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Soziointegrative Degeneration (Stanislaw Lem)

Militärwesen

Basiswissen


Eine kollektive Intelligenz wird gerade dadurch leistungsfähig, dass sich die Individuen zurückentwickeln: soziointegrative Degeneration. Der Begriff wurde erstmals im Jahr 1980 verwendet und am Beispiel des Militärs beschrieben. Von Bedeutung ist die Frage, ob sich das Phänomen auch auf reale gesellschaftliche Prozesse übertragen ließen.

Die soziointegrative Degeneration nach Lem


In einem fiktiven Sachbuch beschreibt der polnische Schriftsteller und Futurologe Stanislaw Lem (1921 bis 2006) den Prozess der Degeneration.

Das Phänomen kündigte sich zunächst an über eine De-Humanisierung (un-humanisation)[1, Seite 52] der Industrie. Doch es waren nicht humanoide Roboter, die den Menschen verdrängten, sondern eng auf spezielle Funktionen zugeschnitte Gebilde …

ZITAT:

"… die Roboter, welche die Menschen am Fließband ersetzten, wurden nicht nach dem Vorbild des Menschen geschaffen; sie waren eher ausgewählte und vergrößerte Teile von Menschen: ein Gehirn mit einer großen Hand aus Stahl oder ein Gehirn mit einem Auge."[11]

Was dann folgte nannte Lem eine umgekehrte Evolution, eine "upside-down evolution"[1, Seite 52]. Mit der Miniaturisierung entstanden synthetische Insekten (synsects)[1, Seite 50] oder Quallen aus Keramik und Würmer aus Titan, die sich bei einem Atomschlag in der Erde vergruben und danach wieder an die Oberfläche kamen[1, Seite 50]. Die "Mikroarmee" kämpfte am Ende wie ein Schwarm von Bienen, es gab riesige Ansammlungen kriechender oder fliegender Elemente (enormous flying or crawling collection)

ZITAT:

"Zuerst wurde der Mensch aus den Reihen des Militärs und später auch aus der Rüstungsindustrie durch das Phänomen der sogenannten »soziointegrativen Degeneration« ausgeschaltet. Der Degeneration unterlag der einzelne Soldat, sobald er aufhörte, ein Vernunftwesen zu sein, mit großem Gehirn, sobald er immer kleiner und damit immer unkomplizierter wurde, also »Soldat für einmaligen Gebrauch«. [...] Am Ende hatte der Mikrosoldat so viel Verstand wie die Ameise oder die Termite. Jede tote Armee war unvergleichlich komplexer als der Bienenstock oder der Ameisenhaufen."[2, Seite 68]

Auch die Führungriege des Militär wird von der Beseitigung der Menschen aus der Armee nicht verschont bleiben. Die Generäle werden glauben, die großen Entscheidungen zu treffen[7], doch tatsächlich werden sie stets dem Vorschlag der Computer folgen, denn:

ZITAT:

"Die unbelebte Armee was deutlich komplexer als eine Bienenstock oder ein Ameisenhügel; sie war eher wie ein Biotop der Natur, ein Ökoystem, ein subtiles Gleichgewicht zwischen konkurrierenden, widerstreitenden und symbiotischen Arten. Es war offensichtlich, dass ein Sergeant oder Korporal in einer solchen Armee nichts mehr zu tun hatte. Um das große Bild zu erfassen, um nur die Truppen zu inspizieren, würde noch nicht einmal die Denkleistung einer Universität genügen."[10]

Vergleich mit biologischen Vorbildern


Ein Mikroarmee aus degenerierten Mikrosoldaten zeichnet sich gleichwohl durch eine hohe innere Komplexität aus: "Vom Gesichtswinkel der inneren Struktur und der gegenseitigen Abhängigkeit entsprach sie eher den sogenannten großen Biotopen der belebten Natur als ganzen Pyramiden von Pflanzen- und Tiergattungen, die in einem bestimmten Bereich als ihrem Lebensraum miteinander in ausgewogenem evolutionären Gleichgewicht der Konkurrenz, der Antagonismen, der Symbiose und daher im komplizierten Netz wechselseitiger Beziehungen koexistierte."[2, Seite 69]

Degeneration auch in der Politik


Auch im politischen, so Lem, nahm der Prozess seinen Lauf. Politiker sprachen immer mehr nur noch nach, was ihnen Computersysteme vorgelegt hatten:

ZITAT:

"Jede politische Partei hatte Experten als Berater. Wie man weiß, machten die Berater der verschiedenen Parteien über dieselben Fragen ganz unterschiedliche Aussagen. Mit der Zeit nahmen sie Computersysteme zu Hilfe, und zu spät erkannte man, daß die Menschen zu Sprachrohren ihrer Computer wurden. Sie meinten, sie selbst seien es, die die Dinge überdenken und Schlüsse ziehen [...] Doch tatsächlich operierten sie mit einem vom Rechenzentrum vorfabrizierten Material, und dieses Material bestimmte die menschlichen Entscheidungen."[2, Seite 74]

Lem schrieb diese Zeilen in den früher 1980er Jahren. Damals gab es kaum Privatleute die einen eigenen Computer hatten, geschweige denn irgendein Mobilgerät. Die ersten PCs der Zeit damals waren etwas für Nerds und Enthusiasten. Der Begriff der künstlichen Intelligenz stand zwar spätestens seit dem Jahr 1956 im Raum, wurde ernsthaft aber nur in engen akademischen Kreisen diskutiert. Spätestens seit der Vorstellung des Textgenerators ChatGPT Ende 2022 gewinnen Lems Gedanken wieder an Überzeugungskraft. Siehe auch ChatGPT ↗

Lem's originelle Idee


Die Idee, dass sich der Mensch in der Zivilisation rückentwickeln könnte, sozusagen verdummt, ist seit spätestens dem 19ten Jahrhundert eine wiederkehrendes Motiv in der Literatur. In H. G. Wells berühmtem Roman Die Zeitmaschine (1895) beispielsweise spaltet sich die Menschheit in zwei gegenläufige Entwicklungslinien auf: die Eloi degenerieren in Luxus und Komfort zur völligen Wehrlosigkeit. Die Morlocks hingegen werden gewalttätig und durchsetzungsstark: sie halten die Eloi als Fleischvieh. Wells deutet aber an keiner Stelle an, dass die Abnahme individueller Autonomie und Intelligenz gleichsam Teil der Höhenentwicklung des Kollektivs ist. Lems origineller Gedanke ist es hier, dass die Degeneration des Individuums notwendig oder zumindest förderlich für die Entwicklung der kollektiven Intelligenz des Schwarms ist. Siehe auch Soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Fußnoten