Bildungssprache
Wissenschaft
Charakterisierung
Als Bildungssprache bezeichnet man eine Sprech- oder Schreibweise, die man in der gesprochenen Umgangssprache eher nicht hört, sondern eher in geschriebenen Texten, in Fachgesprächen oder auf Vorträgen. Hier werden kurz kurz einige typische Merkmale von Bildungssprache vorgestellt. Am Ende werden kurz auch Sinn und Unsinn einer solchen Bildungssprache erörtert.
Bildungssprache Fachworte: erörtern, erläutern, aufstellen
Kaum ein normaler Mensch verwendet im Alltag das Wort erörtern. Man sagt eher nicht: erörtere mir doch bitte einmal die verschiedenen Aspekte der Solarenergie. Wer so redet würde als seltsam gelten. Typisch für einen Alltagssatz wäre eher: Sonnenenergie, was sind denn die Vor- und Nachteile? Typisch für eine Bildungssprache sind Worte, die man gesprochen selten hört. Beispiele aus der Mathematik sind die sogenannten Operatoren (Didaktik) ↗
Bildungssprache: Fremdworte
Körperzellen können einen vorprogrammierten Selbstmord ausführen, die sogenannte Apoptose. Das Fremdwort Apoptose ist ein Fremdwort mit griechischen Wurzeln. Die Apotose ist eine Art zellulärer Selbstmord, aber vom Zusammenhang her enger doch etwas gefasst: bei einer Apoptose bringt sich die Zelle nach einem fertigen Programm so um, dass möglichst wenig Schaden für das Zellgewebe um sie herum entsteht. Eine solche Verwendung von Fremdworten deutet zum einen einen Kontext an, hier zum Beispiel die Zellbiologie. Zum anderen zeigt die sichere und häufige Verwendung von Fremdworten, dass sich eine Person längere Zeit intensiv mit einem bestimmten Fachgebiet auseinandergesetzt hat. Diese soziale Funktion bietet damit eine Mindestgarantie, dass der Autor ein Mindestmaß an Ahnung hat. Welche Fremdworte man benutzt, zeigt indirekt auch wohin man gehört, zu welchem Denkkollektiv ↗
Bildungssprache: Substantive eher als Verben
Der Start der ersten bemannten Mondrakete erfolgte am 16. Juli 1969. Das Substantiv Start wurde hier verwendet. Umgangssprachlich würde man eher sagen: Am 16. Juli 1969 startete die erste Rakete zum Mond. Wozu Substantive in der Bildungssprache bevorzugt werden ist unklar. Man kann aber beobachten, dass bildungssprachliche Texte oft Substantive verwenden, wo man in der Alltagssprache Verben verwenden würde. Siehe auch auch Substantiv ↗
Bildungssprache: zusammengesetzte Worte
Erdkern statt Kern der Erde. Oder: Lösungsverfahren statt Verfahren zum Lösen. In der deutschen Bildungssprache werden längere, zusammengesetzte Worte gegenüber der Aneinanderreihung vieler kleiner Worte bevorzugt. Der Zweck ist unklar, zumal der Effekt zum Beispiel im Englischen sehr viel schwächer ausgeprägt ist. Ein zusammengesetztes Wort nennt man auch ein Kompositum ↗
Bildungssprache: Vermeidung von „Ich“
Liest man in alten Veröffentlichungen, findet man gelegentlich, dass auch wissenschaftliche Autoren oft in der Ich-Form schrieben. Das ist heute eher unüblich. Das Ich als Wort wird gerne vermieden. Interessant ist, dass das "wir" wo es für eine Gruppe von Forschern steht, nicht selten ist. Möglicherweise soll die Vermeidung des "Ich" zeigen, dass die Aussagen nicht nur für eine Personen gelten sondern allgemein gültig sind. Man spricht hier auch von einer sogenannten Objektivität ↗
Bildungssprache: Passivsätze
Der Elektromagnet wurde angeschaltet: das ist ein Passivsatz. Die aktiv-Version wäre: die Forscherin hat den Elektromagneten angeschaltet. Bei Passivsätzen gibt es kein handelndes Subjekt, niemand, der etwas tut. Passivsätze sind häufig in geschriebenen Texten aber sehr selten in gesprochenen Texten. Passivsätze sind auch sehr viel schwerer zu verstehen. Auch gebildete Personen benötigen messbar etwas mehr Zeit, sie zu entschlüsseln als denselben Satz in einer aktiven Version. Ein Sinn von Passivsätzen ist die gedankliche Fokussierung auf das Wesentliche: wenn es für ein Experiment unwichtig ist, wer welchen Schritt ausgeführt hat, dann kann der Leser oder Zuhörer sich besser auf das Wichtige konzentrieren, wenn die Subjekte dann auch gar nicht genannt werden. Passivsätze ziehen damit Unwichtiges vom Gesagten ab und sind so auch eine Form der Abstraktion ↗
Bildungssprache: häufige Verwendung von man
Um Blitze in einem Zimmer zu erzeugen kann man zum Beispiel einen Van-de-Graaff-Generator verwenden: das kleine Wörtchen man steht hier für irgendeine Person, die etwas tut. Wie bei Passivsätzen nennt man die Personen nicht näher. Wer etwas tut ist unwichtig und würde Aufmerksmamkeit vom Wesentlichen ablenken. Siehe auch man ↗
Bildungssprache: indirekte Rede
Der Physiker Anton Zeilinger sagte, es brauche einen neuen Immanuel Kant für die Quantenphysik. Dieser Satz verwendet indirekte Rede. In direkter Rede könnte man ihn schreiben als: Anton Zeilinger sagte: wir brauchen einen neuen Immanuel Kant für die Quantenphysik. Ein Zweck oder Sinn davon ist mir unklar.
Bildungssprache: lange Sätze
Nachdem im Jahr 1969 die US-Amerikaner erstmals mit Menschen auf dem Mond gelandet waren stellten sie im Jahr 1972 ihr Mondflugprogramm wieder ein: dieser Satz ist eher lang. Man würde ihn so in einem Gespräch im Alltag eher nicht sprechen. Eine Version mit kürzen Teilsätzen wäre: 1969 waren die Amerikaner zum ersten Mal auf dem Mond. 1972 gab es dann den letzten Mondflug. Längere Sätze haben vielleicht den Sinn, dass das Arbeitsgedächtnis längere Zeit Inhalte wach hält, die in einem Zusammenhang gedacht werden sollen. Lange Sätze würden dann ein Denken in komplexeren Zusammenhängen fördern. Siehe auch komplex ↗
Was ist der Nutzen von Bildungssprache?
Durch die Verwendung von Bildungssprache deutet man einen Anspruch an Wissenschaftlichkeit an, der mit der Umgangssprache nicht verbunden wird. Verwendet man zum Beispiel das Wort falsifizieren anstatt widerlegen, so dürfen die Zuhörer dann davon ausgehen, dass man etwas von Wissenschaftstheorie versteht und sensibilisiert ist für die Probleme sicheren Wissens ist. Benutzt jemand das Wort widerlegen, bleibt offen, ob dieser gedankliche Hintergrund mitgedacht werden soll oder überhaupt kann. Hier stehen beispielhaft einige Nutzen von Bildungssprache.
- Man deutet Hintergrundwissen an: „überprüfen“ kann man etwas zum Beispiel mit einem Hypothesentest ↗
- Man deutet das Denken in enger gefassten Begriffen an: „wird irgendwann ungefähr 9“ ist mathematisch ein Grenzwert ↗
- Man erkennt Menschen ohne Fach-Literatur-Kenntnis: wer „Miozän“ nicht kennt, kennt wenig Literatur zur Erdgeschichte ↗
- Man grenzt sich selbst ein, beschränkt seinen Anspruch: „Genauigkeit“ in der Messtechnik als Präzision ↗
- Man bildet mit ähnlich sprechenden Kollegen oder Menschen ein gemeinschaftliches Denkkollektiv ↗
Was ist das Fremdwortparadoxon?
In unserer Lernwerkstatt in Aachen beobachten wir immer wieder, dass jüngere Kinder Fremdworte eher ablehnen (z. B. Produkt statt Malaufgabe). Die gleichen Kinder weisen die einfachen Worte später als unmathematisich zurück. Siehe dazu unter Fremdwortparadoxon ↗
Was ist der Showmastereffekt
Bildungssprache kann verwendet werden, um damit andere Personen zu beeindrucken. Wer viele Fremdwort benutzt wird unbewusst meist auch als gebildeter oder intelligenter wahrgenommen. Siehe dazu auch unter Showmastereffekt ↗
Was ist Pseudowissenschaft?
Universitäten, akademische Titel, aufwändige organisierte Vorträge und Bücher vermitteln oft eine Atmosphäre der Wissenschaftlichkeit. Verwenden Personen solche äußeren Merkmale von Wissenschaft zur Vermittlung unwissenschaftlicher Inhalte spricht man von einer sogenannten Pseudowissenschaft ↗
Was sagt die Bernstein-Hypothese?
Dass die Bildungssprache etwas mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zu tun hat. Demnach gibt es eine einfache Alltagssprache und eine gehobene Bildungsprache. Während gebildete Personen jederzeit zwischen beiden Sprachstilen wechseln können, können das viele Personen die nur die Alltagssprache verstehen nicht. Lies mehr unter Bernstein-Hypothese ↗
Gibt es Bildung ohne Bildungssprache?
Ja, Bildung, Tiefenverständnis und Intelligenz benötigen nicht zwingend eine Bildungssprache. Ein gutes Beispiel sind die Vorlesungen und Bücher des Quantenphysikers Anton Zeilinger. Er kann sich gleichzeitig korrekt und doch mit einfachen Alltagsworten ausdrücken. Geradezu ein Anwalt einer einfachst-möglichen Sprache war der englische Schriftsteller George Orwell[3]. Eine seiner Leitlinien beim Schreiben war: wenn es für ein Fremdwort (z. B. insistieren) auch ein einfaches Wort gibt (z. B. behaupten), dann nimm eher das einfache Wort. Siehe zu diesem Gedanken auch Wissenschaft (George Orwell) ↗
Bildungssprache als Unsinn?
Das folgende Zitat stammt aus einer Veröffentlichung von Bildungsforschern[4]. Viele der Fremdworte ließen sich ohne Verlust an Klarheit wahrscheinlich auch gut durch einfachere Worte ersetzen:
MERKSATZ:
„Der Artikel fokussiert dabei insbesondere die methodische Seite des Erforschens von Qualität aus der Perspektive des lernenden Subjekts beim E-Learning. Die Subjektperspektive in der pädagogischen Qualitätsforschung gewinnt zunehmend an Konjunktur, setzt sich doch immer mehr die Überzeugung durch, dass Qualität im Bildungs- und Sozialbereich eine Ko-Produktion ist …“
„Der Artikel fokussiert dabei insbesondere die methodische Seite des Erforschens von Qualität aus der Perspektive des lernenden Subjekts beim E-Learning. Die Subjektperspektive in der pädagogischen Qualitätsforschung gewinnt zunehmend an Konjunktur, setzt sich doch immer mehr die Überzeugung durch, dass Qualität im Bildungs- und Sozialbereich eine Ko-Produktion ist …“
Hier ist eine einfachere Version: „Der Artikel behandelt vor allem Methoden, mit denen man bei E-Learning den Lernerfolg aus Sicht der Lernenden betrachtet. Die Sicht der Lernenden wird in der pädagogischen Qualitätsforschung immer wichtiger. Gute Bildung wird immer mehr als Gemeinschaftsleistung aller Beteiligten verstanden.“
Man kann sich Fragen, welchen Zweck die Autoren des Originalzitats verfolgen. Wozu sollen die langen Sätze dienen, wozu die vielen Fremdworte? Vor allem in den Gesellschaftswissenschaften ist die Sprache oft sehr akademisch[5].
Fußnoten
- [1] Gogolin, Ingrid: Was ist Bildungssprache?. In: Grundschulunterricht Deutsch. Heft 4. 2010. Dort die Seiten 4–5..
- [2] Habermas, Jürgen: Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache. In: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. S. 36–51. 1977.
- [3] George Orwell: What is Science (Tribune, October 26th, 1945). In: George Orwell. Essays. Everyman Library. 242. Herausgegeben von Alfred A. Knopf. 2002. ISBN: 978-1-85715-242-5. Seite 907 ff.
- [4] Ehlers, Ulf-Daniel: Pädagogische Qualitätsforschung. Methode und Inventar einer qualitativen Explorationsstudie - In: Bildungsforschung 2 (2005) 1, 27 S. - URN: urn:nbn:de:0111-opus-46678 - DOI:10.25656/01:
- [5] Ein Beispiel für Bildungssprache jenseits der Verständlichkeit für die meisten Deutschen: "Sander hat nicht Merkmale und Kennzeichen fotografert; seine Aufmerksamkeit galt nicht nominalistisch vorgestellten, aus administrativen oder wissenschaflichen Konventionen hervorgegangenen Rubriken, unter die sich austauschbare Individuen oder Exemplare subsumieren lassen. Sanders Fotografen eignen sich auch nicht für die pseudo-universalienrealistische Erfassung von Wesensmerkmalen vermeintlicher Typen, deren Modelle als anthropologische Invarianten der nur scheinbar bunten Vielfalt wirklicher Menschen zugrunde liegen sollen." In: Schweppenhäuser, G. (2018). Die Selfiekultur der Social Media: Pseudo-Individualität und die Ambivalenz des Konzepts »Identität« im Zeitalter der »sozialen Netzwerke«. In: Revisionen des Realismus. Abhandlungen zur Philosophie. J. B. Metzler, Stuttgart. Dort die Seite 174. Online: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04628-4_9
- [6] Bildungssprache im Alltag: im Jahr 2024 erzählte eine etwa 30 Jahre alte technische Zeichnerin von ihrer Arbeit. Mehrmals benutzte sie dabei das Wort involviert im Sinne von mit hinzugezogen oder eingebunden, zum Beispiel "wenn die Behörde involviert ist, fällt mehr Papierkram an". Hier drang Bildungssprache in die Beschreibung alltäglicher Geschehnisse ein.