Lernen
Psychologie
Definition
Während sich der umgangssprachliche Lernbegriff oft eng im Zusammenhang mit schulischen Situationen gedacht wird[1], fasst man das Lernen in der Psychologie weiter auf. Dort steht Lernen für „Prozesse, die zu einer relativ langfristigen Veränderung im Verhaltenspotenzial eines Organismus führen und das Ergebnis von Erfahrung darstellen[2].“ Noch weiter verallgemeinert, ist Lernen nicht nur auf Organismen beschränkt. Auch „lebloser Materie“ wie Maschinen[3], kollektiven Gebilden wie Vogelschwärmen[4] oder sogar menschlichen Gesellschaften in Symbiose mit Maschinen[8] wird oft Lernfähigkeit zugesprochen. Eine interessante und offene Frage ist, ob es eine darwinistische Selektionsdruck hin zu ständig mehr Lernfähigkeit besteht oder eher nicht. Diese Aspekte sind hier kurz vorgestellt.
Lernen im Sinn der Schule
Lernen wird oft eng im Sinn von schulischem Lernen verstanden[1]. Seit etwa dem Jahr 1800 hat sich das schulische Lernen für breite Kreise der Bevölkerung in Europa durchgesetzt: im Rahmen einer allgemeinen Schulpflicht wird Kindern und Jugendlichen in Form eines Frontalunterrichts meist stark standardisiertes Wissen vermittelt. Auch grundlegende Fertigkeiten wie Lesen, Rechnen und sind Teil des schulischen Lernens. Sehr kontrovers diskutiert wird, ob diese Lernform nur starres Wissen vermittelt oder - wie oft als Ziel formuliert - zu einer gesunden Entwicklung der gesamten Persönlichkeit beiträgt. Wie einzelne Personen in dem gegebenen System der Schule oder Hochschule (äußere) Anforderungen am besten erfüllen können, ist hier näher betrachtet im Artikel zu Lernstrategien ↗
Lernen aus Sicht der Psychologie
In der Psychologie fasst man Lernen allgemein als eine langfristigen Veränderung des Verhaltenspotenziales aufgrund von Erfahrungen auf[2]. Wer etwa lernt, schlagfertig auf Beleidigungen zu reagieren, hat das Potenzial, also die Möglichkeiten, seiner Verhaltensweisen erweitert, und damit verändert. Wesentlich für die psychologische Definition von Lernen ist aber, dass diese Veränderung aufgrund von Erfahrungen erfolgt sein muss. Damit wird zum Beispiel ausgeschlossen, dass man rein erblich bedingt Veränderungen des Verhaltens, wie das Brabbeln bei kleinen Kindern, als Lernen auffasst. Auch müssen die Verhaltenpotenziale einigermaßen dauerhaft sein. In der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts betrachteten Psychologen das Lernen als eine Anpassung von Reaktionen auf äußere Reize. Diese Strömung bezeichnete man als Behaviorismus ↗
Lernende Maschinen und KI
Schon früh waren Philosophen von der Idee ergriffen, dass Maschinen lebendig sein könnten oder lebendige Wesen eigentlich nur Maschinen sind[5]. Im 20ten Jahrhundert sahen nahmhafte Biologen und Mediziner den Menschen im Wesentlichen als eine Reflexmaschine[6]. Seit dem späten 20ten Jahrhundert wurden dann zunehmend erfolgreich Computersysteme entwickelt, die eigentständig lernen konnten. Zwei klassische Herangehensweisen war die Nachbildung der darwinistischen Evolution mit evolutionären Algorithmen einerseits sowie die Anlehnung an biologische Nervensysteme mit sogenannten neuronalen Netzen. Seit dem 21ten Jahrhundert sind Maschinen dann zunehmend in der Lage, auch höhere Lernleistungen, wie etwa die Nachahmung von menschlichen Vorbildern, erfolgreich zu vollbringen. Siehe dazu auch künstliche Intelligenz ↗
Lernen im Kollektiv: Menschen und Tiere
Tiere in Schwärmen (z. B. Vögel)[4] oder in Staaten (z. B. Insekten[22]) erbringen als Kollektiv, das heißt als Gruppe, Lernfähigkeiten, die kein Tier für sich alleine leisten könnte. So können viele Ameisen zusammen den kürzesten Weg zwischen einem Nest und einer Futterquelle finden. Dabei muss keine einzelne Ameise eine Vorstellung von dem Weg als ganzem haben. Es genügt, wenn die Tiere a) einen Duftstoff absondern, der schnell verdunstet und wenn sie b) bevorzugt entlang von Wegen mit viel von diesem Duftstoff gehen. Der US-amerikanische Autor Howard Bloom (geobren 1943) bezeichnet solche Gruppen von Lebewesen als kollektive Lernmaschine ↗
Lernende Überwesen: Utopien und Dystopien
Verschiedene Autoren gehen davon aus, dass auf der Erde eine Art Weltprozess[14] hin zur Bildung von Überintelligenzen aus Maschinen und Mesnchen gibt. Dieses Überwesen heißt dann zum Beispiel Global Brain[4][7], Machina sapiens[8], Metaman[10], Kybiont[11], Energon[12] oder Monon[13]. Fast alle Autoren gestehen ihren hpyothetischen Überwesen die Fähigkeit zum Lernen[24] zu. Vor allem wird das entstehende Internet oft als keimendes neuronales Netz, als Gehirn des Überwesens gedeutet. Ein klassisches Beispiel für diese Gedankenströmung ist Gregory Stocks Metaman ↗
Sind Lernen und Anpassung dasselbe?
Schon im frühen 19ten Jahrhundert betonten einige Autoren[15], dass Menschen ohne Druck keine Leistung erbringen und degenierieren. Durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809 bis 1882) erhielt die Idee, dass ein ständiger Kampf ums Dasein[16] zur Höherentwicklung an sich beiträgt[17] eine theoretische Begründung. Keine Höherentwicklung, ohne Auslese[18]. Doch führt eine ständige Anpassung an sich ändernde Lebensbedingungen über einen ständigen Zwang zum Lernen auch automatisch zu mehr Komplexität[19] und Intelligenz? Zumindest für einzelne Tierarten im Rahmen der Evolution kann man hier mit einem klaren Nein antworten. Schon früh führten verschiedene Autoren Beispiele an, dass eine optimale Anpassung gerade auch eine Rückentwicklung oder Degeneration sein kann[20]. Das klassische Beispiel sind die Seepocken, ehemals agile, freilebende Krebse, die später ihre Sinnesorgane und ihre Beweglichkeit stark zurückentwickelt haben, und sich gerade dadurch an das Leben in brandungsstarken Uferzonen angepasst haben. Möchte man hier weiterhin von einem Lernen der Seepocken sprechen, so müsste man sagen, dass sie gelernt haben, auf einen Großteil ihrer ehemaligen Potenziale (Sehen, Bewegen) zu verzichten. Der polnische Autor Stanislaw Lem (1921 bis 2006) spitzte diese mögliche Gegenläufigkeit von Anpassung Lernen zu. Ihm zufolge, können kollektive Intelligenzen (Schwärme, Militär, Staaten) gerade dadurch besser werden, indem ihre Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, degenerieren[21]. Lem nannte dieses Prinzip die soziointegrative Degeneration ↗
Fußnoten
- [1] Das Spektrum Lexikon der Psychologie schreibt dazu: "In der Umgangssprache wird der Begriff des Lernens besonders im Zusammenhang mit der Schule gebraucht. Dort lernt man Schreiben, Lesen, Rechnen, erwirbt erdkundliches und geschichtliches Wissen usw. Auch der Erwerb bestimmter sozialer Umgangsformen wird in diesem Verständnis gelernt. Im Mittelpunkt dieser Auffassung von Lernen steht die pädagogische Situation. Prototypen sind der vom Lehrer organisierte Unterricht und die erziehenden Eltern." In: Spektrum Lexikon der Psychologie. Abgerufen am 16. November 2023. Online: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/lernen/8749
- [2] Das Dorsch Lexikon der Psychologie schreibt: "Lernen, Lernforschung […] Lernen bez. jene Prozesse, die zu einer relativ langfristigen Veränderung im Verhaltenspotenzial eines Organismus führen und das Ergebnis von Erfahrung darstellen. Lernen ist für alle Organismen bedeutsam, da das Ausmaß der Plastizität (Lernfähigkeit) des Verhaltens bestimmt, wie variabel er sich an verändernde Umweltbedingungen anpassen kann. Lernen führt zu strukturellen Veränderungen in spezif. Hirnstrukturen […]" In: Dorsch Lexikon der Psychologie. Abgerufen am 16. November 2023. Online: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/lernen-lernforschung
- [3] Ethem Alpaydyn: Maschinelles Lernen. Verlag de Gruyter Oldenbourg. Dritte Auflage. 2022. ISBN-13: 978-3110740141. Siehe auch künstliche Intelligenz ↗
- [4] Howard Bloom: The Global Brain: The Evolution of Mass Mind from the Big Bang to the 21st Century. Wiley, 2000, ISBN 978-0-471-29584-6; deutsch: Global brain: Die Evolution sozialer Intelligenz. Aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Florian Rötzer. DVA, 1999. ISBN: 978-3-421-05304-6. Dort verwendet Bloom den Begriff der kollektiven Lernmaschine auf Seite 79. Siehe auch kollektive Lernmaschine ↗
- [5] Ein Klassiker aus dem 18ten Jahrhundert dazu ist: Julien Offray de la Mettrie: Die Maschine Mensch. 1748. Als deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1875. Online: http://www.zeno.org/nid/2000920380X
- [6] John Yerbury Dent deutete den Menschen im Wesentlichen als eine Maschine, die ständig nur auf Reize aus der Außenwelt reagiert und sich daran anpasst. In: Reactions of the Human Machine. Published by Victor Gollancz Ltd, 1936. 288 Seiten. Siehe auch Behaviorismus ↗
- [7] Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Ersterscheinung bei Benno Schwabe & Co. in Basel. 1935. Seite 130. Siehe auch Ludwik Fleck ↗
- [8] Kazem Sadegh-Zadeh geht davon aus, dass auf der Erde ein intelligentes, denkendes und bewusstes Überwesen aus Maschine und in ihr versklavten Menschen entsteht: Als der Mensch das Denken verlernte: Die Entstehung der Machina sapiens. Burgverlag, Tecklenburg. 2000. ISBN: 3-922506-99-2. Siehe auch Machina sapiens ↗
- [9] Peter Russell: The Global Brain: speculations on the evolutionary leap to planetary consciousness. Los Angeles: JP Tarcher. 1983. Siehe auch Global Brain ↗
- [10] Gregory Stock: Metaman:The Merging of Humans and Machines into a Global Superorganism. (1993). Siehe auch Metaman ↗
- [11] Joël de Rosnay: Homo symbioticus. Einblicke in das 3. Jahrtausend, Gerling Akademie Verlag, München 1997, ISBN: 3-9803352-4-0. Französisches Original: L'homme symbiotique. Editions du Seuil Paris. 1995. Siehe auch Kybiont ↗
- [12] Hans Hass: Energon. Das verborgene Gemeinsame. Fritz Molden (Verlag). 1970. Siehe auch Energon ↗
- [13] Carsten Bresch: Zwischenstufe Leben – Evolution ohne Ziel? R. Piper & Co. Verlag. München. 1977, ISBN 3-492-02270-7. Seite 250 ff. Siehe auch MONON ↗
- [14] Günter Dedié: Die Kraft der Naturgesetze – Emergenz und kollektive Fähigkeiten von den Elementarteilchen bis zur menschlichen Gesellschaft. 2. Auflage. tredition 2015. Siehe auch Weltprozess ↗
- [15] Joseph Townsend: A Dissertation on the Poor laws. By a well-wisher to mankind. 1786. Dort schreibt er über die Hilfsbedürftigen der Gesellschaft: "it is only hunger which can spur and goad them on to labour." Als Mittel empfiehlt er den Entzug von falscher Fürsorge, denn "[Direct] legal constraint [to labor] is attended with too much trouble, violence, and noise, whereas hunger is not only a peaceable, silent, unremitted pressure, but as the most natural motive to industry, it calls forth the most powerful exertions. Hunger will tame the fiercest animals, it will teach decency and civility, obedience and subjugation to the most brutish, the most obstinate, and the most perverse."
- [16] 1906, aus einem Lexikon: "Alle Fortbildungen der Variationen und Anpassungen schreibt der Darwinismus (und in noch strengerm Ausschluß aller andern Faktoren der Neodarwinismus) der natürlichen Auslese oder Zuchtwahl zu […]" In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906. Siehe auch Kampf ums Dasein ↗
- [17] Ulrich Kull: Die Höherentwicklung der Lebewesen und ihre Bedeutung für den Evolutionsvorgang. In: Naturwissenschaftlicher Verein Darmstadt N.F. 6 (1982), Seiten 15-36. Siehe auch Höherentwicklung ↗
- [18] Der Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger (1889 bis 1961) sieht die Gefahr einer Degeneration durch fehlende Auslese: "Wir sind, so scheint mir, augenblicklich ernsthaft in Gefahr den „Pfad der Vollendung“ zu verfehlen. Nach allem, was hier gesagt wurde, ist Auslese ein unerläßlicher Entwicklungsfaktor. Woird sie gänzlich ausgeschaltet, so bleibt die Entwicklung stehen oder geht zurück." Das Zitat stammt aus dem Kapitel "Gefahren für die Intellektuelle Evolution". In: Geist und Materie. 2. Auflage. Friedrich Vieweg & Sohn. Braunschweig. 1961. Dort die Seite 24. Deutsche Ausgabe der Tarner Lectures "Mind and Matter". Die Angst vor sozialen Folgen einer ausbleibenden Auslese wird hier näher betrachtet unter dem Stichwort der Bernhardi-Barriere ↗
- [19] Dass es im Kosmos eine gesetzmäßige Entwicklung zu mehr Komplexität geben könnte (conspicuously absent is a law of increasing “complexity”) behandelt ein Artikel aus dem Jahr 2023: Michael L. Wong, Carol E. Cleland, Daniel Arend Jr., Robert M. Hazen: On the roles of function and selection in evolving systems. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS). 2023. 120 (43) e2310223120. Online: https://doi.org/10.1073/pnas.2310223120
- [20] „Die unglückliche Übersetzung von natürliche Zuchtwahl als survival of the fittest hat viel Schaden in Folge seiner Mehrdeutigkeit des Wortes fittest angerichtet. Viele verstehen unter fittest die besten oder die am höchsten entwickelten. Tatsächlich aber kann die natürliche Zuchtwahl auch in Richtung einer Degeneration wirken.“ Das englische Original war: „The unlucky substitution of „survival of the fittest“ for „natural selection“ had done much harm in consequence of the ambiguity of „fittest“ - which many take to mean „best“ or „highest“ - whereas „natural selection“ may work toward degradation […]“ In: Leonhard Huxley (Herausgeber): Life and letters of Thomas Huxley. 2 Bände, Band 2, New York 1901. Dort die Seite 284.
- [21] Lem schreibt: "Zuerst wurde der Mensch aus den Reihen des Militärs und später auch aus der Rüstungsindustrie durch das Phänomen der sogenannten »soziointegrativen Degeneration« ausgeschaltet. Der Degeneration unterlag der einzelne Soldat, sobald er aufhörte, ein Vernunftwesen zu sein, mit großem Gehirn, sobald er immer kleiner und damit immer unkomplizierter wurde, also »Soldat für einmaligen Gebrauch«. [...] Am Ende hatte der Mikrosoldat so viel Verstand wie die Ameise oder die Termite. Jede tote Armee war unvergleichlich komplexer als der Bienenstock oder der Ameisenhaufen. [2, Seite 68]" Lem prognostiziert, dass auch die Führungriege des Militär von dem Prozess nicht verschont bleibt. Die Generäle werden glauben, die großen Entscheidungen zu treffen, doch tatsächlich werden sie stets dem Vorschlag der Computer folgen." In: Stanislaw Lem: Waffensysteme der Zukunft. Suhrkamp Verlag. Originaltitel: Weapon Systems of the 21st Century or The Upside Down Evolution. Suhrkamp Taschenbuch 998. Erste Auflage 1983. Seite 68. Siehe auch soziointegrative Degeneration (Stanislaw Lem) ↗
- [22] Insekten müssen es aufwändig lernen, an den Nektar sogenannter komplexer Blüten zu gelangen. Die Erbsen sind ein typisches Beispiel dafür. Die zweiseitige Achsensymmetrie schließt manche Anflugrichtungen aus, der nach unten weisende Zugang zum Nektar zwingt die Insekten zu einem Anflug von unten, was schwerer ist als ein Landen von oben. Warum sollte eine Pflanze ihren Besuchern den Zugang zum Nektar erschweren? Eine mögliche Antwort ist, dass die Insekten den erschwerten Zugang aufwändig erlenen müssen und sich nur manche Insekten auf die entsprechenden Blüten spezialisieren können. Das erhöht aber die Wahrscheinlickeit, dass die Insekten bevorzugt die Blüten einer Art anfliegen. Und das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Pollen einer Pflanze auch die Blüte der eigenen Art erreicht und es zu einer erfolgreichen Bestäubung kommt. Warum solche komplexe Blüten in einer Ko-Evolution die Entstehung sogenannten eusozialer Bienen bevorzugen ist ausführlich erklärt in: Keasar Tamar, Pourtallier Odile and Wajnberg Eric: Can sociality facilitate learning of complex tasks? Lessons from bees and flowers. Phil. Trans. R. Soc. Veröffentlicht im Jahr 2023. DOI: http://doi.org/10.1098/rstb.2021.0402
- [24] Gesellschaftliches Lernen wird aber nicht erst im Zusammenhang mit einem hypothetischen Überwesen definiert. Vielmehr ist Lernen in der Soziologie ein anerkannter Mechanismus für eine kulturelle Evolution ↗