Sozialdarwinismus
Soziologie
Basiswissen
Menschliches Verhalten kann - und soll - darwinistisch gedeutet werden: Der Darwinismus als naturwissenschaftliche Theorie deutet Körper- und Verhaltensformen als Ausdruck eines biologischen Kampfes um begrenzte Ressourcen. Der Sozialdarwinismus überträgt diese Sicht auf menschliche Gesellschaften[13].
Charakterisierung
Der Darwinismus im engeren Sinn ist eine naturwissenschaftliche Theorie. Er soll die Vielfalt biologischer Arten sowohl im Pflanzen als auch im Tierreich erklären. Die Vielfalt kommt kommt einerseits durch ungerichtete Variationen bei der Erzeugung von Nachkommen und andererseits eine gerichtete Auswahl der "fittesten" Individuen zustande. Fit meint hier zunächst nur so viel wie "passend". Die wissenschaftliche Theorie wurde bald nach ihrer Veröffentlichung auf menschliche Umstände übertragen[1]: So wie der Löwe die Gazelle jagt, so jagen starke Nationen schwache. Als Sozialdarwinismus wurde damit aber menschliches Verhalten nicht nur beschrieben. Es kam ein fordernder Unterton hinzu: Der Kampf um Ressourcen sei keine leidige Angelegenheit die es zu überwinden gilt. Vielmehr wurde der Kampf zum gesunden und kraftspendenden Lebensprinzip erhoben[3][4]. Aus der Theorie wurde eine Ideologie. Der Sozialdarwinismus war im späten 19ten und frühen 20ten eng verbunden mit marktliberalen Wirtschaftstheorien einerseits und nationalistischen Strömungen andererseits (Pflicht zum Krieg). Ein beispielhafter, sozialdarwinistischer Originaltext aus dem Jahr 1913 seht im Artikel Deutschland und der nächste Krieg ↗
Wie sieht man den Sozialdarwinismus im 21ten Jahrhundert?
Der Sozialdarwinismus ist als öffentlich ausgesprochenes Leitbild nationaler Politik spätestens mit Ende des Zweiten Weltkriegs verschwunden. Seit den 1960er Jahren aber wurden aus der Biologie und der Systemtheorie Ansätze entwickelt, die soziale und vor allem ökonomische Entwicklung von Gesellschaften im weitesten Sinne biologistisch zu deuten. In der sogenannten Evolutionsökonomik werden Unternehmen als Selektionseinheiten in einem darwinistischen Geschehen gedeudet. Das geistige Klima ist jedoch ein völlig anderes als jenes der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts. Der wesentliche Unterschied kann durch das Begriffspaar Weltanschauung und Weltbild charakterisiert werden. Während der Sozialdarwinismus bis 1945 vor allem eine Weltanschauung mit Werteanspruch war, sind die sozialdarwinistisch gefärbten Betrachtungen des frühen 21ten Jahrhunderts[14][15] beschreibend und abwägend.
Fußnoten
- [1] Otto Ammon: Die natürliche Auslese beim Menschen. 1893.
- [2] Otto Ammon: Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. 2. A. 1896.
- [3] Claus Wagner: Der Krieg als schaffendes Weltprinzip. 1906.
- [4] Friedrich von Bernhardi: Deutschland und der nächste Krieg. Verlag J. G. Cotta, 1913. 345 Seiten.
- [5] Bourke, A. F. G. (2011). Principles of Social Evolution. Oxford, UK: Oxford University Press: ". Genes group together in cells, cells group together in organisms, and organisms group together in societies. Even different species form mutualistic partnerships. In the history of life, previously independent units have formed groups that, in time, have come to resemble individuals in their own right. Biologists term such events the major transitions. The process common to them all is social evolution. Each occurs only if natural selection favours one unit joining with another in a new kind of group." DO: 10.1093/acprof:oso/9780199231157.001.0001
- [6] Uwe Hoßfeld: Haeckelrezeption Im Spannungsfeld von Monismus, Sozialdarwinismus Und Nationalsozialismus. In: History and Philosophy of the Life Sciences, vol. 21, no. 2, 1999, pp. 195–213.
- [7] Avraham Barkai: Sozialdarwinismus und Antiliberalismus in Hitlers Wirtschaftskonzept. Zu Henry A. Turner Jr. ‘Hitlers Einstellung Zu Wirtschaft Und Gesellschaft Vor 1933.’” Geschichte Und Gesellschaft 3, no. 3 (1977): 406–17.
- [8] René Worms: Les principes biologiques de l’evolution sociale. V. Giard et E. Brière, Paris 1910.
- [9] Wilhelm Schallmayer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. 1903.
- [10] Wilhelm Schallmayer: Beiträge zur Nationalbiologie. 1905.
- [11] Wilhelm Schallmayer: Der Krieg als Züchter. In: Arch. f. Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 1908.
- [12] Wilhelm Schallmayer: Eugenik. In: Zeitschr. f. Sozialwissensch., 1908.
- [13] Einen sehr guten historischen Abriss des Sozialdarwinismus bis in die frühen 1930er Jahre gibt: Uwe Puschner: Sozialdarwinismus als wissenschaftliches Konzept und politisches Programm. Aus dem Buch Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970). DOI: https://doi.org/10.1515/9783110446784-007
- [14] Zur Aktualität biologistischer Erklärungen sozialen Wandels siehe: Stephan S. W. Müller: Theorien sozialer Evolution. Zur Plausibilität darwinistischer Erklärungen sozialen Wandels. In der Reihe Sozialtheorie. transcript Verlag. 2010. 292 Seiten. ISBN: 978-3-8376-1342-1.
- [15] In Anwendung auf Organisation der Wirtschaft und Kultur spricht der Wirtschaftswissenschaftler Peter Kappelhoff auch von "bedeutsamen evolutionärer Übergängen". Kappellhoff geht davon aus, dass "Verhaltenssteuernde Information [...] nicht mehr nur genetisch in Form der DNA codiert" wird, "sondern auch symbolisch in Form von Memen." Gleichwohl möchte Kappellhoff sein Konzept des Mems soll aber keine "Analogiebehauptung zur genetischen Evolution implizieren" In: Peter Kappelhoff: Selektionsmodi der Organisationsgesellschaft: Gruppenselektion und Memselektion. In: Duschek, S., Gaitanides, M., Matiaske, W., Ortmann, G. (eds) Organisationen regeln. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2012. Online: https://doi.org/10.1007/978-3-531-94050-2_7