Local Brain
Super-Wesen
Basiswissen
Seitdem im Jahr 1983 das Wort Global Brain[1] im Sinne eines weltumspannenden Gehirns aus Menschen und Maschinen erstmals so genannt wurde, entstand eine breite Literatur zu diesem Thema. Verwunderlich ist dabei, dass diese Art hybrides Gehirn meist als ein globales Gebilde betrachtet wurde und nicht etwa auf einer regionalen (Staaten, Regionen) oder sogar ganz lokaler Eben (Unternehmen) betrachtet wurde. Das ist hier kurz erörtert.
Global: das weltweite Gehirn
Das Internet, Kommunikations- und Logistik-Technologie verschmelzen mit der Sphäre menschliche Aktivität zu einer hybriden Technosphäre. Das Phänomen umspannt die gesamte Welt und führt zur Entstehung eines bewussten neuen Wesens mit einem globalen, weltweiten Gehirn, dem Global Brain.
1.0 Das Global Brain ist eine gehirnartige Struktur, die die gesamte Oberfläche der Erde umspannt.
Naturwissenschaftliche inspirierte Vorgedanken reichen zurück bis in die 1960er Jahre[2], doch erst 1983 prägte der Engländer Peter Russell den Begriff des Global Brain. Verschiedene Autoren entwickelten unter Namen wie MONON, Metaman, Kybiont, Machina sapiens oder Gaia Visionen eines weltweiten Systems, das Anzeichen eines individuellen Lebewesens zeigen sollte. Dass aber lokale oder regionale Kräfte sich einer solchen Globalsierung vielleicht widersetzen könnten, wurde von den weitgehend nicht betrachtet. Siehe dazu unter Global Brain ↗
Regional: Staaten als Wesen
Vor allem im 19ten und frühen 20ten Jahrhundert entstand eine breite Literatur zu Staaten als Lebewesen[3]. Die Motivation war oft politisch, ethisch oder juristisch. Vergleiche zwischen der Industrie und dem Nahrungsapparat, dem Geldwesen und den Kreislaufsystemen des Körpers, dem politischen Regulativsystemen und motorischen Nervensystemen, der Legislativen und einem bestimmten Teil des menschlichen Gehirns (Cerbrum)[4] waren gängig, wurden aber nie im Sinne einer empirisch überprüfbaren Theorie weiter ausgearbeitet.
2.0 Die Idee vom Staat als Lebewesen reicht geschichtlich weit zurück.
Nun ließen sich die Spekulationen über ein globales Gehirns mühelos auch auf die Idee regionaler, eng mit Staaten verbundener Gehirne übertragen. Warum sollte eine erwachende Internet-Intelligenz, die global funktioniert, nicht auch für einzelne Länder oder Regionen funktionieren? Dass sich das Internet zunehmend in staatlich kontrollierte Teilbereiche aufteilen könnte, zeigt unter anderem die zunehmende Ausbildung digitaler Grenzen[8], etwa durch Russland[9] oder China[10].
3.0 Statt eines Global Brain könnten auch mehrere großräumige Regional Brains entstehen.
Lokal I: Städte als Wesen
Ähnlich wie Unternehmen könnten auch gegeneinander abgegrenzte Städte als Einzwelwesen entstehen[7]. Voraussetzung dafür scheint eine ausreichend starke Trennung der Kommunikationsstrukturen zu sein. Das allerdings zeichnet sich zur Zeit nicht ab. Städte sind eher eng untereinander verflochten und können eher als zellenartige Strukturen übergeordneter Strukturen (Staaten?) betrachtet werden.
4.0 Moderne Städte als Träger eines Local Brain sind zur Zeit wenig wahrscheinlich.
Dass Städte zu Trägern eines Local Brain werden, würde einen Zusammenbruch staatlicher Kontrolle voraussetzen. Geschichtlich ist das wenig plausibel. Wenn Staaten zerfallen, bilden sich auf deren Territorien entweder kleinere Territorialmächte oberhalb der Größe von Städten[11] oder konkurrierende Gruppen von Menschen, etwa in Form von Banden, Milizen oder religiösen Gruppen. Eine bemerkenswerte Vision hin zu konkurrierenden Städten liefert ein Science Fiction-Roman über "Mortal Engines", mobile Städte, die in einer postapokalyptischen Welt auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen[12].
Lokal II: Unternehmen als Wesen
Seltsamerweise gab es schon früh die Idee globaler Organismen sowie von Staaten als Lebewesen, nicht aber von Unternehmen oder größeren Organisationen. Nimmt man die innere Komplexität als ausschlaggebendes Kriterium, so könnten einige moderne Großunternehmen (z. B. Airbus Industries) weitaus komplexer und elektro-kommunikativ aktiver sein als viele Staaten (z. B. Tadschikistan). Ein starkes Argument dafür, dass Unternehmen eher als Staaten oder die Welt als Ganzes sich in eine ähnliche Richtung entwickeln könnten wie biologische Wesen ist die Evolvierbarkeit: Unternehmen bilden oft Populationen mit einer großen Anzahl von Individuen (gut 3 Millionen in Deutschland im Jahr 2020[5]), die sich im Wirtschaftsgeschehen einem ständigen Evolutionsdruck ausgesetzt sehen.
5.0 Unternehmen zeigen viele Analogien zu evolvierenden Organismen.
Ein weiteres Argument für Unternehmen als Wesen ist ihre gegenseitige Abgrenzung. Sie bilden eine Art kontrollierbarer Membran gegenüber anderen Unternehmen aus, und zwar in Form von Firewalls, internem Controlling, Spionageschutz (Immunsystem), Patentrechten, einem selektiven Personalwesen und so fort.
6.0 Unternehmen zeigen Vorstufen neuronaler Intelligenz.
Darüberhinaus zeigt die Verarbeitung von Information innerhalb größerer Unternemen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Vorgängen in künstlichen neuronalen Netzen und den Strukturen in biologischen neuronalen Netzen. Beispiele zur neuronalen Intelligenz von Unternehmen werden betrachtet im Artikel neuronale Organisation ↗
Fußnoten
- [1] Russell, P. (1983). The Global Brain: speculations on the evolutionary leap to planetary consciousness. Los Angeles: JP Tarcher. Siehe auch Global Brain ↗
- [2] James Lovelock: Gaia as seen through the atmosphere. In: Atmospheric Environment. 6 (8): 579–580. doi:10.1016/0004-6981(72)90076-5. Siehe auch Gaia ↗
- [3] Raymond G. Gettell: History of Political Thought. George Allen & Unwin Ltd. London. Erstausgabe: 1924. Hier speziell das Kapitel: The State as an Organism. Siehe auch organische Theorie ↗
- [4] Herbert Spencer: The social organism. In: Spencer H (ed.) Essays, 1901, vol. 1 (London: Williams and Norgate), 265–307 (first published in the Westminster Review, January 1860).
- [5] J. Rudnicka: Anzahl der steuerpflichtigen Unternehmen über 22 Tausend Euro steuerpflichter Einnahmen in Deutschland bis 2020. Veröffentlicht am 07.03.2022 auf: www.statista.com
- [6] Hans Hass: Energon. Das verborgene Gemeinsame. Fritz Molden (Verlag). 1970. Siehe auch Energon ↗
- [7] Wolf Singer: Die Architektur des Gehirns als Modell für komplexe Stadtstrukturen? In: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 2002.
- [8] Zur Ausbilddung digitaler Grenzen von Staaten, siehe zum Beispiel: Chenchen Zhang & Carwyn Morris (2023) Borders, bordering and sovereignty in digital space, Territory, Politics, Governance, 11:6, 1051-1058, DOI: 10.1080/21622671.2023.2216737
- [9] Eine detaillierte Beschreibung der digitalen Grenzziehung und Kontrolle des Internets im russischen Sprachraum findet sich in: Sudhanshu Kumar (2024) DIGITAL BORDERS: RUSSIA’S APPROACH TO RUNET REGULATION, EDPACS, 69:3, 29-39, DOI: 10.1080/07366981.2024.2327152
- [10] Lars Willnat, Lu Wei, Jason A. Martin: Politics and social media in China. In: Routledge Handbook of Chinese MediaPublisher. 2015. Online: https://www.researchgate.net/publication/307477017_Politics_and_social_media_in_China
- [11] Jugoslawien zerfiel nicht in viele Städte sondern einige neue Länder. Auch in Failed States wie Somalia oder dem Irak verlaufen die Grenzen konkurrierender Mächte nicht entlang von Städten.
- [12] In einer post-apokalyptischen Welt gibt es fahrende Städte, die sich in einer Art "Städtedarwinismus" gegenseitig bekrieben und um die schwindenden Rohstoffe kämpfen. Für den Gedanken einer Metasystem-Transition interessant ist der darwinistische Rahmen und die scharfe Abgrenzbarkeit der Städe untereinander. In: Philip Reeve: Mortal Engines - Krieg der Städte. Fischer Verlag. 336 Seiten. 2018. ISBN: 978-3596702121.