Der Eindimensionale Mensch
Didaktik
© 2016
- 2025
Basiswissen|
Inhalt des Buches|
Eindimensionales Lernen|
Mathematik|
Physik|
Was könnte eine zweite Dimension ausmachen?|
Eindimensionalität aus evolutionär-soziobiologischer Sicht|
Das Internet als Katalysator?|
Blog|
27. Juli 2025: Smartphone|
Fußnoten
Basiswissen
Der Soziologie Herbert Marcuse (1898 bis 1979) beschreibt ein Paradoxon: die moderne Industriegesellschaft wird immer leistungsfähiger und schafft eigentlich die technische Voraussetzung für utopische Gesellschaftsformen. Tatsächlich leben in ihr aber fort: Funktionalisierung der Individuen und Kampf als Tagesgeschäft. Das Eindimensionale ist das Denken in Operationen, Handlungsabfolgen und Anweisungen. Es fehlt die zweite Dimension von philosophischer Wahrheit, inneren Welten, Privatheit.
Inhalt des Buches
Herbert Marcuses Buch erschien erstmals 1964 in den USA. Marcuse konstatiert darin die Zementierung einer zunehmend technokratischen und sich selbst als alternativlos empfindenen Denkweise. Das techno- und bürokratische Machertum bietet für alle Bedürfnisse rationale Handlungfolgen an, zumeist in Form von Konsumakten. Wer sich etwa niedergeschlagen und antriebslos fühlt, setzt sich nicht tiefer mit möglichen seelischen oder gesellschaftlichen Ursachen auseinander. Diese Auseinandersetzung wird durch die Handlung "zum Psychiater gehen" oder "Antidepressiva kaufen" ersetzt. Marcuse beschreibt, wie die Bedeutung von Begriffen zunehmend als Handlungsabfolgen operationalisiert wird. So könnte man auf die Definition des schwierigen Wortes "Schuld" verzichten und sagen: Schuld liegt vor, wenn ein Gericht sie festgestellt hat. Dadurch ist eine sinntragende Definition des Begriffes ersetzt worden durch die Handlung "Gerichtsverfahren". Marcuse übte mit diesem Buch einen starken Einfluss auf die deutsche Studentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre aus. Siehe auch Konsumismus ↗
Eindimensional bezeichnet Marcuse das Denken insofern, als seine einzige Dimension die offensichtlicher Fakten und Handlungen ist. Die zweite, verlorene Dimension ist die Welt des begrifflich schwer fassbaren, der berechtigten Widersprüche und des schwer fassbaren. Eine philosophische und erkenntnistheoretische Position, die Marcuse selbst immer wieder als verkürzt und eindimensional charakterisiert ist der Positivismus ↗
Eindimensionales Lernen
Die folgenden Beispiele stammen nicht von Marcuse selbst, sie treffen aber im Kern wahrscheinlich genau das, was Marcuse als eindimensionales, nämlich rein funktionales, rein positivistisches Denken bezeichnete.
Mathematik
Der Mathematiker Paul Lockhart, geboren 1956, hat in einem kleinen Buch von 2009 auf 140 Seiten sehr detailliert beschrieben, wie er in der klassischen Schulmathematik nichts als das mechanische Antrainieren von Regeln und Sätze sieht. Dabei haben die Schüler keine Chance, den tieferen Sinn, die wahre Bedeutung dessen, was Mathematik ausmacht zu erkennen. Die zweite Dimension, die nach Lockhart völlig ausgeblendet bleibt, ist das Erkunden abstrakter Struktur, das spielerische Ausprobieren eigener Ideen, die Einsicht in das historische Wachsen der Mathematik und eine Kenntnis der aktuellen Forschungsgebiete. Mathematik verkümmere so zu einem blutlosen Pauken von Rechenschritten.
Typisch für das eindimensionale Denken im Sinne von Marcuse ist, dass Bedeutung durch Handlung, durch bürokratisch verwaltbare Einzelschritte "operationalisiert" wird. Diese Sicht Marcuses passt erschreckend gut, auf eine typische Art von Antwort, die auf Fragen nach Bedeutung erhalte.
ZITAT:
Frage: "Was ist Steigung in der Mathematik" Antwort: "Die Steigung einer Geraden ist Y2 minus Y1 durch X2 minus X1."
Frage: "Was ist Steigung in der Mathematik" Antwort: "Die Steigung einer Geraden ist Y2 minus Y1 durch X2 minus X1."
Diese Art von Antwort, nämlich Bedeutung und Sinn durch Handlungsabfolgen zu ersetzen ist typisch für die Mehrzahl der Mathematik-Schüler, die ich seit 2005 unterricht. Die reiche Welt mathematischer Ideen wird reduziert auf die eine Dimension ausführbarer Rechenschritte.
Physik
Dass die Idee der Materie in der Physik eigentlich eine wichtige Rolle spielen sollte, leuchtet den meisten Menschen mehr oder minder ein. Wenn irgendwann nach der Grundschule der Physik-Unterricht beginnt, geht es oft erst einmal um die vielen faszinierenden Eigenschaften von Materie. Sie dehnt sich bei Erwärmung oft aus, kann manchmal Strom leiten, manchmal nicht. Sie erfordert Kraft, will man ihre Bewegung verändern und sie kann in Wasser oder Luft - je nach Dichte - auf- oder auch absteigen.
Gleichzeitig spielt der Begriff der Materie auch in philosophischen Betrachtungen ein wichtige Rolle. In der Philosophie gibt es das sogenannte Geist-Materie-Problem: wie kann es sein, dass in menschlichen Köpfen aus scheinbar toter Materie plötzlich ein Bewusstsein oder Geist entsteht? Wie könnte der Geist auf die Materie einwirken, um sie nach seinen Bedürfnissen zu formen? Und woraus überhaupt besteht Materie? Ein Physik sagte einmal, dass Materie nicht aus Materie besteht.[9]
Man könnte nun meinen, dass Schulbücher der Physik das spannende Theme der Materie, mit all ihren philosophischen Bezügen, aufgreifen. Kinder mit verschiedensten Interessen könnten so den Bezug zur Physik erkennen. Doch tatsächlich fand sich in einer Reihe von sehr verbreiteten Physik-Büchern das Wort Materie noch nicht einmal im Register.[10][11][12][13][14][15] Stattdessen wurden die rein physikalisch messbaren Aspekte der Materie unter dem leicht operationalisierbaren Wort Masse abgehandelt. Durch diese Nichterwähnung wurde stillschweigend eine zweite Dimension der Physik, nämlich die Frage nach dem Wesen der Dinge, wirksam "abgeriegelt".
Was könnte eine zweite Dimension ausmachen?
Hier bleibt Marcuse wortkarg. Die verlorende Dimension beinhaltet Unklares, Widersprüchliches. Marcuse bringt dazu in seinem Buch aber kaum Beispiele. Hier stehen einige Vorschläge, was eine zweite Dimension im Sinne Marcuses enthalten könnte:
- Religiöse Ahnungen, tiefere Gefühlskomplexe numinos ↗
- Nachhaltige Gesellschaften ohne Konkurrurenz Solarpunk ↗
- Hineingehen in tiefere Widersprüche Zeilingers Kant-Forderung ↗
Eindimensionalität aus evolutionär-soziobiologischer Sicht
Marcuses Buch ist weitgehend beschreibend. Es wird etwa kein Bezug hergestellt zu anderen soziologischen Theorien, der Soziobiologie oder dem Darwinismus. Gleichwohl könnte ein Blick von einer biologistisch gedachten Evolution Erklärungsansätze für Marcuses paradoxe Befunde liefern: die Menschen befinden sich gerade in einem Prozess der Verschmelzung zu einem Überwesen oder einer Überorganisation auf einer nächsthöheren Komplexititästheorie, ähnlich dem Verschmelzen von Zellen zu einem mehrzelligen Organismus [Global Brain, Gaia etc.]. Der damit einhergehende Verlust persönlicher Autonomie und zweckfreier, bedingungsloser Fürsorge wird typischerweise von Autoren[4][5] beschrieben, die Lebensformen im Übergangsstadium von einer lockeren Gesellschaft hin zu einem stark intergrierten neuen Über-Wesen beschreiben. Ein Zeitgenosse Marcuses, der polnische Autor Stanislaw Lem prägte dafür den Begriff soziointegrative Degeneration ↗
Das Internet als Katalysator?
Auf der Erde entsteht ein lebendes Überwesen aus Maschinen und Menschen, die Machina sapiens. Der Mensch innerhalb dieser Globalmaschine ist nur ein funktionales Bauteil, dessen Wohl nicht im Vordergrund steht. Das Internet beschleunigt diese Entwicklung hin zu einem letztendlich verdummten Mensch. Diese düstere Sicht legte der Autor Kazem Sadegh-Zadeh eindringlich in seinem Buch über die Entstehung der Machina sapiens[6] dar. Dabei bezieht sich Zadeh ausdrücklich auch auf den Eindimensionalen Menschen von Herbert Marcuse. Ein verbindender Gedanke beider Autoren ist, dass sich der technische Apparat über repressive Wünsche (Marcuse) unseres Lusthaushaltes (Sadegh-Zadeh, Seite 104) bemächtigt. Siehe auch Machina sapiens ↗
Blog
27. Juli 2025: Smartphone
Auf der Nordseeinsel Wangerooge gehen ohne Handy, das heißt ohne Smartphone, immer mehr Türen zu. Alternativ kann man für manche Dingen noch einen Computer benutzen. Aber für einige Dienstleistungen ist das Smartphone die Eintrittskarte.
- Der öffentliche Waschsalon kann nur noch mit Handy benutzt werden.
- Eine Photo-Box, wo man von sich Urlaubsphotos mit direktem Ausdruck machen lassen kann, lässt sich nur über Handy nutzen.
- Einen Flug nach Helgoland mit den "Inselfliegern", kann man nur buchen, wenn man - für alle Fälle - eine Handynummer angibt. Hier ließ man am Buchungsschalter auch nicht durchgehen, dass ich vorab bezahle.
- Die Banken auf der Insel wären, so die Aussage eine Lokalpolitikers, immer weniger bereit, Dienstleistungen rund um Münzgeld für die Einzelhänder anzubieten. Dort lauert der Zwang zum bargeldlosen Bezahlen.
- Da ich selbst gar kein Handy mehr besitze, kann ich von der Insel weder auf Festland telefonieren noch angerurfen werden. Es gibt seit vielleicht drei Jahren kein öffentlich nutzbares Telefon mehr auf der Insel.
- Früher übliche Aushänge, etwa die Wettervorhersage am Gebäude der Kurverwaltung, verschwinden sang und klanglos.
- Vor einem Jahr wollte ich einen Kochtopf auf der Insel kaufen. Die einzige Möglichkeit wäre eine Bestellung über Internet mit Auslieferung über einen Lieferdienst gewesen.
Ich sprach dann einen Politiker im Wahlkampf um das Bürgermeisteramt (Wahl am 17. August 2025) auf einem Stand in der Haupteinkaufsstraße der Insel auf das Thema an. Sofort und umfassend schilderte er dann die Tendenz der zunehmenden Digitalisierung. Seit den 1990er Jahren begleite und beoachte er als Verwaltungsprofi, wie Computer immer mehr Einzug in alle Bereiche hielten. Das wurde dann mit Anekdoten weiter ausgemalt. Das Eindimensionale an dieser Art der Antwort war, dass der Kandidat auf das Amt des Bürgermeisters nur einen vermeintlich ablaufenden Prozess weiter ausmalte. Hier glaubte ich den klassischen Positivismus im Sinne Marcuses zu erkennen, dass man nämlich das Gegebene, das scheinbar oder real Faktische einfach an- und hinnimt. Eine weitere, zweite Dimension, nämlich die der alternativen Möglichkeiten, konnte ich in das Gespräch nicht einbringen: gezielt frug ich den Kandidaten, ob er die Entwicklung denn gut fände und ob nicht Alternativen denkbar wären. Und wieder blieb die Antwort ganz dabei zu beschreiben, was gerade abläuft. Ähnlich verlief ein Gespräch in der Kurverwaltung. Auch dort sprach ich das Thema an und die Antwort der Frau am Schalter war wieder von derselben ab: "ja, alles wird digitaler, alles geht immer mehr nur noch per Handy." Es wurde wieder nur bestätigt, was ich ja beklagt hatte.
Fußnoten
- [1] Herbert Marcuse: One-Dimensional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society. Beacon Press, Boston 1964.
- [2] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übersetzt von Alfred Schmidt. Luchterhand, Neuwied 1967, 4. Aufl. Deutscher Taschenbuchverlag, dtv wissenschaft, München 2004. ISBN 3-423-34084-3.
- [3] Herbert Marcuse: Feindanalysen. Über die Deutschen. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Einleitung von Detlev Claussen. In: Herbert Marcuse: Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften. Hrsg. Peter-Erwin Jansen. 6 Bände. Dietrich zu Klampen, Lüneburg 1999–2009. ISBN 978-3-924245-86-3.
- [4] La vie des abeilles (1901), deutsch: Das Leben der Bienen. Unionsverlag. 3. Auflage als Taschenbuch. ISBN: 978-3-293-20813-1 Das Leben der Bienen ↗
- [5] Eugène N. Marais: The Soul of the White Ant. Zuerst verfasst auf Afrikaans unter dem Titel: Die Siel van die Mier. Im Jahr 1937 ins Englische übersetzt von Winifred de Kok. Londoner Ausgabe von 1971 vom Verlag Jonathan Cape and Anthony Blond. ISBN: 0 224 61871 7 The Soul of the White Ant ↗
- [6] Kazem Sadegh-Zadeh: Als der Mensch das Denken verlernte: Die Entstehung der Machina sapiens. Burgverlag, Tecklenburg. 2000. ISBN: 3-922506-99-2. Siehe auch Machina sapiens ↗
- [7] Wie Marcuse im Jahr 1964 so betonte auch der Psychologe Stefan Ruf im Jahr 2019 einen inneren Widerspruch, einen "Doppelaspekt" unserer modernen Gesellschaft. Über die "kapitalistische Konsumkultur" schrieb er: "Auf der einen Seite wurde das Schema des Erlebens der Moderne noch verstärkt durch Konsum und Konkurrenzdruck. Auf der anderen Seite wurde es aber auch abgemildert durch soziale Errungenschaften und einen Würdebegriff, der mit seinen politischen und sozialen Folgen zumindest für viele Menschen der westlichen Welt Segnungen gebracht hat, die wir nicht vermissen wollen." In: Stefan Ruf: Klimapsychologie. Atmosphärisches Bewusstsein als Weg aus der Krise. Info3 Verlag. 2019. ISBN: 978-3-95779-109-2. Dort die Seite 104.
- [8] Was Eindimensionalität im Sinne der Mathematik bedeuten könnte, beschreibt sehr engagiert und detailliert der amerikanische Mathematiker Paul Lockhart in: A Mathematician's Lament. Bellevue Literary Press. 2009. 140 Seiten. ISBN: 978-1-934137-17-8.
- [9] Die philosophisch spannende Frage, was denn Materie überhaupt sei, brachte der Physik David Bohm (1917 bis 1992) prägnant auf den Punkt: „Materie ist nicht aus Materie gemacht. Die Idee, dass die Welt aus festen, kleinen Teilchen besteht, ist eine Illusion.“ Quelle: Bohm, D., Wholeness and the Implicate Order,
- [10] 1980.Richard T. Weidner; Robert Sells: Elementare moderne Physik. Verlag Friedrich Vieweg & Sohn, Ausgabe von 1982. ISBN: 3-528-8415-4. Siehe auch Materie ↗
- [11] 1982: Nicht erwähnt im Register wird das Wort Materie in: Richard T. Weidner; Robert Sells: Elementare moderne Physik. Verlag Friedrich Vieweg & Sohn, Ausgabe von 1982. ISBN: 3-528-8415-4.
- Nicht erwähnt im Register wird das Wort Materie in: Oskar Höfling: Physik. Lehrbuch für Unterricht und Selbststudium. Fünfzehnte Auflage. 1994. ISBN: 3-427-41045-5.
- [12] 2001: Nicht erklärt: zwar findet sich das Wort Materie im Register des Lehrbuches für die Mittelstufe. Aber auf der entsprechenden Seite wird lediglich ausgesagt, dass elektrische Ladung an Materie gebunden ist. Was Materie sein soll, wird nicht besprochen. In: Dorn·Bader. Physik SEK I. Gymnasium. Schroedel Verlag. 2001. ISBN: 3-507-86262-X. Dort auf Seite 178.
- [13] 2007: Nicht erwähnt im Register wird das Wort Materie in: David Halliday, Robert Resnick, Jearl Walker: Halliday. Physik. Englischer Originaltitel: Fundamentals of Physics. Wiley-VCH Weinheim. 2007. ISBN: 978-3-527-40746-0. Es scheint, als sei in dem Lehrbuch das Wort Masse an die Stelle der Materie getreten. Die Masse wird dann als eine "intrinsische, jedem Körper innewohnene Eigenschaft", und zwar ist "die Masse eines Körpers jene Eigenschaft [] ist, welche die auf den Körper ausgeübte Kraft mit der daraus restultierenden Beschleunigung verknüpft." [Seite 77]
- [14] 2022: Nicht erwähnt im Register wird das Wort Materie in: Metzler Physik. 5. Auflage. 592 Seiten. Westermann Verlag. 2022. ISBN: 978-3-14-100100-6.
- [15] 2023: Nicht erwähnt im Register wird das Wort Materie in: Dorn.Bader. Physik SII Gesamtband Gymnasium. Westermann Bildungsmedien. Braunschweig. 2023. ISBN: 978-3-14-152376-8.