Evolvierbarkeit
Biologie
Definition
Evolvierbarkeit heißt, dass ein System nach den Regeln einer mehr oder minder darwinistischen Evolution[1] sich entwickeln kann. Die Evolvierbarkeit ist damit ähnlich aber nicht dasselbe wie Anpassungsfähigkeit. Das ist hier kurz vorgestellt.
Evolvierbarkeit und Anpassungsfähigkeit
Evolvierbarkeit ist ein Sonderfall von Anpassungsfähigkeit. Wenn ein Mensch bei längerem Aufenthalt in dünner Luft, etwa im Gebirge, vermehrt rote Blutkörperchen ausbildet, dann spricht man von einer direkten Anpassung[8], die ganz ohne Mechanismen der Evolution auskommt. Hier liegt eine Anpassung aber keine Evolution im darwinschen Sinn vor. Wenn aber Menschen über Jahrtausende hinweg in kalten Regionen wohnen und dann nach der Bergmannschen Regel einen gedrungeneren Körperbau entwickeln, dann spricht man von indirekter Anpassung. Über viele Generationen wirkten dann Variablität (Vielfalt) und Selektion (Auslese). Diese indirekte Anpassung über Generationen hinweg bezeichnet man in Biologie heute als Adaptation[8] oder kurz auch Adaption ↗
Evolvierbarkeit von Lebewesen nach Charles Darwin
Drei Mechanismen, so Charles Darwin, genügen, dass eine Evolution stattfindet. In einer deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1860 heißt es: "Es ist anziehend, eine dicht bewachsene Uferstrecke zu betrachten, bedeckt mit blühenden Pflanzen vielerlei Art, mit singenden Vögeln in den Büschen, mit schwärmenden Insecten in der Luft, mit kriechenden Würmern im feuchten Boden, und sich dabei zu überlegen, dass alle diese künstlich gebauten Lebensformen, so abweichend unter sich und in einer so complicierten Weise von einander abhängig, durch Gesetze hervorgebracht sind, welche noch fort und fort um uns wirken. Diese Gesetze, im weitesten Sinne genommen, heissen: Wachsthum mit Fortpflanzung; Vererbung, fast in der Fortpflanzung mit inbegriffen, Variabilität in Folge der indirecten und directen Wirkungen äusserer Lebensbedingungen und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs; rasche Vermehrung in einem zum Kampfe um's Dasein und als Folge dessen zu natürlicher Zuchtwahl führenden Grade, welche letztere wiederum die Divergenz des Characters und das Erlöschen minder vervollkommneter Formen bedingt. So geht aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Thiere.[1, Seite 494]" Siehe auch Darwinismus ↗
Evolvierbarkeit von Systemen verallgemeinert
Schon kurz nach dem Erscheinen von Darwins Theorie im Jahr 1859 wurde das Prinzip der biologischen Evolution von Lebewesen auf andere Objekte übertragen. 1874 spekulierte Karl Freiherr du Prel über eine darwinsche Evolution im Kosmos[6]. Auf das menschliche Zusammenleben übertragen wurde der Darwinismus vor allem in Deutschland[9] und Frankreich[10]. Später wurde das Konzept auch etwa auf künstlich geschaffene Software erweitert (genetische Algorithmen)[11], zumindest als Metapher auch auf Unternehmen[12], auf hypothetische globale Überorganismen[2] und letztendlich auch auf scheinbar tote Strukturen wie Kristalle oder Atmosphärische Systeme[3]. Was früher Lebewesen genannt wurde, wird in solch stark abstrahieren Sichten zum Beispiel ein komplexes adaptives System ↗
Heißt Evolvierbarkeit auch Höherentwicklung?
Vom Atom über Moleküle, Zelle, Organismen hin zu Gesellschaften: blickt man über große Zeiträume hinweg auf die Evolution auf der Erdoberfläche drängt sich der Eindruck auf, dass die Evolution im Großen und Ganzen zu immer komplizierteren[13] oder höher entwickelten Organismen führt. Man glaubt eine "stufenmäßige Entwicklung der organischen Natur[14]" der Natur zu erkennen, deren Effekt einige wenige Gegenbeispiele[15] leicht aufwiegt. Das wirft die interessante Frage auf, ob diese Richtung hin zu komplexeren Lebensformen oder Strukturen bereits in der Beschaffenheit der Welt mit angelegt ist, oder ob sie vielleicht Ausdruck einer den Prozess in eine bestimmte Richtung ziehenden Kraft ist. Siehe mehr dazu im Artikel Höherentwicklung ↗
Notwendige Bedingungen für evoluierende System
- Eine Mindestanzahl von Individuen[16], eine ausreichend große Population ↗
- Eine genetische Kodierung von Erbinformation, z. B. als DNA ↗
- Genetische Variation, die Erbinformation ist eine Replikator ↗
- Eine von außen wirkende Auslese, eine Selektion ↗
Fußnoten
- [1] Charles Darwin: Über die ENTSTEHUNG DER ARTEN im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Nach der zweiten Auflage mit einer geschichtlichen Vorrede und andern Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. H. G. Bronn. Stuttgart. E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung und Druckerei. 1860. Englische Erstausgabe 1859.
- [2] Howard Bloom: The Global Brain: The Evolution of Mass Mind from the Big Bang to the 21st Century. Wiley, 2000, ISBN 978-0-471-29584-6; deutsch: Global Brain: die Evolution sozialer Intelligenz. Aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Florian Rötzer. DVA, 1999, ISBN 978-3-421-05304-6. Siehe auch Howard Bloom ↗
- [3] Dass auch Sterne, Minerale oder Atmosphären Evolvierbarkeit zeigen wird diskutiert in: Michael L. Wong, Carol E. Cleland, Daniel Arend Jr., Robert M. Hazen: On the roles of function and selection in evolving systems: "A pervasive wonder of the natural world is the evolution of varied systems, including stars, minerals, atmospheres, and life. These evolving systems appear to be conceptually equivalent in that they display three notable attributes: 1) They form from numerous components that have the potential to adopt combinatorially vast numbers of different configurations; 2) processes exist that generate numerous different configurations; and 3) configurations are preferentially selected based on function. We identify universal concepts of selection—static persistence, dynamic persistence, and novelty generation—that underpin function and drive systems to evolve through the exchange of information between the environment and the system. " In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS). 2023. 120 (43) e2310223120. Online: https://doi.org/10.1073/pnas.2310223120
- [4] N. Colegrave, S. Collins: Experimental evolution: experimental evolution and evolvability. Heredity. 100 (5): 464–70. 2008. DOI: doi:10.1038/sj.hdy.6801095. PMID 18212804.
- [5] M. Kirschner, J. Gerhart: Evolvability". Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. 95 (15)., 1998: 8420–7. Bibcode: 1998PNAS...95.8420K. doi:10.1073/pnas.95.15.8420. PMC 33871. PMID 9671692.
- [6] Karl Freiherr von Prel: Der Kampf ums Dasein am Himmel: Die Darwin'sche Formel nachgewiesen in der Mechanik der Sternenwelt von Karl Freiherr du Prel. 1874. 110 Seiten. Siehe auch Der Kampf ums Dasein am Himmel ↗
- [7] A. Wagner: Robustness and Evolvability in Living Systems. (Princeton Studies in Complexity). Princeton University Press, 2005, ISBN 0-691-12240-7.
- [8] 1904, biologisch, aber nicht nur darwinistisch: "Anpassung (Adaption, Adaptation): 1) Organische, biotische = die Gestaltung der Organe und Functionen eines Lebewesens entsprechend den Lebensbedingungen, dem biologischen Milieu. Die Anpassung ist das Resultat des Zusammenwirkens von Organismus (und dessen Trieben und Willensacten) + Milieu. Überwiegen die Einflüsse des letzteren, spricht man von passiver, kommt mehr das eigene Sich-anpassen des Organismus in Frage, von activer Anpassung. Die Anpassung ist eine directe, wenn unmittelbar, eine indirecte, wenn durch Selection (s. d.) erfolgend." In: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 40-41. http://www.zeno.org/nid/20001780026
- [9] Wilhelm Schallmayer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. 1903. Siehe auch Sozialdarwinismus ↗
- [10] René Worms: Les principes biologiques de l’evolution sociale. V. Giard et E. Brière, Paris 1910.
- [11] Volker Nissen: Evolutionäre Algorithmen. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden 1994, ISBN 3-8244-0217-3, S. 27, Abb. 3.4, DOI: 0.1007/978-3-322-83430-0.
- [12] Neilson, G.L. & Pasternack, B.A. (2006): Erfolgsfaktor Unternehmens-DNA: Die vier Bausteine für effektive Organisationen, Frankfurt am Main. Siehe auch Unternehmens-DNA ↗
- [13] Evolution als Höherentwicklung: "Evolution: Entwicklung von niederen, einfacheren zu höheren, complicierteren, vollkommener angepaßten Seins- und Lebensformen." In: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 319-325. Onine: http://www.zeno.org/nid/20001787640
- [14] Evolution als Fortschritt: "Evolution (franz. evolution) heißt Entwicklung. Fortschritt. Hauptsächlich versteht man darunter die stufenmäßige Entwicklung der organischen Natur. (Siehe Darwinismus). Herbert Spencer (1820-1904) hat das Evolutionsgesetz zum leitenden Grundgedanken seines gesamten philosophischen Systems gemacht." In: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 196-197. Online: http://www.zeno.org/nid/20003582159
- [15] Regressive Evolution. In: Spektrum Lexikon der Biologie. Dezember 2022. Online: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/regressive-evolution/56042
- [16] Evolution braucht Population: wenn die Evolution eine Mindestanzahl von Individuen innerhalb einer Population benötigt, dann folgt bei begrenzten Ressourcen daraus, dass die evolutionäre Strategie einer Art nicht zwangsläufig die Vergrößerung einzelner Individuen sein kann, sondern eine Vermehrung. In der Biologie scheint dies die einzige Strategie von Lebewesen zu sein: es gibt keine Art, deren Individuen über das Wachstum ihrer individuellen Körper konkurrieren sondern letztendlich immer über die Anzahl ihrer reproduzierenden Nachkommen. Seltsamerweise wurde diese Prinzip bisher nicht auf das Wirtschaftsleben übertragen. Einzelne Unternehmen haben als Ziel meist ein individuelles Wachstum und nicht, ihre eigene Reproduktion. Eine interessante ökonomische Zwischenstufe könnten hier Kettenunternehmen sein. Siehe dazu auch Evolvierbarkeit ↗
- [17] Deacon T. (2006) Reciprocal Linkage Between Self-organizing Processes is Sufficient for Self-reproduction and Evolvability. Biological Theory 1(2): 136-149.