, vor allem an berufsnahen Berufskollegs, oft fast im Wortlaut vorher als "Übungsklausur" ausgegeben.
- Pro Forma wird in "hilfmittelfreien Prüfungsteilen" das Rechnen ohne Taschenrechner überprüft. De fact sucht man dort oft vergeblich nach Fragen, die erfahrungsgemäß den meisten Schüler Schwierigkeiten bereiten[6]. Typischerweise muss man einen Funktionswert aus einem Graphen ablesen, nicht aber von Hand einen Term wie 3·(½·x)³ für x=4 ausrechnen.
- Pro Forma werden schwere Hausaufgaben gegeben. Kindern mit Problemen wird dann angeboten, dass sie die Hausaufgaben vortragen dürfen, wobei die Lehrer gleichzeitig versichern, keine entblößenden Fragen zu stellen[14].
Was wir in unserer Lernwerkstatt immer öfters beobachten ist, dass Prüfungen und Leistungskontrollen im Unterricht nur Inselfertigkeiten abfragen, die man im Sinne eines Bulimielernens kurzfristig auswendig lernen kann. So entsteht der Eindruck, dass die Kinder auch abstrakte und akademische Inhalte gut können, während sie de facto nicht wirklich etwas verstanden haben. Dass die Kinder dabei weder die akademisierten Inhalte lernen noch die Grundlagen können, zeigen vielleicht die zunehmend schlechten Ergebnisse der Pisa-Studien[15] und die Klagen von Hochschulen[6]. Und dass eine positiv verstandene Akademisierung einer Pseudoakademisierung weicht, wird vielleicht gerade dadurch noch einmal unterstrichen, dass auch die Zahl der besonders guten Schüler in Mathematik stark zurückgeht. Die nur scheinbar akademischen Inhalten werden nicht mehr wirklich in einem akademischen Stil besprochen.
Pseudoakademisierung als Vorwurf in der Berufsausbildung
Der Vorwurf der Pseudoakademisierung wird seltsamerweise meist nur im Zusammenhang mit Ausbildungsberufen oder im Sinne einer zu hohen Abiturientenquote diskutiert. Diese verengte Sicht greift aber zu kurz. Akademisch als Adjektiv heißt zunächst nur, dass etwa in Bezug zu einer Hochschule steht, früher oft auch abwertend im Sinne von erstarrt und pedantisch gebraucht[32]. Akademisierung als Substantiv hingegen heißt, dass Berufe wahlweise[33] oder ausschließlich über eine Hochschulausbildung zugänglich sein sollen oder hochschulnahe Titel für Berufsabschlüsse vergeben werden (Berufsbachelor, Berufsmaster). Befürworter einer solchen Akademisierung versprechen sich davon eine Aufwertung beruflicher Ausbildung[34]. Kritiker sprechen von Pseudoakademisierung und fürchten, dass die Aussicht auf akademische Titel Schüler von einer Ausbildung, etwa im Handwerk abhalte[35]. Hier ist unklar, weshalb die Autoren von einer Pseudoakademisierung und nicht vielleicht treffender von einer Überakademisierung sprechen. Wenn in einer beruflichen Bildung, zum Beispiel zum Berufsmaster, tatsächlich akademische Ansprüche eingehalten werden, so gibt es dort keine Pseudoakademisierung. Der Vorwurf würde erst zutreffen wenn bei einer Ausbildung zu einem Berufsmaster akademische Ansprüche nicht erfüllt wird und durch den Titel lediglich der Schein erzeugt werden soll. Soll ein solcher Schein erzeugt werden? Tatsächlich fanden sich in mehreren Internetbeiträgen zum Thema Pseudoakedmisierung keine entsprechenden Vorwürfe. Meist wurde nur beklagt, dass bereits das Ziel der Akademisierung falsch sei. Eine Pseudoakademisierung im eigentlichen Sinn des Wortes aber ist ausschließlich eine scheinbare Erfüllung akademischer Ansprüche.
Das Akademische ist nur eine von vielen "höheren Bildungen"
Man spricht von höherer Bildung und meint damit oft das Abitur und ein Studium, nicht aber zum Beispiel die Entwicklung von künstlerischen oder handwerklichen Fertigkeiten. Das halte ich für irreführend. Indem wir eine Rangordnung der Bildungsabschlüsse benutzen, bei der ein Abitur höher bewertet wird als eine erfolgreiche Berufstätigkeit, werden Menschen auf die akademische Schiene geführt, die dort nicht hingehören[18]. Eine akademische Ausbildung im engeren Sinn sollte Menschen auf die Mitarbeit im Wissenschaftsbetrieb vorbereiten. Wie viele Menschen arbeiten aber später im engeren Sinn wissenschaftlich? Es sind maximal wenige Prozent oder Promille. Doch indem man so tut, als sei eine akademische Ausbildung die höchste Form jeder Bildung, gerät man in eine Sackgasse. Ein guter (Natur)Wissenschaftler muss wissen, was der Sinn einer mathematischen Ableitung ist und wie man schwierige Gleichungen numerisch lösen kann. Ein guter Handwerk muss das nicht wissen. Das Lösen von Gleichungen ist nicht die natürliche Höherentwicklung handwerklicher oder künstlerischer Fertigkeiten. Wir tun aber so. Schon in den Klassen 5 bis 8 wird der Schulstoff, zumindest in der Mathematik, stark mit formalen Methoden (nicht aber mit Sach- und Textaufgaben), Fremdworten und an lebensfremden Beispielen vermittelt. Kinder haben dann kaum eine Chance, eine handwerkliche oder künstlerische Begabung an sich zu erkennen oder zu entwickeln. Alle werden daran gemessen, wie gut sie akademisch lernen können. Das wird vielen nicht gerecht.
Bei uns läuft alles gut: eine bildungspolitische Resonanzkatastrophe?
Schenkt man Bildungspolitikern Glauben, so sind alle nötigen Maßnahmen für eine ständige Verbesserung der Bildung eingeleitet. Und das seit Jahrzehten. Es werden Digital-Pakete geschnürt, zugewanderte Kinder erhalten Deutschkurse, Förderprogramme stützen auch schwächere Kinder und so weiter. Dass vieles vielleicht gar nicht gut läuft, dringt "nach oben" nicht mehr durch. Das ist möglicherweise für große Organisationen typisch - und gefährlich.
In den 1980er Jahren war der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman an der Untersuchung eines der größten Ungklücke der Raumfahrt beteiligt. Eine bemannte Raumfähre explodierte kurz vor der Landung. Feynman kam nach vielen Monaten Ermittlungstätigkeit zu dem Schluss, dass die Leitung der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA systematisch die Kommunikation von Problemen ignoriert habe. Warnende Stimmen von Ingenieuren wurden bewusst, gezielt und dauerhaft unterdrückt. Nach einigen Versuchen, so Feynman, hätten die Ingenieure aufgehört, Probleme "nach oben" weiterzugeben. In den Führungsetagen blieb man dann in dem Glauben, dass alle noch so hoch gesteckten Ziele erreichbar seien. Bis es letztendlich zur Katastrophe kam. Feynman hielt das Art von Resonanzkatastrophe typisch für größere Organisationen[11].
Kann es sein, dass Bildungspolitiker nach außen weitgehend heile Welten oder doch zumindest ausreichende Korrekturmaßnahmen verkaufen möchten, und sich intern in ihren Ministerien taub gegenüber den Klagen von Lehrern, Schülern, Eltern oder auch Arbeitgebern oder Hochschulen[12] stellen? Und kann es sein, dass dieser Zustand über Jahrzehnte dazu geführt, dass die "Leute unten im System" irgendwann aufgehört haben zu klagen? Zu einem so konstruierten realitätsblinden Optimismus siehe auch den Artikel zum Effekt der Pollyanna ↗
Wie könnten Schritte weg von der Pseudoakademisierung aussehen?
Trifft es zu, dass die Mängel an unserer gegenwärtigen Schulbildung auch von einer zu starken Akademisierung stammen, so könnten viele kleine Schritte eine Korrektur hin zu einem realitätsnäheren Unterricht sein. Die Grundidee wäre, dass man wieder stärker trennt zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Ausbildung[16].
- Eltern, Arbeitgeber, Schüler, überhaupt alle sollten sich fragen, ob ein Abitur mehr wert ist als eine gute Berufsausbildung, oder ob es nicht eigentlich eine ganz andere Art von Bildung ist. Eine Rose ist nicht besser als Paella sondern etwas anderes.
- Hochschulen müssen sich fragen, ob sie zunehmend unterschiedslos für wissenschaftliche und betriebliche Anforderungen ausbilden wollen. Die verschwimmende Trennung von Universitäten und Fachhochschulen sollte rückgängig gemacht werden und eher sogar unterstrichen werden.
- Universitäten sollten eng auf wissenschaftliche Karrieren hinarbeiten dürfen, ohne an die Anforderungen von Unternehmen oder anderen wissenschaftsfremden Arbeitgebern Rücksicht nehmen zu müssen.
- Fachhochschulen sollten selbstbewusst berufsorientierte Ausbildungen anbieten, ohne sich um akademisches Ansehen, etwa in Form von einem Promotionsrecht, kümmern zu müssen.
- Die jetzigen Inhalte des Bildungsweges hin zu einem Abitur sollten klar als Vorbereitung auf eine wissenschaftliche Arbeit verstanden werden. Nach einer vorsichtigen Einschätzung wäre das für höchstens 5 Prozent der Schüler interessant. Man sollte dafür eine eigene Schullaufbahn anlegen, etwa ein Wissenschaftsabitur.
- Möchte man das allgemeinbildende Abitur beibehalten, die allgemeine Hochschulreife also, so sollte man die Lehrpläne von der Menge her entfrachten[58] und dem Training von Grundlagen aus den Klassen 5 bis 9, ausreichend Zeit geben[17].
- Ein Bildungsweg hin zu einer Fachhochschulreife sollte wenige akademische sondern mehr praktische, anwendungsbezogene Fertigkeiten vermitteln.
- Bis etwa zur Klasse 8 sollten Textaufgaben mit altersgerecht interessantem Wissen (Tiere, Weltraum, Erdkunde, Geschichte) sehr umfangreich trainiert werden. Damit könnte gerade auch der Mathematik-Unterricht zugewanderten Kindern aus fremden Ländern etwas bieten und die Sprachfähigkeit fördern.
- Es sollte eine Kultur respektvoller Ehrlichkeit gepflegt werden. Es muss erlaubt sein, dass man Kinder für an sich überfordert hält. Und das muss den Kindern oder zumindest den Eltern gesagt werden. Diese Kinder sollte man nicht mit akademischen Inhalten überfordern.
- Ein Sonderfall sind Kinder mit einer Dyskalkulie oder Legasthenie. Hier liegen inselhafte Probleme vor. Diese Kinder können durchaus akademisch interessiert und veranlagt sein. Hier wäre es sinnvoll, wenn solche Kindern auch einen akademischen Weg einschlagen können, ohne dass aber zum Beispiel die Mathematik in einem akademischen Stil eingefordert wird. Siehe auch Dyskalkulie ↗
- Arbeiten die schlecht ausgefallen sind müssten solange wiederholt werden, bis der Stoff verstanden ist. Nur so kann man sicher stellen, dass der Schulstoff nicht schneller vorangeht als die Kinder folgen können.
Schlussgedanke
Lässt man den Blick über die Zeit seit etwa 1800 schweifen, so hat unser Schulsystem bis vielleicht 1950 sehr gute Dienste geleistet. Es ermöglichte breiten Schichten der Bevölkerung solide Kenntnisse für den Alltag und Beruf. Bis vielleicht 1980 garantierte eine Akademisierung der Bildung, dass immer mehr geeignete Kinder die Chance auf eine akademische Ausbildung bekamen. Aber vielleicht war irgendwann zum Ende des letzten Jahrtausends eine Art Sättigung erreicht: die weitere Akademisierung von Bildung führt dann nicht mehr zu mehr "aktivierbaren Kindern". Was sich dann vielleicht durchprägte war eine inhaltliche Überforderung einer schleichend wachsenden Zahl von Kindern. Nach ganz fest kommt plötzlich ganz locker[19]. Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, mit den Mittel der KI und mit dem Reichtum, den unsere Gesellschaften angehäuft haben, Bildung einmal ganz neu "von der grünen Wiese her" zu denken.
Fußnoten
- [1] Die Beispiele zur Pseudoakademisierung im Schulunterricht stammen stammen aus der Mathe-AC Lernwerkstatt Mathematik in Aachen. Sie sind keine Einzelfälle. In der Zeit von 2010 bis 2024 machten wir viele solche Beobachtungen. Tatsächlich waren die meisten betroffene Schüler aber sehr offen für das Erlernen der Grundlagen. Und wiederum die meisten davon konnten die Grundlagen nach einigen Wochen bis Monaten Crash-Kurs deutlich besser als vorher. In den meisten Fällen war die Pseudoakademsierung nicht die Schuld desinteressierter Schüler sondern einer Vernachlässigung des Grundlagentrainings durch die Schulen. Siehe auch: https://www.mathe-ac.de
- [2] Dem hier beschriebenen Physik-Schüler war der Mangel selbst sehr bewusst. Er berichtete von Mitschülern, die im Unterricht "sofort immer alles verstehen" und mit "dem Lehrer gleich auch gute Fachgespräche" führen können. Ihm selbst aber fehle "das physikalische Denken". Für das Phänomen der Pseudoakademisierung wichtig ist, dass der gegenwärtige Schulunterricht unpassende Denkstile nicht wahrnimmt oder zumindest nicht aktiv bespricht. So treffen sich in den Leistungskursen oft diejenigen Schüler, die von sich aus eine entsprechende Begabung haben, nicht aber jene, die ein Potential haben, das aber aktiv vom Lehrer entwickelt werden muss. Siehe auch Denkstil ↗
- [3] Der deutsche Bildungsexperte Adolf Kruckenberg zitierte eine Studie aus den USA aus den 1920er Jahren. Die Prozentangabe sagt, wie viele Schüler aus den ersten sechs Jahren der Schule das Wort verstanden: to spend 82 %; each 38 %; equal 50 %; subtract 61 %; sum 31 %; reasonable answer 38 %; per yard 63 %. Das können wir aus den 2020er Jahren in unserer Lernwerkstatt bestätigen. Worte wie "pro", "Meter", "Summe", "vermindern", "jenseits" bereiten Kindern bis weit über die Klasse 7 hinaus noch Probleme. Erwachsene überschätzen oft sehr stark das Wortverständnis von Kindern. Wer einmal lesen möchte, wie ein sehr achtsames Hineinfühlen in die Fähigkeiten von Kindern aussehen kann, dem seien die Bücher von Kruckenberg empfohlen, zum Beispiel: Adolf Kruckenberg: Die Welt der Zahl im Unterricht. Verlag: Hannover, Wissenschaftliche Verlagsanstalt v. Schroedel-Siemau & Co. K.G. 1949. Siehe auch Rechnen und Sprache ↗
- [4] Der beschriebene Schüler erzielte oft sehr gute Noten, bis hin zu einer zwei Im Abitur in Mathe. Hatte er Formalismen verstanden, konnte er diese sehr schnell und sehr präzise anwenden. Gleichzeitig fehlte ihm jedes Verständnis für die Bedeutung dessen, was er berechnete. Siehe auch formal rechnen ↗
- [5] Die bedingte Wahrscheinlichkeit, und damit verbunden der Satz von Bayes, sind seit Jahren Gegenstand der Abiturprüfungen von Nordrhein-Westfalen, sowohl im Grund- wie auch im Leistungskurs. Kaum ein Schüler dringt über die grundlegenden Rechenvorgänge (Baumdiagramm, Vierfelder-Tafel, Bayes-Formel) hinaus und kann mit dem Konzept Fragestellungen aus der realen Welt freudvoll bearbeiten. Siehe auch bedingte Wahrscheinlichkeit ↗
- [6] Ein ehemaliger Arbeitskollege von mir ist heute Professor an einer Fachhochschule. Er unterricht dort unter anderem Ingenieure. Er stellte fest, dass Klausurergebnisse deutlich schlechter wurden, wenn zu viele Brüche in den Aufgaben vorkamen. Da der Professor unter einem gewissen Druck seitens der Hochschulleitung steht, keine zu schlechten Ergebnisse zu "produzieren", lässt er nun tendenzielle Brücher eher weg. In einem Gespräch Ende 2023 äußerte er, dass es an seiner Fachhochschule eine Angst gäbe, dass man im Wettkampf um neue Studenten das Niveau ständig absenken müsse.
- [7] Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache charakterisiert akademisch folgendermaßen: "Universitäts-, Hochschul- ⟨das akademische Viertel⟩ 2) [übertragen] allzu gelehrt, lebensfern". Der Artikel "akademisch". In: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Abgerufen am 6. Januar 2024. Siehe auch akademisch ↗
- [8] Dass wissenschaftliches Denken aber nicht eng an eine akademische Ausbildung bgebunden sein muss, war dem englischen Schriftseller George Orwell (1903 bis 1950) wichtig. Ihm zufolge gibt es zwei Definitionen von Wissenschaft: a) als Liste von exakten Wissenschaften wie Chemie und Physik oder b) als Methode zur Formulierung überprüfbarer Ergebnisse auf der Grundlage von beobachten Fakten und logischem Denken. Der Teil b dieser Definition charakterisiert sehr gut das akademische Denken. In: George Orwell: What is Science (Tribune, October 26th, 1945). In: George Orwell. Essays. Everyman Library. 242. Herausgegeben von Alfred A. Knopf. 2002. ISBN: 978-1-85715-242-5. Seite 907 ff. Siehe auch Wissenschaft (George Orwell) ↗
- [9] Auf die Fragen, was ihn antreibe, antwortete der Physiker und Nobelpreisträger Anton Zeilinger: „Das ist diese Neugier, dieses Wissen wollen, was dahinter ist, was ist hinter dem nächsten Berg, was ist da los? […] Mich treiben weniger an die konkreten Anwendungen […] diese fundamentalen Fragestellunge, die sind einfach interesssant.“ In: Anton Zeilinger: Einstein auf dem Prüfstand. In: Sternstunde Philosophie. Interview des Schweizer Rundfunks. 14.05.2006. Siehe als typisches Beispiel für ein akademisches Interesse den Artikel zu Zeilingers Kant-Forderung ↗
- [10] Als Höhere Mathematik bezeichnet man die Mathematik, die unter anderem in den letzten Jahren vor dem Abitur und dann an Hochschulen vermittelt wird. Grundlegende Konzepte sind zum Beispiel das Denken mit Grenzwerten (Limes), der Umgang mit Vektoren und Vektorfeldern, ein tiefes Verständnis von Stochastik und Statistik. Siehe auch höhere Mathematik ↗
- [11] Richard P. Feynman: Kümmert Sie, was andere Leute denken?. Neue Abenteuer eines neugierigen Physikers. Gesammelt von Ralph Leighton. Mit 41 Abbildungen. Piper Verlag. München. 1991. ISBN: 3-492-03371-7. Titel der englischen Originalausgabe: What Do You Care What Other People Think (1988). Das Buch stellte autobiographische Selbstzeugnisse des Menschen Feynman zusammen. Unter anderem schildert er den Einfluss seiner Eltern auf sein Denken sowie - sehr ausführlich - seine unkonventionelle Arbeitsweise bei der Untersuchung der Ursachen der Explosion einer Raumfähre. Siehe dazu auch Space Shuttle ↗
- [12] Brandbrief an die Kultusministerkonferenz und andere Institutionen. Unterzeichnet von 130 Professoren. 17. März 2017. Gefordert wird unter anderem, das die "die Verantwortung für die gründliche Übung und Wiederholung des genannten Mittelstufenstoffes wieder uneingeschränkt von den Schulen übernommen wird", dass "wichtige Grundlageninhalte wie Bruch- und Wurzelgleichungen, Potenzen mit rationalen Exponenten, ausreichend Elementargeometrie und Trigonometrie wieder in die Lehrpläne aufgenommen werden", und dass "der Einsatz von Taschenrechnern und Computeralgebra-Systemen (CAS) die wichtige Phase des Einübens der elementaren und symbolischen Rechentechniken nicht beeinträchtigt". Siehe auch Brandbrief 2017 ↗
- [13] Wie schwiergie Textaufgaben aussehen zeigt unter anderem der sogenannte Medizinertest. Dieser Test fragt Fertigkeiten ab, wie Hochschulen sie von Bewerbern eines Medizinstudiums erwarten, also von Abiturienten. Siehe auch Medizinertest ↗
- [14] Wir haben in der Lernwerkstatt immer wieder Kinder die mit einer schweren Dyskalkulie in einem anspruchsvollen Mathematik-Unterricht in der Oberstufe kämpfen. Mehrfach hatten uns solche Kinder jetzt berichtet, dass die Lehrer in angeboten hatten, dass sie die Hausaufgaben "irgendwie machen sollen" (das heißt auch machen lassen dürfen) und sie dann vortragen. Die Lehrer versicherten, dass sie keine peinliche Fragen stellen. Dieses Engagement der Kinder könne dann als mündliche Mitarbeit die Note bis hin zu einer Vier verbessern. Dieses Vorgehen ist eine Verschwendung der Zeit von Schülern, Nachhilfelehrern, Eltern und Lehrern. Richtig wäre es, für Kinder mit Dyskalkulie Aufgaben zu stellen, an denen sie wirklich wachsen können, die mit Mühe auch aus eigener Kraft lösen können. Dass die Schulen das leisten, haben wir in den nunmehr 13 Jahren unserer Arbeit in der Lernwerkstatt kein einziges Mal erlebt.
- [15] OECD (2023), PISA 2022 Results (Volume I): The State of Learning and Equity in Education, PISA, OECD
- [16] Interessant ist, wie hier über die Jahrzehnte die Endung "kunde" aus der Bezeichnung vieler Studiengänge oder Institute verschwunden ist, heute oft zugunsten von englischen Bezeichnungen. Bergbaukunde verschwindet in Mining Engineering oder Rohstoff-Managment. Eisenhüttenkunde findet sich irgendwo in den Materialwissenschaften. Das Wort Kunde betonte jedoch früher ganz zurecht, dass der behandelte Stoff als aufbereitetes Wissen vermittelt wurde aber weniger als forscherisch tätige (Grundlagen)Wissenschaft. Während es bei einer Bergbaukunde genügt, verschiedene Verfahren zum Abbau von Steinkohle im Detail und auch von der Praxis her zu "kennen", würde es über eine Kunde hinausgehen, wollte man diese Verfahren etwa grundlagenorientiert mit Erkenntnissen aus der Statik, der Festkörperphysik oder der Geologie zu einer übergeordnetne Theorie der Festigkeit von Hohlräumen verbinden.
- [17] Im Jahr 2023 schrieb eine recht beliebte Lehrerin verzweifelt an die Eltern einer 8ten Klasse: "Ich habe heute die letzte Lernzielkontrolle vor der Klassenarbeit nächste Woche geschrieben. Wir haben in diesem unglaublich wichtigen Thema Gleichungen deutlich mehr Zeit als bei anderen Themen.
Zur Vorbereitung auf den letzten Baustein und die heutige Lernzielkontrolle gab es genau ein Arbeitsblatt, das zu Beginn alle bearbeiten sollten bevor sie mit dem richtigen Baustein loslegen. Dieses Blatt konnten die Kinder eine ganze Woche lang bearbeiten und wir haben es im großen Teil im Unterricht besprochen bzw. gab es Musterlösungen. Ich habe aus diesem Blatt 3 von 4 Aufgaben einfach abgeschrieben und die Zahlen minimal verändert. Ich weiß nicht, wie ich es noch einfacher für die Kinder machen soll. Das Ergebnis ist katastrophal." Dazu passend hören wir von anderen Schülern zunehmend oft, dass Mathe-Arbeiten mit einem Klassendurchschnitt von 4 bis 5 ausfallen.
- [18] Wer gehört nicht in einen akademischen Bildungsweg? Ich mache das vor allem am Interesse der Kinder und weniger an Fähigkeiten fest. Es gibt Kinder und später auch Studenten, die für jede Aufgabe einen ganz konkreten praktischen Zweck einfordern: für welche Prüfung ist das nötig? Kann man damit etwas bauen? Klassisch sind auch Studenten der Ingenieurwissenschaften, die bei Beispielaufgaben von Mathematik-Professoren bemängeln, dass die gewählten Praxiszahlen (20 Tonnen Tagesförderung eines Steinkohlenbergwerkes) realitätsfern seien. Sie akzeptieren nicht, dass die Mathematik kein Praxiswissen zum Bergbau vermittelt sondern Rechenmethoden. Solche Kinder und Studenten gehören von ihrem Interesse her nicht in eine akademische Bildung.
- [19] Wenn man Schrauben immer weiter anzieht, sitzen sie immer fester. Bis man irgendwann zu viel des Guten getan hat und den Schraubenkopf abgeschert hat. Dann ist alles wieder ganz locker und der Nutzen gleich Null.
- [20] Ein weiteres Beispiel zur Integralrechnung aus dem Jahr 2024 aus unserer Lernwerkstatt: eine Schülerin der Q1 behandelt in der Schule die Integralrechnung. Es geht um die Abschätzung der Fläche unter der Kurve mit der Säulenmethode. Diese Schülerin hat grundlegende Probleme im Verständnis von Zahlen, unter anderem auch eine sogenannte Richtungsunsicherheit. Seit Monaten fiel mir auf, dass sie immer wieder stockte, die Zahl 70 zehn mal so groß ist wie die 7 oder ob die 7 zehn mal so groß ist wie die Zahl 10. Immer wieder besprechen wir es, doch die Unsicherheit bleibt. Als Übung in der Lernwerkstatt sollte sich dann mit beliebig langer Zeit einige Beispiele dazu ausdenken und aufschreiben. Von 20 Sätzen waren im ersten ersten Anlauf 4 Sätze falsch, darunter zum Beispiel "9 ist 8 größer als 17" oder "100 ist zwei kleiner als 98". Die Schülerin ist sehr fleißig und bemüht und arbeitet oft ausdauernd 3 Stunden am Stück an Rechenthemen. Den Fehler im System sehe ich an zwei Stellen. Zum ersten verschwenden Lehrer und vor allem die Schülerin selbst Zeit mit Themen wie der Integralrechnung. Für Kinder mit individuellen Problemen sollten individuelle Lernziele besprochen werden. Und zum zweiten ist die Schülerin akademisch kaum interessiert. Sie wird ihr Abitur erreichen, aber weit entfernt sein von echt akademischen Interessen oder Fähigkeiten.
- [21] Die Beispiele und der Tonfall von mir sollen auf keinen Fall so verstanden werden, als seien etwa die Studenten zu dumm oder faul. Ganz und gar nicht. Mein Eindruck ist eher der, dass man ihnen keine Zeit zum Durchdringen dieser Grundlagen lässt sondern stattdessen immer scheinbar höhere Fertigkeiten abfragt, die dann aber nicht wirklich verstanden werden, da eben die Denkwege hin zu den geforderten Erkenntnissen fehlen.
- [22] Der Gauß-Algorithmus ist auch unter Namen wie Stufenform-Methode bekannt. Er dient zum Lösen von linearen Gleichungssystemen mit mehr als drei Unbekannten. Siehe auch Gauß-Algorithmus ↗
- [23] Gemeint ist das Lehr- und Übungsbuch Mathematik. Band II. Arithmetik, Algebra und Elementare Funktionenlehre. 20. Auflage. Verlag Harri Deutsch · Thun und Frankfurt/Main. 1989. ISBN: 3 871844 401 4. Dieses Buch steht stellvertretend für viele Bücher für Autodidakten, vor allem an Fachhoschulen. Sie zeichnen sich oft durch sehr gut strukturierte, übersichtliche und sehr umfangreiche Sammlungen von Aufgaben aus.
- [24] So bietet zum Beispiel noch im Jahr 2024 die Volkshochschule Aachen einen Kurz mit fünf Terminen zu je 3 Stunden und 15 Minuten an. Behandelt werden die Programme Word und Excel, bei Word vermittelt werden etwa: "die Arbeitsumgebung einrichten; Texte erfassen und verändern; Textkorrektur; Tabulatoren; Aufzählung und Nummerierung; Dokumentgestaltung: Seitenränder, Kopf- und Fußzeilen, Seitennummerierung; Dokumentvorlagen". Der Kurs kostet 105 Euro.
- [25] Nachtschicht. In ein paar Tagen müssen die Zwölftklässler ihre Facharbeit abgeben. Jetzt zählt jede Minute. Aber nicht nur für die Schüler, sondern für ihre Mütter: Die springen immer häufiger ein – und schreiben ihren Kindern die ganze Arbeit. Ein Geständnis. Die Autorin ist anonymisiert angegeben als Xxxx Xxxx. In: SZ Magazin. 21. Oktober 2011. Aus dem Heft 2/2011. Familie.
- [26] Es gibt ein großes Angebot an professionellen Agenturen für Ghostwriting. Im Jahr 2024 etwa schreibt "StudiBucht" aus Berlin, dass einem Gerichtsurteil des OLG Frankfurt aus dem Jahr 2009 zufolge Ghostwriting legal sei. Und: "Problematisch wird das akademische Ghostwriting erst dann, wenn die erstellte Arbeit vom Auftraggeber selbst als Prüfungsleistung beim jeweiligen Prüfer des Fachbereichs vorgelegt wird. Wird eine eidesstattliche Erklärung gefordert, begeht der Prüfling Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB, wenn er angibt, dass es sich bei der vorgelegten Arbeit um sein geistiges Eigentum handelt." Ein anderer Anbieter, die Ghostwriter-Agentur-24, ebenfalls aus Berlin verspricht "Facharbeit schreiben lassen und das Ziel der Abiturnote erreichen". Zur Legalität heißt es: "Sie dürfen sich eine sogenannte Mustervorlage erstellen lassen. In welchem Umfang Sie diese dann verwenden, obliegt ganz allein Ihrer Entscheidung. Da wir absolut anonym zusammenarbeiten, wird niemand erfahren, ob Sie die Facharbeit schreiben lassen oder selbst geschrieben haben."
- [27] "Wer viel Geld, aber wenig Lust auf Hausarbeiten hat, kann sie sich von Kopper und seinen Mitarbeitern, den GWriters, schreiben lassen. Zwanzig Seiten gibt es ab 1.348,35 Euro, Mehrwertsteuer inklusive." In: Oskar Piegsa: Der Ghostwriter-Report. Untertitel: Sie machen einen Millionen-Umsatz am Betrug von Studenten: Unser Autor recherchierte ein Jahr, wie Guttenberg und das Netz die Schattenwirtschaft erschufen. In: Zeit-Online. 16. Juni 2015. Online: https://www.zeit.de/campus/2015/03/ghostwriter-schattenwirtschaft-autobiographie-dissertation-hausarbeit
- [28] Seit der öffentlichen Verfügbarkeit von ChatGPT und ähnlichen KI-Werkzeugen, seit Ende 2022, fragen wir unsere Schüler immer wieder, wie die Software bei ihnen an der Schule gehandhabt wird. Während viele die Nutzung für sich ablehnen (da lerne ich ja nichts), setzen andere sie umfangreich ein. Sie sagen, dass sie tatsächlich ganze Aufsätze und Hausaufgaben von Robotern erledigen lassen, vor allem Schüler der Oberstufe. Fast alle berichten, dass die Lehrer zwischen den Zeilen andeuten, nicht zu sehr nachzuforschen. In zwei Fällen wurde uns gesagt, dass die Lehrer ausdrücklich auch das Schreiben von ganzen Hausaufgaben durch eine KI erlauben, wenn die Schüler die Hausaufgaben dann nur gut mündlich vortragen könnten. Bemerkenswert ist hier, dass es seitens der Schule kaum einen Willen zu geben scheint, die Auslagerung des Denkens und Arbeitens auf Roboter zu unterbinden. Aus meiner eigenen Lehrerfahrung kann ich nur sagen, dass man mit wenigen Sätzen im Gespräch mit einem Schüler leicht herausfinden kann, wie groß der Eigenanteil bei einer Arbeit war. Man pickt sich ein oder zwei Fachworte oder Gedankengänge heraus und sieht dann was ein Schüler dazu sagen kann. In dem meisten Fällen dürfte das schnell Klarheit schafffen.
- [29] Das war in etwa im Jahr 2020. Ich spielte mit dem Kind einmal wöchentlich für eine Stunde immer wieder Tiergeschichten durch. Daneben lernten wir auch formale Rechenregeln. Doch während die Mitschüler schon sicher im Kopf bis 20 rechneten (und es können mussten), war dieser Schülerin völlig unklar warum 10 minus 2 die Zahl 8 ergeben sollte. Es kämpfte ja noch mit der Vorstellung, dass die Anzahl nichts damit zu tun hat, wie man Tiere hinstellt. Siehe mehr dazu unter Dyskalkulie ↗
- [30] Wir hatten in dem entsprechenden Zeitraum etwa 5 Kinder die von diesem Lehrer betroffen waren. Berichtet wurde, dass der Lehrer oft versunsicherte Kinder an die Tafel holte, herabsetzende Bemerkungen der Art "du schreibst eh nur ab" machen, das Bestehen des Abiturs in Frage stellte, in Arbeiten bevorzugt Aufgaben stellen, die mehr oder minder stark vom Unterricht abweichen, den Kindern für sie unlösbare Sonderaufgaben als Alternative zur mündlichen Mitarbeit aufgeben und derlei mehr. Manche Eltern hatten in dem speziellen Fall bereits einen Anwalt eingeschaltet. Die Schulleitung wurde in keinem der Fälle aktiv, sie verwies die Eltern immer wieder darauf, eine Lösung mit dem Lehrer zu suchen. Inzwischen bin ich als Nachhilfelehrer so weit, dass ich Kinder von mir bekannten Lehrern dieses Typs nicht mehr zur Förderung bei mir annehme. Ich sage dann ganz offen, dass ich es nicht mehr ertrage weinende Oberstufenschüler bei mir zu haben, die bei bestem Willen und an sich guten Anlagen zum Lernen ständig in ihrem Selbstwertgefühl zerstört werden. Das ist sicher eine Resignation, aber ich sehe für mich keine bessere Möglichkeit. Es ist ein starkes Gefühl der Hilflosigkeit.
- [31] Gerade von Schülern die "mechanisch rechnen", das heißt starre Lösungswege benutzen, höre ich oft selbstsichere Aussagen wie "Differenzialrechnung kann ich eigentlich ganz gut". Tatsächlich können sie zum Beispiel die in der Schule eintrainierten Funktionen ableiten, etwa aus f(x)=2x³ machen sie recht sicher f'(x)=6x². Ihnen fehlt aber meist jede Einsicht, wofür die Rechnungen stehen. Schon einfachste Textaufgaben, sofern sie von einem engen Schema abweichen, überfordern sie. Sie bezeichnen solche Aufgaben dann oft als "unfair" oder sagen, dass das ja eigentlich keine "echte Mathematik" sei. Es ist mir in meiner ganzen Zeit als Lehrer von 2005 bis 2024 nicht gelungen, solchen Kindern und Jugendlichen zu zeigen, was sie nicht verstanden haben. Sie können sich unter dem Sinn, der Bedeutung einer Rechnung nichts vorstellen und setzen den Rechenweg gleich mit Können und Verstehen. Sie glauben, was sie sagen. Erhalten solche Kinder für sie akzeptable Noten, sehen sie sich voll und ganz bestätigt und in der Lage, auch Studienfächer mit einem schweren Anteil an Mathematik meistern zu können. Vielleicht ist dieser Effekt Teil der Erklärung für Studienabbrüche? Siehe auch Dunning-Kruger-Effekt ↗
- [32] Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache definiert akademisch als "mit Bezug zu Hochschulen, lebensfern: "2) Universitäts-, Hochschul- ⟨das akademische Viertel⟩ 2) [übertragen] allzu gelehrt, lebensfern". In: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Abgerufen am 6. Januar 2024. Dort der Artikel "akademisch". Siehe auch den Artikel akademisch ↗
- [33] Zu eine positiven Deutung von Akademisierung: "Streitgespräch über Reform der Pflegeausbildung. „Wir brauchen eine Möglichkeit der Akademisierung“ In der Debatte über die Reform der Pflegeausbildung hat der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, ein Bildungskonzept gefordert, das jungen Menschen Karrieremöglichkeiten und akademische Abschlüsse eröffnet. Peter Clever von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände befürchtet, dass dadurch Hauptschüler in die Helfertätigkeit abgeschoben werden." In: Peter Clever und Andreas Westerfellhaus im Gespräch mit Kate Maleike. Deutschlandfunk. 27.12.2016. Online: https://www.deutschlandfunk.de/streitgespraech-ueber-reform-der-pflegeausbildung-wir-100.html
- [34] Jutta Pilgram: Vom Meister zum Berufsbachelor. Bildungsministerin Karliczek will die berufliche Bildung aufwerten. Abschlüsse wie "Berufsbachelor" sollen praxisnahe Alternativen zum Studium sein. In dem Artikel wird unter anderem die ehemalige CDU Bundesbildungsministerin Anja Karliczek zitiert: "'Berufsspezialist' darf sich nennen, wer eine Lehre absolviert hat. Der 'Berufsbachelor' entspricht dem Meister, Techniker oder Fachwirt und ist dem akademischen Bachelor gleichgestellt. Der 'Berufsmaster' fasst weitere Aufstiegsfortbildungen zusammen und ist einem Master von der Hochschule ebenbürtig. Bisherige Begriffe wie etwa 'Meister' sollen nicht abgeschafft, sondern aufgewertet werden." In: Süddeutsche Zeitung. Online. 8. Dezember 2018.
- [35] Markus Riedl: Maurermeister macht sich über Pseudo-Akademisierung lustig. In diesem Artikel wird ein Handwerker zitiert, der beklagt, dass die Akademisierung ihm Auszubildende wegnehme. Denn wenn sich Schulabgänger "durchs Abitur gemogelt haben, mache sie eines nicht mehr: Sich die Finger dreckig". In: DHZ. Deutsche Handwerks Zeitung. 11. Juni 2019.
- [36] Das Ich steht hier für Gunter Heim ↗
- [37] Die Beispiele hier stammen zum weit überwiegenden Teil von Schülern an deutschen Schulen. Zum einen kleineren Teil stammen die Schüler aber auch aus dem deutschsprachigen Ostbelgien. Nach meiner Erfahrung wird dort das Fach Mathematik sehr viel formaler als in Deutschland vermittelt. Auch dort tritt das Problem der Pseudoakademisierung mindestens punktuell bei einzelnen Lehrern auf, zumal es in Ostbelgien kein Zentralabitur gibt. In einem konkreten Einzelfall unterstützte ich im Jahr 2023 einen Schüler durchs Mathe-Abitur. Die gestellten Aufgaben zur Stochastik waren auf sehr hohem Niveau, jedoch machte die Lehrerin schon lange vor dem Abitur deutlich, welche eng definierten Aufgabentypen vorkommen würden und sie hielt sich auch daran.
- [38] Dorothea Siems sieht eine Kluft zwischen Studienberechtigung und Studienbefähigung: "Fast jedem zweiten jungen Erwachsenen steht die Hochschule offen, und das Studentenleben lockt viele. Häufig allerdings folgt später ein Realitätsschock. Denn das Abitur bedeutet zwar eine Studienberechtigung, aber anders als früher keineswegs immer auch die Studienbefähigung. Mit dem Reifezeugnis werden den Schulabgängern Kenntnisse bescheinigt, die sie oft nicht erworben haben." In: Der Akademisierungswahn ruiniert die duale Ausbildung. Veröffentlicht am 06.07.2018. Welt Online. Online: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article178883266/Bildung-Der-Akademisierungswahn-ruiniert-die-duale-Ausbildung.html
- [39] Dass Studienberechtigung nicht gleich Studienbefähigung ist beklagten Sinngemäß mehrere Professoren der Mathematik in einem Brandbrief aus dem Jahr 2017. Siehe dazu auch Brandbrief 2017 ↗
- [40] Boxplots als Gegenstand des Unterrichts in den Klassen 6 des Gymnasiums in Nordrhein werden zum Beispiel behandelt in: Mathematik 6 NRW Gymnasium. Durchblick Verlag. 2021. ISBN: 978-3-943703-87-0. Zur Mathematik der Boxplots siehe Boxplot ↗
- [41] Tatsächlich bereiten die Worte arithmetisches Mittel und Durchschnitt vielen unserer Schüler in der Lernwerkstatt Problem. Eine größere Zahl kennt nicht mehr das Wort Durchschnitt, anderen wissen mit arithmetischen Mittel nichts anzufangen. Dabei ist das Wort Durchschnitt alltagsnäher. Man sagt durchaus "das kostet im Schnitt 12 Euro", eventuell auch "im Mittel kostet das 12 Euro". Niemand aber würde sagen, dass etwas im arithmetischen Mittel 12 Euro koste. Kindern der Klasse 6 bleibt völlig unverständlich, was das Wort arithmetisch im Zusammenhang mit einem Mittelwert bedeutet. Gibt es auch Mittelwerte, die nicht arithmetisch sind? Siehe dazu auch arithmetisches Mittel ↗
- [42] In der sechsten Klasse las ich das Satire-Comic MAD und fand das schwer zu verstehen. Donald Duck konnte ich verstehen und WAS-IST-WAS Bücher auch. In der Mathematik nahmen wir in der sechsten Klasse das Assoziativ-, Kommutativ- und Distributivgesetz durch. Die Worte und Aufgaben waren plötzlich wie aus heiterem Himmel da. Bei mir riss dort der Verständnisfaden. Hatte ich in der Grundschule meistens nur Einsen und Zweien, gingen die Noten in den Klassen 5 und 6 direkt in den Bereich drei bis bis fünf über. Passend dazu erzählen und Eltern beim ersten Anfruf in der Lernwerkstatt in Aachen genau diese Geschichte: in den Klassen 5 und 6 reisst der Faden und die Kinder verlieren den Anschluss.
- [43] Boxplots können Daten aus komplexen Tabellen leichter interpretierbar machen: "Exploratory data analysis involves the use of statistical techniques to identify patterns that may be hidden in a group of numbers. One of these techniques is the 'box plot' […] The box plot uses the median, the approximate quartiles, and the lowest and highest data points to convey the level, spread, and symmetry of a distribution of data values. It can also be easily refined to identify outlier data values […] We apply box plots to tabular data […] to show how readers can use box plots to improve the interpretation of data in complex tables." In: Juliette Simpkins Kendrick: The box plot: A simple visual method to interpret data. In: Annals of Internal Medicine 110(11):916-21. July 1989. DOI:10.1059/0003-4819-110-11-916. Online: https://www.researchgate.net/publication/20437659_The_box_plot_A_simple_visual_method_to_interpret_data
- [44] Differenzial- und Integralrechnung, Rechnen mit Vektoren, Binomialverteilungen oder Matrizen: als höhere Mathematik bezeichnet man - grob gesprochen - die Mathematik nach dem Realschulabschluss, das heißt, die Mathematik, der schulischen Oberstufe und an Hochschulen vermittelt wird. Siehe auch höhere Mathematik ↗
- [45] Seit 2020 lerne ich mit allen Schülern der Lernwerkstatt in Aachen 7 Fragen zum Allgemeinwissen auswendig: wie hoch sind der höchste Turm und der höchste Berg der Welt? Wie hoch fliegen Flugzeuge in etwa? In welcher Höhe beginnt der Weltraum? Wie weit kommt ein Flugzeug in etwa in einer Stunde? Wie lang ist Deutschland von Norden nach Süden? Und: wie weit ist es einmal ganz um die Erde? Während manche Schüler die Antworten nach einer kurzen Besprechung (die viele sehr spannend finden) alle auch dauerhaft behalten und auch ein gutes Gefühl für die behandelten Größenordnungen haben, gibt es auch Schüler, mit denen ich diese Fragen über mindestens ein Jahr hinweg immer wieder neu wiederholen muss. Sie haben oft große Probleme damit, Meter und Kilometer auseinander zu halten. Überhaupt stellen wir fest, dass die wenigsten Kinder und Jugendlichen - und auch Erwachsenen - ein Grundgerüst an Wissen zur zahlenmäßigen Orientierung in der Welt haben. Wie lange dauert ein Flug zum Mond mit einer normalen Rakete (Stunden, Tage, Wochen)? Wo auf einem Globus gezeigt würde in etwa die Atmosphäre der Erde enden (es ist verblüffend nah an der Erdoberfläche)? Wie viel mal so alt wie die Pyrmiden ist in etwa die Erde (doppelt so alt, tausendmal zu alt, millionenmal so alt)? Das Problem ist, dass viele Aufgaben aus der Schule unausgesprochen ein solches Orientierungswissen voraussetzen, ohne dass es vorhanden ist. Schon beim ersten oder zweiten Satz einer Textaufgabe, so merken wir immer wieder, steigen viele Kinder aus oder sie entwickeln völlig irreführende Ideen, was der Text meinen könnte. Siehe auch Allgemeinwissen ↗
- [46] Man sollte sich bei Fremdworten immer fragen, ob nicht das einfache, alltagsnahe deutsche Wort den Zweck genauso gut erfüllt. Was ist an Rhombus besser als an Raute? Ist vertikal präziser als senkrecht? Genügt das Wort Plusrechnen oder sollte man besser addieren sagen? Kann man Photon mit Lichtteilchen übersetzen und Interferenz mit Überlagerung? Wann Fremdworte sinnvoll sind und wann eher nicht behandelt kurz der Artikel Fremdworte ↗
- [47] Im Jahr 2015 wurden die bergbaukundlichen Instituten BBK I und BBK III der RWTH Aachen zusammengelegt und umbenannt in Institute of Mineral Resources Engineering (MRE). Noch nicht umbenannt wurde hingegen das Insitut für Eisenhüttenkunde. Generell kann man aber beobachten, dass das Wort Kunde auf dem Rückzug ist. Meiner Meinung nach aber zu unrecht. Mit einer Kunde wurde oft ein Übergangsbereich zwischen akademischer Wissenschaft und berufsnaher Anwendung bezeichnet. Während die reine Wissenschaft auf das Bilden und Verbessern von abstrakten Theorien abzielt, macht sich die Kunde zwar wissenschaftliche Ergebnisse, Methoden und Denkweisen teilweise zu eigen, wendet diese aber stärker auf praktische, meist berufsbezogene Anwendungen an. Siehe auch Kunde (Fachgebiet) ↗
- [48] Im Februar 2024 zeigte mir ein Schüler im vorletzten Jahr vor dem Abitur eine Formel für die sogenannte Lorentzkraft des Elektromagnetismus. Die im Heft von der Tafel notierte Formel lautete: "F = n·e·v·B". Diese Formel ist auf mindestens drei Weisen so stark reduziert, dass sie als alleiniger Rüstzeug für ein Abitur im Grundkurs nicht ausreicht. Die drei Vereinfachungen sind a) es ist nur die Lorentzkraft für Magnetfelder, nicht aber für elektrische Felder berücksichtigt, b) der Winkel unter dem die Elektronen e auf die Magnetfeldlinien treffen wird in der Formel nicht berücksichtigt, die Formel gilt nur für den Fall, dass die Elektronen senkrecht auf die Feldlinien treffen. Das war aber in Schulnotizen nicht vermerkt. Und c) wurde statt einer beliebigen Ladungsmenge die im Unterricht ständig behandelte Elementarladung e verwendet, die die Schüler auswendig lernten. Siehe auch Lorentzkraft ↗
- [49] Dieselbe Lehrerin wie aus der Fußnote 48 sagte, dass Geschwindigkeiten in von ihr gestellten Arbeiten so angegeben werden, dass sie nicht mehr auf eine ungewohnte Weise umgewandelt werden müssen. So entfällt die in der Praxis sonst oft übliche Umwandlung von km/h in m/s oder umgekehrt. Tatsächlich fallen die Noten in den Klassenarbeiten dort auch sehr gut aus. Gleichzeitig, so der betreffende Schüler, würde die Lehrerin sehr schnell sehr viele Versuche "durchziehen" und auch immer wieder sagen, wie viele Themen sie noch auf der Liste hätte, die "durchgenommen werden müssten". Genau diese Wendung hörte ich auch von anderen Schülern anderer Schülern. Ich sehe die Lehrerin in dem Dilemma, dass sie wesentlich mehr Stoff durchnehmen muss, als die Schüler ihrer Klasse realistisch verstehen können. Ich glaube das anhand des Schülers beurteilen zu können, den ich selbst im außerschulischen Unterricht betreute. Dieser ist weder auf den Kopf gefallen noch faul. Aber es werden von ihm im Grundkurs Kenntnisse vorausgesetzt, die ich erst im Studium eines Ingenieurfaches erlangt hatte. Der Mangel im "System Schule" unserer Zeit ist, dass diese Wahrheit, nämlich eine systematische Überforderung der Schüler und Lehrer durch Lehrpläne ein Tabu ist.
- [50] Akademisch im Sinne des Artikels hier soll heißen: ein wissenschaftlicher Denk- und Arbeitstil der zur Mitarbeit an universitärer Forschung befähigt. Siehe auch akademisch ↗
- [51] Häufig begleiten wir in unserer Lernwerkstatt in Aachen Schüler im Vorletzten Jahr vor dem Abitur bei der Verfassung von sogenannten Facharbeiten. Typische Themen sind zum Beispiel "Das mathematische Pendel" oder "Berechenbarkeit" oder "Komplexe Zahlen". Schüler sollen sich eigenständig in Themen hineinarbeiten. Die Schüler erhalten dabei meist eine Liste formaler Anforderungen, die zu erfüllen sind. Dazu zählt insbesondere das richtige Zitieren von Quellen. Als Beispiel aus der Praxis des Jahres 2024 sei hier kur angeführt, dass eine Schülerin die Facharbeit in dem Textverarbeitungsprogramm Word schreiben soll, dieses aber erst anhand der Facharbeit kennen lernt. Ihre auf einem Tablet vorhandene Version hat jedoch die wichtigen Funktion zum Erstellen von Fußnoten ausgeschaltet. Alleine die technische Umsetzung zum Einfügen von Zitaten stellen sie vor große Schwierigkeiten. Die Fülle solcher Probleme macht es für normale Schüler fast zwingend notwendig, dass sie die Hilfe von Erwachsenen in Anspruch nehmen.
- [52] Speziell in der Physik beobachten wir seit 2023, dass die Beschriftung von Skizzen immer mehr zu einem eigenständigen Aufgabentyp wird. Dabei lernen die Schüler bereits im Unterricht die Skizzen, etwa zum Aufbau des Franck-Hertz-Versuchs kennen. Die Punkte in der Arbeit können dann durch reines Auswendiglernen der Fachworte erzielt werden. Pseudoakademisch ist hier nicht das Erlernen von Beschriftungen an sich. Pseudoakademisch wird der Unterricht aber dann, wenn man Arbeiten bestehen kann, zum Teil auch mit guten Noten, ohne dass man dazu ein wirkliches Verständnis der behandelten Inhalte benötigt.
- [53] Ich habe um das Jahr 2020 tatsächlich mehrere Diskussionen mit Lehrern an staatlichen Schulen geführt, bei denen die Lehrer argumentierten, dass ein Verständnis von Zahlen (speziell beim Kopfrechnen) für ein Verständnis der Mathematik nicht nötig sei. Das sehe ich anders. Wer die Rechnung 80:16 zwar schriftlich korrekt ausführen kann, aber nicht weiß, dass die Division für mehrere anschauliche Konzepte wie etwa das Aufteilen oder das Verteilen (und noch einige mehr) steht, wird sich bei Aufgaben wie 80:0,1 schwer tun. Damit wird aber auch der für die Physik so wichtige innige Zusammenhang zwischen Deutung, Modellen und formalen Rechnungen brüchig. Siehe auch anschaulich teilen ↗
- [54] Der Versuch mit den 200 Würfeln ist ein Standard in unserer Aachener Lernwerkstatt. Meistens werden dabei so um die 28 bis 38 Sechsen geworfen, gelegentlich gibt es aber auch starke Abweichungen. Die meisten Schüler finden es interesssant, sich mit diesem Versuch intensiv über eine ganze Stunde hinweg zu beschäftigen. Dabei kann man gut Grundideen der Stochastik besprechen und gewinnt ein Gefühl dafür, was Wahrscheinlichkeit wirklich meint. Gleichzeitig aber ist der Schulstoff schon nach ein oder zwei Unterrichtsstunden in der Stochastik bei komplexen Konzepten wie Binomialverteilung oder schwierigen Formeln der Kombinatorik. Siehe auch zweihundert-Würfel-Versuch ↗
- [55] Wie sehr gerade stupides langes Arbeiten tiefere Einsichten fördern kann, konnte ich an mir selbst erleben. Im Sommer 2017 sammelte ich auf der Nordseeinsel Wangerooge rund 300 Bruchstücke oder ganze Schalen von Herzmuscheln. Über mindestens 40 Stunden hinweg säubert, vermass, beschriftete und dokumentierte ich die Fundstücke. Anschließend werte ich sie statistisch aus, ohne dabei fertige Rechenwerkzeuge (Statistik-Tools) zu benutzen. Als ich dann am Ende Graphen (von Hand) zeichnete, ging mir schlagartig als klassisches Aha-Erlebnis die Bedeutung der sogenannten Sigma-Regeln im Zusammenhang mit einer sogenannten Normalverteilung auf. Viele Aufgaben aus dem Abitur kann ich seitdem wesentlich besser lösen und in ihrem Sinn überhaupt erst verstehen. Nun kann es sein, dass ich einfach nur etwas langsam von Begriff bin und die normalen Schüler im normalen Abitur in Nordrhein-Westfalen den tieferen Sinn der Sigmaregeln auch ohne 40-Stunden-Projekt zu Muscheln verstehen. Meine Erfahung in der Lernwerstatt ist aber eher, dass ich vielleicht kein Einstein bin, aber an sich doch normal auffassungsbegabt für die normale Schulmathematik. Das Beispiel mit den Muscheln von Wangerooge steht unter Muschelprobe I ↗
- [56] Als akademisch interessiert betrachte ich dabei nicht vorrangig hochbegabte Schüler sondern hochinteressierte und forscherisch denkende Schüler. So haben wir häufig Schüler mit einem diagnostizierten IQ von über 130 aber ohne irgendwelche akademischen Interessen. Umgekehrt haben wir auch viele Schüler, die nicht durch eine schnelle Auffassungsgabe auffallen, sondern durch eine forscherische Grundhaltung. Sie genießen es, wochenlang tief in ein Them wie die Herstellung von Wasserstoff einzusteigen. Sie haben Freude daran, ihre Ergebnisse für andere lesbar zu dokumentieren, eigene Theorie kritisch zu diskutieren, die Mathematik zu den Versuchen zu lernen oder auch in Fachveröffentlichungen hineinzuschnuppern und diese auszuwerten.
- [57] Interview mit Thimo Witting: Streit um Bildungspläne in Hamburg: „Unterricht wie vor 100 Jahren“ Die Kernaussage: "Die Vereinigung der Stadtteilschulleiter [aus Hamburg] fordert, die neuen Bildungspläne zu stoppen. Die Entwürfe enthielten zu viel vergängliches Faktenwissen." In: Tageszeitung (TAZ). 2022. Online: https://taz.de/Streit-um-Bildungsplaene-in-Hamburg/!5855112/
- [58] Interview mit Ulrich Vieluf: Schulforscher über Bildungsgerechtigkeit :„Lehrpläne entrümpeln“ Das Startchancen-Programm für Bildung reicht laut dem früheren Hamburger Staatsrat Ulrich Vieluf nicht. Wichtig seien mehr Zeit und andere Lehrpläne." In: Tageszeitung (TAZ). 16. Februar 2024. Online:
- [59] Der ehemalige Hamburger Bildungssenator Ties Rabe sah in den Jahrzehnten seiner Tätigkeit im Hamburger Bildungssystem einen "enormen Widerstand" von Eltern- und Lehrerverbänden, wenn es um die Verbesserung grundlegender Fertigkeiten ging. So wollten Deutschlehrer nicht "mehr Zeit ihres wertvollen Deutschunterrichtes [] opfern, um die schlechte Rechtschreibung der Kinder zu verbessern". Und "Lehrer- und Elternverbände hätten sich statt für elementare Kenntnisse eher für Unisex-Schultoiletten, Geschlechteransprache oder Schulobstprogramme begeistern können." "Sie ahnen nicht", so Rabe, "mit welchen nicht so wichtigen Dingen Schulpolitik überflutet wird" In: Barbara Gillmann: „Manche Bundesländer wollen gar nicht besser werden“ Unter Hamburgs Schulsenator Ties Rabe haben sich Grundschüler der Hansestadt stark verbessert. Doch das sei nur gegen den massiven Widerstand von Lehrern und Eltern möglich gewesen, sagt er. Artikel im Handelsblatt. 20ter Februar 2024. Online: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bildungspolitik-manche-bundeslaender-wollen-gar-nicht-besser-werden/100016322.html