Evolutionäre Transitionen
Evolutionssprünge
Basiswissen
Von kleinen Molekülen über die RNA, DNA, eukaryotische Zellen bis hin zu mehrzelligen Organismen und Gesellschaften (Sozietäten)[11]: der englische Evolutionsbiologe John Maynard Smith und der ungarische Chemiker Eörs Szathmáry[1] betrachteten verschiedene solche Übergänge, in der Fachsprache Transitionen genannt, ein Konzept das später auch von anderen Autoren übernommen wurde[8]. Maynard Smith und Szatmary arbeiteten grundlegende Voraussetzungen für diese Übergänge heraus. Ihre Befunde stellten sie in dem Buch „The Major Transitions in Evolution“ zusammen. Das Konzept wurde unter anderem auf kulturelle und wirtschaftliche Prozesse übertragen.[13]
Die 8 evolutionären Transitionen
John Maynard Smith definierte insgesamt acht verschiedene evolutionäre Transitionen, die bisher auf der Erde stattgefunden haben[1, Seite 6]:
- 1. Von sich replizierenden Molekülen zu Molekülen in Kompartimenten
- 2. Von unabhängigen Replikatoren zu Chromosomen
- 3. Von der RNA als Gen und Enzym zur DNA mit Proteinen (genetischer Code)
- 4. Von Prokaryoten zu Eukaryoten
- 5. Von asexuellen Klonen zu „sexuellen Populationen“
- 6. Von Protisten zu Tieren, Pflanzen und Pilzen (Zelldifferenzierung)
- 7. Von solitären Individuen zu Kolonien (mit nicht-reproduktiver Kaste)
- 8. Von Primaten Gesellschaften zur menschlichen Gesellschaft (Sprache)
Eine typische Darstellung evolutionärer Transitionen, man beachte die scheinbar gesetzesmäßige Zunahme von Komplexität.
Ähnlich: Carsten Breschs Begriff der Integration
Der Molekulargenetiker Carsten Bresch benutzt in seiner Betrachtung der Evolution in ähnlicher Bedeutung das Wort „Integration“, fasst dieser aber enger. Während die evolutionären Transitionen auch Entwicklungssprünge ohne Verbindung von Individuen zu einem neuen Überindividuum beinhalten (zum Beispiel Schritt 4), geht es bei den Integrationen von Bresch immer um den Zusammenschluss ehemals eigenständiger Wesen hin zu einen neuen Überwesen. Zu Breschs evolutionärer Theorie siehe auch den Artikel Monon ↗
Ähnlich: die Idee der Metabiontogenese
Eine Anfang 2023 durchgeführte Recherche nach einem prägnanten Begriff, der spezifisch eng nur die Verbindung von ehemals eigenständigen Lebewesen zu einem neuen Lebewesen auf höherer Komplexitätsstufe bezeichnet, lieferte keine Ergebnisse. Die evolutionären Transitionen umfassen auch andere Entwicklungssprünge. Und Breschs Begriff der Integration trifft zwar genau die gewünschte Bedeutung, ist aber als Wort zu unspezfisch. Von einer Integration spricht man in vielen sehr unterschiedlichen Kontexten, mit Teils deutlich abweichender Bedeutung. Auf diesen Seiten hier wird im Rahmen einer spekulativen Philosophie das Wort Metabiontogenese verwendet. Siehe mehr dazu unter Metabiontogenese ↗
Evolutionäre Transitionen in Kultur und Wirtschaft
Der Soziologe Peter Kappelhoff (geboren 1944) betrachtete kulturelle und wirtschaftliche Prozesse aus Sicht eines universellen Darwinismus.[13]. Beispielhafte und "bedeutende evolutionäre Übergänge" sah Kappelhoff in[14]:
- "Tribale Selektion von primordialen Gruppenmoralen: die Jäger-und-Sammler-Horde als Selektionseinheit"
- "Gruppenmoral als Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht als Resultat eines menschlichen Entwurfs"
- "Auch die Marktordnung entstand ungeplant durch Wettbewerb zwischen Wirtschaftsordnungen (Hayek)."
Kapellhoff geht davon aus, dass "Verhaltenssteuernde Information [...] nicht mehr nur genetisch in Form der DNA codiert" wird, "sondern auch symbolisch in Form von Memen." Und in "Wirtschaftsunternehmen", "Bildungsorganisationen und Medienagenturen" sieht Kappelhoff "Gebilde eigener Art mit einer eigenen, im Vergleich zu den individuellen Akteuren erweiterten Handlungsfähigkeit, die ihre eigenen Ziele verfolgen und der Kontrolle ihrer Schöpfer weitgehend entglitten sind".[13] Zur Deutung der Vorgänge schlägt Kappelhoff das Konzept "bedeutsamer evolutionärer Übergänge"[13] vor. Denn nur so könne die "soziobiologische Emergenz neuer Organisationsformen und das Erreichen neuer Ebenen der sozialen Integration mit der damit verbundenen Dynamik von erweiterter Handlungsfähigkeit und der Eroberung und Gestaltung einer neuen ökologischen Nische einerseits und dem damit notwendig einhergehenden Autonomieverlust der konstituierenden Einheiten andererseits in einer auch allgemein sozialtheoretisch relevanten Form in den Blick genommen werden".[13] Siehe auch Evolutionsökonomik ↗
Die Drake-Gleichung
Das Konzept evolutionärer Transitionen lässt es plausibel erscheinen, dass ein evolutiver Prozess, der einmal begonnen hat, eine Tendenz zur Ausbildung ständig höherer Stufen der Komplexität hat. Wenn man nun davon ausgeht, dass es alleine in unserer Galaxie einige Milliarden erdähnlicher Planeten gibt, dann liegt der Gedanke nahe, dass es viele Planeten mit höher entwickeltem, komplexen Leben geben sollte. Die verstörende Frage ist, warum wir dann aber davon im Weltraum keine Anzeichen erkennen. Siehe mehr zu diesem Gedanken im Artikel zur Drake-Gleichung ↗
Fußnoten
- [1] John Maynard Smith, Eörs Szathmáry: The Major Transitions in Evolution. Oxford University Press, New York 1995, ISBN 0-19-850294-X.
- [2] Fortschritt und Richtung in der Evolution? In: Schöpfung und Evolution – zwischen Sein und Design. Neuer Streit um die Evolutionstheorie (pp.89–112). Herausgegeben von: Böhlau. Editiert von: Ulrich H. Körtner & Marianne Popp. 2007.
- [3] Calcott, B., and Sterelny, K: The Major Transitions in Evolution Revisited. Cambridge, MA: MIT Press. 2011. doi: 10.7551/mitpress/9780262015240.001.0001
- [4] Kennedy, P., Uller, T., and Helanterä, H.: Are ant supercolonies crucibles of a new major transition in evolution? J. Evol. Biol. 27, 1784–1796. 2014. doi: 10.1111/jeb.12434
- [5] Carsten Bresch: Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel? Piper, München 1977. ISBN 3-492-02270-7.
- [6] Jagers op Akkerhuis: Evolution and Transitions in Complexity: The Science of Hierarchical Organization in Nature. Springer. 2018. ISBN: 978-3319829142.
- [7] Gillings, Michael R;Hilbert, Martin;Kemp, Darrell J: Information in the Biosphere: Biological and Digital Worlds. In: Trends in Ecology and Evolution. Volume 31, Issue 3, Pages 180-189, March 2016. DOI: 10.1016/j.tree.2015.12.013. Die Autoren gehen in ihren Schlussbemerkungen (concluding remarks) von der Entstehung eines globalen Superorganismus, eines Digitalen Organismus: "We argue that we are already in the midst of a major evolutionary transition that merges technology, biology, and society". Online: https://escholarship.org/uc/item/38f4b791
- [8] Bourke, A. F. G. (2011). Principles of Social Evolution. Oxford, UK: Oxford University Press: Genes group together in cells, cells group together in organisms, and organisms group together in societies. Even different species form mutualistic partnerships. In the history of life, previously independent units have formed groups that, in time, have come to resemble individuals in their own right. Biologists term such events the major transitions. The process common to them all is social evolution. Each occurs only if natural selection favours one unit joining with another in a new kind of group." DO: 10.1093/acprof:oso/9780199231157.001.0001
- [9] Dass die Menschheit an der Schwelle einer evolutionären Transition vermuten ist Gegenstand eines wissenschaftlichen Artikel aus dem Jahr 2023: "Human societies are no doubt complex. They are characterized by division of labour, multiple hierarchies, intricate communication networks and transport systems. These phenomena and others have led scholars to propose that human society may be, or may become, a new hierarchical level that may dominate the individual humans within it, similar to the relations between an organism and its cells, or an ant colony and its members." Menschliche Gesellschaften durchlaufen möglicherweise gerade eine evolutionäre Transition bezüglich ihrer Individualität (ETI, evolutionary transition in individuality): "If humans have undergone or are undergoing an ETI, it may be social and/or cultural and/or technological, with or without complementary changes in human biology. Any study of such a human transition should build on a deep understanding of evolutionary transitions. " Yohay Carmel, Ayelet Shavit, Ehud Lamm and Eörs SzathmáryHuman socio-cultural evolution in light of evolutionary transitions: introduction to the theme issue. In: Philosophical Transactions of the Royal Society B. 23 January 2023. DOI: https://doi.org/10.1098/rstb.2021.0397
- [10] Einen direkten Vergleich zwischen der Evolution der Kugelalge Volvox und steinzeitlichen menschlichen Gesellschaften machen: Davison Dinah R. and Michod Richard E. : Steps to individuality in biology and culturePhil. Trans. R. Soc. B3782021040720210407. Veröffentlicht im Jahr 2023. DOI: http://doi.org/10.1098/rstb.2021.0407
- [11] Zur Wiederholung der Transitionen auf stets höheren Stufen von Komplexität: "replicating molecules evolved into genomes and simple cells, groups of prokaryotic (bacteria and archaea) cells evolved into eukaryotic cells, groups of unicellular organisms evolved into multicellular organisms and groups of multicellular organisms evolved into eusocial insect societies." In: Davison Dinah R. and Michod Richard E. : Steps to individuality in biology and culturePhil. Trans. R. Soc. B3782021040720210407. Veröffentlicht im Jahr 2023. DOI: http://doi.org/10.1098/rstb.2021.0407
- [12] Dass die Menschen eine spezielle Form der Intelligenz entwickelt haben, die über die rein assoziative Intelligenz von Tieren hinausgeht ist der Kerngedanke eines gemeinsam verfassten Buches von Magnus Enquist, Stefano Ghirlanda, und Johan Lind: The Human Evolutionary Transition: From Animal Intelligence to Culture. Princeton University Press. 2023. 296 Seiten. ISBN: 978-0691240770
- [13] In Anwendung auf Organisation der Wirtschaft und Kultur spricht der Wirtschaftswissenschaftler Peter Kappelhoff auch von "bedeutsamen evolutionärer Übergängen". In: Peter Kappelhoff: Selektionsmodi der Organisationsgesellschaft: Gruppenselektion und Memselektion. In: Duschek, S., Gaitanides, M., Matiaske, W., Ortmann, G. (eds) Organisationen regeln. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2012. Online: https://doi.org/10.1007/978-3-531-94050-2_7
- [14] Peter Kappelhoff: Organisationsgesellschaft: Zur Evolution von Verhaltenssystemen. Vorlesungsskript vom Oktober 2010. Schumpeter School of Business and Economics. Bergische Universität Wuppertal. Dort die Folie 13.
- [15] Etwa 17 Prozent der Sterne in unserer Galaxy haben einen in etwa erdgroßen Planeten in ihrer Nähe: "We find that 16.5 +/- 3.6 % of main-sequence FGK stars have at least one planet between 0.8 and 1.25 Earth radii with orbital periods up to 85 days." FGK stars sind In: Francois Fressin: The False positive Rate of Kepler and the occurence of planets. The Astrophysical Journal. American Astronomical Society. Volume 766. 2013. Siehe mehr zur Abschätzung intelligenter Lebensformen in unserer Galaxie im Artikel zur Drake-Gleichung ↗