Soziointegrative Degeneration (Soziologie)
Gesellschaft
Grundidee
Obwohl die einzelnen Menschen an Autonomie und Intelligenz verlieren, könnte gerade dadurch mehr kollektiver Intelligenz entstehen: dieses soziologische Paradoxon nannte der polnische Autor Stanislaw Lem soziointegrative Degeneration. Auf dieser Seite hier wird das Konzept kurz skizziert und für eine weitere Beschäftigung damit geworben.
Einführung
Welche Fähigkeiten benötigt ein Radkurier? Ein gutes Navigationsgerät an seinem Lenker sagt ihm in jedem Moment wohin er sich bewegen soll (rechts, links, geradeaus, umdrehen). Über ein Headset steht er im engen Kontakt mit einer Leitstelle. Der Kurier selbst muss nur dann noch angemessen auf eng getaktete äußere Signale reagieren können und das unmittelbare Verkehrsgeschehen um ihn herum beherrschen. Mit Hilfe von einem Übersetzungsprogramm muss er noch nicht einmal mehr die Sprache des Landes können, in dem er arbeitet.
MERKSATZ:
1.0 Der moderne Radkurier muss billig sein, nicht schlau.
1.0 Der moderne Radkurier muss billig sein, nicht schlau.
Das übergeordnete System "Lieferdienst" funktioniert dann umso besser, je billiger der Fahrer ist. Billig kann man sich als Fahrer machen, indem man etwa keine Kosten für unnötige Ausbildungen (Sprachen, Ortskenntnisse, Rechnen, Schreiben, Geschichte, Politik etc.) verursacht. So betrachtet profitiert das Gesamtsystem davon, dass man sich als eines seiner Individuen zurückentwickelt. Dieses sozusagen umgekehrte Verhältnis von individuellen Fähigkeiten und kollektiven Nutzen ist die Kernidee der soziointegrativen Degeneration.
Lems originelle Idee: aus Degeneration wird Intelligenz
Stanislaw Lem war ein polnischer Schriftsteller der vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren schrieb. Scharfsinnige gesllschaftliche Kritik, philosophische Spekulationen und technologische Visionen kleidete er in oft komisch karikutarhafte Science Fiction Geschichten. Die Idee einer soziointegrativen Degeneration siedelte er in einem fiktiven Geschichtsbuch an, dass die militärische Entwicklung von Lems unmittelbarer Zukunft im Rückblick beschreibt. Eine große Tendenzn war, dass Armeen werden immer schlagkräftiger wurden gerade weil Soldaten immer mehr nur zu reinen Befehlsempfänger ohne eigene Intelligenz wurden.
MERKSATZ:
2.0 Militärische Drohnen inspirierten die ursprüngliche Idee von Stanislaw.
2.0 Militärische Drohnen inspirierten die ursprüngliche Idee von Stanislaw.
Dieselbe Entwicklung war bei Kampfflugzeugen zu beobachten. Milliardenteure Einzelflugzeuge wurden durch Schwärme aus vielen insektenhaften Kleinstfluggeräten ersetzt. Und in der Politik wurden immer mehr Entscheidungen von Computern getroffen während Politiker bloß noch Sprachorgane der Rechengehirne waren. Lems origineller Gedanken ist es, im Rückgang individueller Fähigkeiten die Voraussaussetzung für eine Höherentwicklung des Kollektivs zu erkennen. Aus der alten Formel "Die Menschen werden immer dümmer, mit Deutschland/Europa/dem Westen/der Menschheit geht es bergab machte er sinngemäß das Prinzip: "Die Menschen werden immer dümmer und mit der Gesellschaft geht es (gerade deshalb) bergauf". Lies mehr dazu unter soziointegrative Degeneration (Stanislaw Lem) ↗
Ist jede Degeneration auch soziointegrativ?
Nein: bereits 3000 Jahr vor Christus klagten Sumerer über ein ungepflegtes Äußeres der Jugend und ihre fehlende Lernbereitschaft[12]. Oft bezogen sich die Klagen auf die verkommene Moral, oft aber auch auf die Intelligenz: die Menschheit wird immer dümmer. Die Idee, dass die menschlichen Individuen über die Generationen hinweg degenerieren und dabei vor allem Intelligenz und Willensstärke verlieren ist nicht neu. Gründe dafür wurden oft in einer Dekadenz und Verweichlichung gesehen.
MERKSATZ:
3.0 Es gibt auch Degeneration ohne Höherentwicklung des Ganzen.
3.0 Es gibt auch Degeneration ohne Höherentwicklung des Ganzen.
Der Niedergang des römischen Reiches im vierten Jahrhundert nach Christus wurde genauso als Degeneration gedeutet[22], wie auch ein befürchteter Niedergang der Menschheit im 19ten Jahrhundert[23]. Geht aber das Kollektiv zugrunde, weil die Individuen an Fähigkeiten verlieren, liegt genau keine soziointegrative Degeneration im Sinne von Stanislaw Lem vor. Erst wenn individuelle Degeneration in kollektive Intelligenz umschlägt, liegt soziointegrative Degeneration im nach dem Konzept von Stanislaw Lem vor.
Indizien einer Degeneration
Soll ein Kollektiv aus Menschen, etwa ein Staat oder eine Firma, insgesamt leistungsstärker im Allgemeinsten Sinn werden, lassen sich daraus einige hilfreiche Eigenschaften der betriffenden Individuen vorhersagen.
MERKSATZ:
4.0 Es gibt Indizien einer gesellschaften Degeneration über bestimmte Zeiträume hinweg.
4.0 Es gibt Indizien einer gesellschaften Degeneration über bestimmte Zeiträume hinweg.
Verkümmerte Intelligenz[7], erschlaffte Willenskraft[25], engstirnig lokale Interessen[17] und eine verblassende Personalität[26]: das sind Symptome einer Degeneration von Individuen die gleichzeitig einhergehen könnten mit einer Erstarkung des Kollektivs. Diese vier Aspekte werden zunächst kurz im Artikel soziointegrative Degeneration (Indizien) ↗
Der gesellschaftliche Nutzen einer individuellen Degeneration
Wenig IQ und Willenskraft, verengte Interessen oder schwache Personalität gelten nicht als erstrebenswert. Aber diese Phänomene könnten tatsächlich nützlich für die Entstehung einer überindividuellen Intelligenz sein. Die Frage ist dann: unter welchen Umständen könnte eine massenhafte Degeneration von Individuen dazu führen, dass das Kollektiv gerade dadurch stärker wird?
MERKSATZ:
5.0 Die Degeneration der Einzelnen muss dem Kollektiv nutzen.
5.0 Die Degeneration der Einzelnen muss dem Kollektiv nutzen.
Wie kann es sein, dass eine Gruppe von Menschen gerade dann bessere Entscheidungen trifft, wenn der IQ aller Individuen gedeckelt, also nach oben begrenzt ist? Mögliche Antworten sind: Ressourcenschonung, Robustheit, Kontinuität, die Vorteile einer Arbeitsteilung und die zeitliche Fokussierung kollektiver Aufmerksamkeit. Ein weiterer Nutzen einer Degeneration ist es, dass die degenertierten Teile gerade aufgrund ihrer Degeneration nicht aus dem Kollektiv ausbrechen können, also stärker daran gebunden sind.[27] Das ist ausführlicher dargestellt im Artikel soziointegrative Degeneration (Nutzen) ↗
Die ethische Frage nach der eigenen Haltung
Angenommen, menschliche Gesellschaften zeigen tatsächlich Mechanismen einer soziointegrativen Degeneration, wie soll man sich dann dazu stellen? Soll man opportunistisch versuchen, nach einer Gewinnerseite zu suchen, sich dagegen stemmen, nach Möglichkeiten einer Emigration suchen oder sich dem Prozess hingegeben. Verschiedene Möglichkeiten sind kurz besprochen in dem Artikel soziointegrative Degeneration (ethisch) ↗
Zitate zur soziointegrativen Degeneration
- 1896: Zwei normale Menschen in Abhängigkeit vom Kollektiv: "They were two perfectly insignificant and incapable individuals, whose existence is only rendered possible through the high organisation of civilised crowds. Few men realise that their life, the very essence of their character, their capabilities and their audacities, are only the expression of their belief in the safety of their surroundings. The courage, the composure, the confidence; the emotions and principles; every great and every insignificant thought belongs not to the individual but to the crowd: to the crowd that believes blindly in the irresistible force of its institutions and of its morals, in the power of its police and of its opinions."[11]
- 1901: Der Mensch im Vergleich mit Bienenstöcken: "Der Mensch hat das Vermögen, sich den Naturgesetzen nicht zu fügen. Ob es recht oder unrecht ist, von diesem Vermögen Gebrauch zu machen: Das ist der wichtigste, aber auch der unaufgeklärteste Punkt unserer Moral. Inzwischen ist es nicht belanglos, den Willen der Natur in einer anders gearteten Welt zu belauschen, und gerade bei den Honigwespen, die nächst dem Menschen unzweifelhaft die intelligentesten Bewohner dieses Erdballs sind, tritt dieser Wille sehr deutlich zutage. Er trachtet sichtlich nach Veredelung der Art, aber er zeigt auch, dass er diese nur auf Kosten der individuellen Freiheit und des individuellen Glücks erreichen will oder kann."[9]
- 1946: "[...] the tendency of many modern inventions - in particular the film,the radio and the aeroplane - is to weaken his [mans] consciousness, dull his curiosity, and, in general, drive him nearer to the animals."[5]
- 2000: "Alle Menschen sind vom Internetfieber befallen. Das ist der Anfang einer Entwicklung, an deren Ende der verblödete Mensch stehen wird [...] Sie [eine Theorie] vermittelt erstens den Gedanken, daß ähnlich den biologischen Lebewesen auf der Erde die technischen Geräte eine Darwinsche Evolution durchmachen, und zweitens die Überzeugung, daß daraus die Machina sapiens hervorgeht, eine erdumspannende, autonome und geistbegabte Maschine, zu deren Werkzeug die Menschheit zunehmend degeneriert."[3]
- 2016: Couch-Potatoes haben später kleinere Gehirne: We found a direct correlation in our study between poor fitness and brain volume decades later, which indicates accelerated brain aging."[6]
Quaestiones
- Kann man eine individuelle Degeneration trennscharf definieren [?] ↗
- Kann man eine indivduelle Degeneration empirsch messen [?] ↗
- Beispiele wodurch individuelle Degeneration kollektiven Mehrwert erzeugt
Fußnoten
- [1] Stanislaw Lem: Peace on Earth. Originaltitel: Pokój na ziemi (1987). Verlag: Harcourt Brace & Company. 1994. ISBN: 0-15-171554-8. Seite 52.
- [2] Stanislaw Lem: Waffensysteme der Zukunft. Suhrkamp Verlag. Originaltitel: Weapon Systems of the 21st Century or The Upside Down Evolution.Suhrkamp Taschenbuch 998. Erste Auflage 1983. Seite 68.
- [3] Kazem Sadegh-Zadeh: Als der Mensch das Denken verlernte: Die Entstehung der Machina sapiens. Burgverlag, Tecklenburg. 2000. ISBN: 3-922506-99-2
- [4] Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Pantheon Verlag, München, ISBN 978-3-641-10498-6.
- [5] George Orwell: Pleasure Spots (Tribune, January 11th, 1946). In: George Orwell. Essays. Everyman Library. 242. Herausgegeben von Alfred A. Knopf. 2002. ISBN: 978-1-85715-242-5. Seite 989.
- [6] Nicole L. Spartano, Jayandra J. Himali, Alexa S. Beiser, Gregory D. Lewis,Charles DeCarli, Ramachandran S. Vasan and Sudha Seshadri. Midlife exercise blood pressure, heart rate, and fitness relate to brain volume 2 decades later. Neurology, 2016 DOI: 10.1212/WNL.0000000000002415
- [7] Edward Dutton, Dimitri van der Linden, Richard Lynn: The negative Flynn Effect: A systematic literature review. In: Intelligence 59, 2016, S. 163–169, doi:10.1016/j.intell.2016.10.002.
- [8] Eugène Nielen Marais: Die Seele der weissen Ameise. (übersetzt von Margarete von der Groeben nach der engl. Übers. von Winifred de Kok. Originaltitel: Die siel van die mier.) Ullstein, Frankfurt/M., Berlin 1987. ISBN 3-548-34374-0
- [9] Maurice Maeterlinck: Das Leben der Bienen. Aus dem Französischen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Mit einem Essay über Maeterlinck und die Bienen von Gerhardt Roth. Unionsverlag, Zürich 2011, 256 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-293-00427-X
- [10] Hubert Oesterle. Maschinelle Intelligenz – Evolution oder Lebensqualität. Informatik Spektrum. 44. 1-9. 10.1007/s00287-021-01382-8. 2021.
- [11] Joseph Conrad: An Outpost of Progress. 1896.
- [12] Keller, Gustav: Das Klagelied vom schlechten Schüler. Eine aufschlussreiche Geschichte der Schulprobleme.
- [13] Theodor Fontane: Briefe an seine Familie. Das Zitat stammt wahrscheinlich aus der Zeit um 1883.
- [14] Philip T. Hoffman: Wie Europa die Welt eroberte. Theiss, Konrad; 1. Edition. 336 Seiten. ISBN: 978-3806234763.
- [15] Friedrich von Bernhardi: Deutschland und der nächste Krieg. Cotta, Stuttgart 1912.
- [16] George Orwell: Such, Such were the Joys. 1947.
- [17] Dass sich die meisten Angehörigen der deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg nur für ihr "soziales Nahfeld" interessierten ist einer der zentralen Befunde in: Sönke Neitzel, Harald Welzer: Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben (Die Zeit des Nationalsozialismus). Fischer Taschenbuch. 528 Seiten. ISBN: 978-3596188734.
- [18] [1] Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Ersterscheinung bei Benno Schwabe & Co. in Basel. 1935. Seite 130. Siehe auch Ludwik Fleck ↗
- [19] William H. Whyte: The Organization Man. First published by Simon & Schuster in 1956.
- [20] Eva Johach: Wilde Soziologie. Soziale Insekten und die Phantasmen moderner Vergesellschaftung. Fink Verlag. 2020. ISBN: ISBN: 978-3-7705-6522-1. Seite 378, 431f.
- [21] Nick Bostrom: The Future of Humanity. In: J.-K. B. Olsen, S. A. Pedersen & V. F. Hendricks (Eds.), Companion to philosophy of technology, pp. 551-558. Wiley-Blackwell. 2010. Wissenschaftliche Veröffentlichung.
- [22] Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 1776 bis 1789. (Dekadenz wird als ein Grund für den Niedergang Roms beschrieben.)
- [23] Bénédict Augustin Morel: Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces varitétés maladives. Paris 1857.
- [24] Günter Anders: Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen. Novalis, Schaffhausen 1990.
- [25] Eine Einstieg in psychologische Konzepte von Willensstärke gibt: Bucciol, A., Houser, D. & Piovesan, M. Willpower in children and adults: a survey of results and economic implications. Int Rev Econ 57, 259–267 (2010). https://doi.org/10.1007/s12232-010-0103-8
- [26] Schweppenhäuser, G. (2018). Die Selfiekultur der Social Media: Pseudo-Individualität und die Ambivalenz des Konzepts »Identität« im Zeitalter der »sozialen Netzwerke«. In: Revisionen des Realismus. Abhandlungen zur Philosophie. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04628-4_9
- [27] Mehrere Schritte einer Degenation, auch für soziale Prozesse betrachtet der Neurowissenschaftler und Anthropologe Terry Deacon (1950). Er beschreibt zunächst sehr abstrakt einen Prozess, bei dem Überfluss (redundancy) dazu führt, dass funktionale Einheiten dupliziert werden. Dabei werden die Duplikate einem verminderten Druck reinigender selektiver Kräfte ausgesetzt (relaxes purifying selection). Das wiederum ermöglicht die Ausbildung degenerativer Veränderungen (degenerative changes to accumulate in one or more of the duplicates). Zufällige Kombinationen verschiedener degenerierter Einheiten können zu erhöhter Fitness dieser Kombinationen degenerIERTer Teil führen. Das wiederum führt zu Transititionen hin zu höheren Ebenen der Synergie (transition to a synergistic higher order). Gleichzeitig verhindert die Degeneration ein Aufbrechen der neuen Kombination, da jedes Teil für sich alleine keine sinnvolle Funktion mehr hat. Der Autor sieht solche Prozesse auf vielen Ebenen, von der Genetik hin zu sozialen Organisationen (at many levels, from genetics to social organization). In: Deacon TW. A degenerative process underlying hierarchic transitions in evolution. Biosystems. 2022 Dec;222:104770. doi: 10.1016/j.biosystems.2022.104770. Epub 2022 Sep 6. PMID: 36075549.