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Das Banner der Rhetos-Website: zwei griechische Denker betrachten ein physikalisches Universum um sie herum.

Scala Naturae

Ideengeschichtlich

Definition


Von der niedersten Pflanze über Tiere, Menschen, Engel bis hin zu Gott: in der Naturphilosophie herrschte über Jahrtausende die Vorstellung, dass die Dinge der Natur in eine natürliche Rangfolge gebracht werden können. Dabei ging man von einer einmal erzeugten und dann kaum mehr veränderlichen Welt aus, in der alles seinen Platz habe. Moderne Vorstellungen hingegen gehen von einer ständig wandelbaren Welt aus, die Stufenleiter ist ersetzt durch die Stufenfolge, die Vorstellung von einer Entwicklung von niederer hin zu höherer Komplexität.

Der Ausgangspunkt: die Idee des Vollkommenen


Antike Denker wie der griechische Philosoph Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) gingen davon aus, dass es etwas Absolutes, etwas immateriell Ewiges[3] von nichts bewegtes und nicht weiter Teilbares[4] gibt. Dieses "oberste Wesen" sei der Grund aller weiteren Dingen, die von ihm abhingen[5]. In der späteren Theologie des Christentums setzte man dieses oberste Wesen, den Urgrund allen Seins gleich mit Gott.


Dieses Bild ist für das Verständnis des Textes nicht wichtig. Das Bild wird im Text nicht erwähnt.
Unten die Hölle, oben Gott und dazwischen die verschiedenen Geschöpfe der irdischen und himmlischen Welt. Alles in diesem Weltbild hatte einen festen Platz, eingeteilt nach seiner Nähe zum Höchsten.

Diese Vorstellung eines ersten und obersten Wesens oder Seins vertrug sich gut mit der christlichen Vorstellung von Gott als dem höchsten Wesen und dem erste Grund allen Seins.[7] Eine Darstellung der Scala natura aus der Zeit um 1305 zeigt von unten nach oben angeordnet und auf Latein bezeichnet: Minerale, niedere dann höhere Pflanzen, Tiere, den Menschen, Engel und ganz oben Gott (Deus).

Kurios: Bewegungsarten in der Scala naturae


Es käme keinem heutigen Physiker in den Sinn zu fragen, welche Bewegung vollkommeer sei, die in einer geraden Linie oder eine Kreisbewegung. Moderne Physik können vielleicht fragen, welche Bewegungsart besser auf dieses oder jene Modell oder auf die Ergebnisse von Versuchen passt. Aber Bewegungsarten nach einem Grad ihrer Vollkommenheit zu untersuchen, ist dem modernen naturwissenschaftlichen Denken fern. Das gilt aber nicht für die Denker der Antike.

Wenn man mit dem Vollkommenen Eigenschaften verbindet wie Dauerhaftigkeit oder Ungeteiltheit, dann macht die Frage nach der Vollkommenheit plötzlich Sinn. Man kann dann nämlich fragen, ob eine geradlinie Bewegung von ewiger Dauer sein kann und ob sie aus Teilbewegungen bestehen oder eine Ganzheit bildet. Aristoteles kam mit solchen Überlegungen zu dem Schluss, dass die Kreisbewegung die am meisten vollkommene Art aller Bewegungen überhaupt sei.[6] So lassen sich sogar physikalische Vorgänge in eine Scala naturae einordnen. Speziell zur Bewegung in einem Kreis siehe auch den Artikel zur Kreisbewegung ↗

Die irdische und die himmlische Ordnung


Eng verwandt mit der Erde mehr oder minder vollkommener Ordnungen oder eine Nähe hin zum Vollkommene ist die mittelalterliche Unterteilung des Kosmos in zwei Bereiche mit unterschiedlichen Naturgesetzen. In der Welt unterhalb des Mondes, der sublunaren Welt, ist die Erde, der Bereich des Irdischen. Dort unterliegt alles einer ständigen Vergänglichkeit. Das betrifft die dort lebenden Wesen wie auch etwa verschiedene Arten von Bewegungen. Anders sieht es in der translunaren Welt oberhalb der Umlaufbahn des Mondes aus. Dort gelten andere physikalische Gesetze, was unter anderem die Bewegung der Gestirne in ihrer angenommenen Perfektion betrifft. Auch dieser Gedanke wurde bereits in der Antike, etwa von Cicero, formuliert.[8] Dass es sowohl für die „himmlischen Sphären“ sowie auch den Bereich des Irdischen eine gemeinsame Physik, überall geltende Naturgesetze geben könnte, war einer der revolutionären Gedanken von Isaac Newton.[9]

Vom statischen zum evolutionären Kosmos


Wenn uns die mittelalterlichen und neuzeitlichen Darstellungen einer Scala natura heute noch so vertraut erscheinen, so hat das vielleicht einen Grund darin, dass sie in überraschend ähnlicher Form auch zur Illustration einer biologischen oder kosmischen Evolution erscheinen.


Dieses Bild ist für das Verständnis des Textes nicht wichtig. Das Bild wird im Text nicht erwähnt.
Als Orthogenese[15] oder Orthoevolution bezeichnet man die Entwicklung von Arten von niederen hin zu höheren Entwicklungsstufen. In diesem Bild hat sich die Idee einer Rangfolge der Scala naturae in Form einer zeitlichen Höhenerentwicklung erhalten.

Die Idee, dass dem Kosmos seit seiner Entstehung oder Schöpfung eine Tendenz innewohnt, immer komplexere oder immer höherwertige Gebilde hervorzubringen, möglicherweise mit etwas wie dem Menschen als eingeborenes Ziel, bezeichnet man in der Naturphilosophie als anthropisches Prinzip.[10] Die Nähe zum antiken und mittelalterlichen Denken ist unverkennbar: war noch im Mittelalter die Ordnung der Welt eine fest gefügte, eine statische, so stellte man sich die Welt später als etwas in Entwicklung vor. Aber beiden Weltbildern gemeinsam ist es, dass es etwas Höheres, etwas Vollkommeneres geben soll. In dem meisten solchen Deutungen findet sich der Mensch dabei auf einer höheren Stufe wieder als etwa eine Maus. Der Gedanke einer so gerichteten Evolution wird weiter entwickelt im Artikel zur ogenannten > Orthogenese

Wissenschaft ohne Werte: das Gebot der Objektivität


In der antiken und der mittelalterlich-christlich geprägten Philosophie suchte man nach einer Weltanschauung, in der das Gute, das Vollkommene, das Sittliche, das Glück der Menschen, das Absolute, das Perfekte, das Göttliche und das Ewigliche als wesentlicher Teil der Erklärung enthalten sind. Dieser Anspruch ist der modernen Naturwissenschaft verloren gegangen.

Im christlichen Weltbild wurde der Mensch erschaffen weil ein vollkommener Gott es so wollte. Aus der Sicht des Darwinismus ist der Mensch nur das Ergebnis einer Abfolge zufälliger Ereignisse. Es gibt ihn nur, weil er gut an seine Umwelt angepasst ist. Der ehemals wertgeleite Schöpfergott wird damit zur bloßen Metapher eines blinden Uhrmachers.[11]

Die modernen Naturwissenschaften schalten bewusst alles aus ihren Theorien aus, das nicht durch objektive Experimente oder Beobachtungen empirisch überprüft werden kann.[12] Nur von jedermann zu jeder Zeit wiederholbare Messungen können als Kritrium für wahr oder falsch der Naturwissenschaften dienen. Unsere inneren mentalen Zustände aber lassen sich nicht objektiv messen. Es gibt kein zuverlässiges Messverfahren dafür, ob jemand gerade nostalgischen Gedanken nachhängt, für wie wertvoll ein Mensch gerade einen Apfel oder die Demokratie hält. Solche geistigen Realitäten, und damit auch jedes Denken in Werten, liegen außerhalb der Fassbarkeit physikalischer Methoden. Was die Naturwissenschaften ausblenden (müssen) ist jede Art von Subjektivität ↗

Das Ausschalten des Subjektiven, und damit auch jeder Wertung, kann man als Verlust empfinden. Die moderne Naturwissenschaft bietet kein Experiment und keine Theorie an, um bei der Frage zu helfen, wie wertvoll man selbst als Mensch ist. Keine Biologie oder Psychologie hilft bei der Entscheidung, ob das glückliche Leben eines Schweines einen höheren Wert haben soll als die Befriedigung des Wunsches modernen Konsumenten nach billigen Schweinekoteletts. Hat ein menschlicher Embryo ohne ausgebildete Sinnesorgane einen höhere Wert als ein Zellklumpen in einer Petrischale? Es gibt keine Scala naturae, die man mit den Methoden der Naturwissenschaften begründen könnte. Das ist der Preis für eine der wesentlichen Stärken der modernen Naturwissenschaften, ihre Forderung einer strengen Objektivität ↗

Die Scala naturae - eine persönliche Einschätzung


Ich möchte diesen Artikel hier mit einer persönlichen, subjektiven Einschätzung abschließen. In mir gibt es einen starken Wunsch, Teil einer „guten Geschichte“ zu sein. Ich möchte nicht nur für meine Lebenszeit etwas Wohlstand, Freunde und Gesundheit genießen. Irgendetwas in mir wünscht sich da mehr. Was das genau sein soll, kann ich nicht sagen. Aber dieser unklare Drang, die Ahnung von etwas noch nicht Greifbaren, ist eng mit Werten verbunden. Ich kann sagen, dass mir Frieden wertvoller erscheint als Krieg, Freundschaft wertvoller als Streit, Gemeinschaft wertvoller als Einsamkeit. Doch die Physik schweigt dazu. Das empfinde ich als einen Mangel.

Die Frage, die mich umtreibt, und die auch Teil der Motivation zu diesem Lexikon hier ist, lautet: kann man die Physik als seriöse Naturwissenschaft zusammen führen mit einem wertstiftenden Denken? Gibt es eine ganzheitliche Sicht auf das gesamte Sein, das gerade auch unsere subjektiven Bedürfnisse nach Werten ernst nimmt und die Physik mit einschließt?[14] Mich fasziniert die Idee, dass die Physik nur eine Art Bühne bereitstellt, die den Spielern, den lebenden Wesen einen Ort für Gemeinsamkeit gibt. Was aber dann auf der Bühne gespielt wird oder werden soll, ist Sache der Schauspieler. Siehe mehr zu diesem spekulativen Gedanken im Artikel kollaborative Physik ↗

Fußnoten