Verwandtenselektion
Biologie
Basiswissen
Je enger verwandt zwei Individuen sind, desto eher verhalten sie sich selbstlos zueinander. Diese häufige - aber nicht immer zutreffende - Beobachtung wird von manchen Biologen Evolutionsgenetisch erklärt. Das ist hier kurz vorgestellt.
Allgemeines Fallbeispiel
Ein Kind bricht beim Schlittschluhlaufen im Eis auf einem See ein und droht zu ertrinken. Der Onkel des Kindes eilt herbei und begibt sich zur Rettung seines Neffen selbst in Lebensgefahr. Wenn jemand für sich selbst einen Nachteil in Kauf nimmt, nur um einer anderen Person zu helfen, spricht man von Selbstlosigkeit oder als Fachwort in der Biologie von Altruismus ↗
Das Problem in der Biologie
Angenommen es gibt ein Gen, das seinen Träger zu häufigem altruistischen Verhalten veranlasst. Jemand mit diesem Gen würde ständig anderen Menschen helfen, ohne selbst davon einen Nutzen zu haben. Der Nutzen in der Evolutionsbiologie wird oft in der Chance auf überlebensfähige Nachkommen gemessen. Selbstlosigkeit oder Altruismus hier würde dann heißen: jemand verringert seine Fähigkeit, überlebensfähige Nachkommen zu erzeugen und erhöht dadurch gleichzeitig die Fähigkeit anderer Personen zu mehr überlebensfähigen Nachkommen. In einem ersten Gedankengang würde man schließen, dass solche Gene mit der Zeit recht schnell aussterben müssten, da sie sich ja mit einer nur sehr geringen Wahrscheinlichkeit gegenüber "egoistischen" Genen anderer Personen verbreiten würden. Tatsächlich aber beobachtet man selbstlos-altruistisches Verhalten bei vielen Menschen seit Jahrtausenden. Kannn dieser Widerspruch aufgelöst werden, ohne dass man das Modelldenken konkurrierender Gene aufgibt, also im Sinne von Ockham's Rasiermesser keine neuen Prämissen einführt?
Ein Lösungsansatz: Verwandentselelektion
Ein Gen zur Anstiftung zu altruistischem Verhalten kann in mehreren Personen auftreten. Es liegt nahe, dass eng miteinander verwandete Personen mehr gleiche Gene teilen als kaum miteinander verwandte Personen. Stiftet ein Gen seinen Träger also dazu an, einem engen Verwandten zu helfen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das gleichartige Gen sich über den Verwandeten stärker verbreitet als ohne die Hilfe. Über einen längeren Zeitraum betrachtet würde das dazu führen, dass sich dieses Gen für Altruismus im Genpool einer Population verbreitet.
Mathematische Fassung
Mathematisch modellehaft wurde der Zusammenhang von William D. Hamilton und John Maynard Smith[1] formuliert und in seinen Folgen untersucht: B/C > 1/r. Ausgesprochen soll das heißt: immer wenn das Verhältnis von Fremdnutzen zu Eigennachteil größer ist als der Kehrwert des Verwandtschaftskoeffizienten, dann wird sich ein altruistisches Gen im Genpool verbeiten, also von der Anzahl her zunehmen. Für eine Liste von r-Werten, siehe unter Verwandtschaftskoeffizienten ↗
Fußnoten
- [1] John Maynard Smith, Eörs Szathmáry: The Major Transitions in Evolution. Oxford University Press, New York 1995, ISBN 0-19-850294-X. Seite 259 ff.
- [3] Richard Dawkins: 1976: Das egoistische Gen. Spektrum, Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin/Oxford, 1994. Originaltitel: The Selfish Gene. ISBN 3-86025-213-5. Hier das Kapitel 7. Familienplanung. Seite 185 ff. Siehe auch Das egoistische Gen ↗