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Vorhersagbarkeit

Physik

Basiswissen


In den Naturwissenschaften gilt eine Theorie dann als brauchbar, wenn man mit ihr Versuchsergebnisse[1] oder Naturbeobachtungen[5] vorhersagen kann. Das ideale Ziel ist dann erreicht, wenn man eine (mathematische) Funktion gefunden hat, die jedem Zustand eindeutig einen Zustand zu einem späteren Zeitpunkt zuordnen kann. Der Gedanke hat weitreichende philosophische Folgen und ist nicht ohne Probleme.

Das Fadenpendel als einführender Versuch


Man bastele sich ein sehr einfaches Fadenpendel: an das Ende eines etwa 10 bis 100 Zentimeter langen Fadens befestige man ein einigermaßen kleines und schweres Gewicht. Feste Knete oder eine schwere Schraube sind dafür zum Beispiel ideal. Dann halte man den Faden mit dem Gewicht nach unten in einer Hand. Wie viele Zentimeter lang die Strecke von der Aufhängung oben bis zur Mitte des Gewichts unten ist sei die Pendellänge. Wenn man von der Fadenlänge in Zentimetern erst die Wurzel zieht und dieses Zwischenergebnis dann verdoppelt, dann steht das Zahlenergebnis gleichzeitig auch für die Dauer von 10 Schwingungen des Pendels in Sekunden[22].



Mit dem Pendelgesetz lässt sich für ein 0,5 Meter langes Pendel die Periodendauer von etwa 14 Sekunden gut vorhersagen.

Um die Periodendauer eines Fadenpendels auf der Erdoberfläche recht gut vorherzusagen, genügt es die Länge l des Pendels zu kennen. Man rechnet dann: die Länge in Metern geteilt durch 9,81. Aus diesem Zwischenergebnis zieht man dann die Wurzel. Und diese wiederum multipliziert man mit 6,28. Das Ergebnis ist dann die Dauer einer Schwingung in Sekunden.

Weitere Beispiele sind:


Arten von Vorhersagbarkeit in der Physik


Physiker[1], aber auch einige nicht-Physiker[2] halten die Fähigkeit, zutreffende Vorhersagen machen zu können für den letztendlichen Test jeder Theorie. Newtons Theorie der Gravitation galt solange als korrekt, bis man Planetenbewegungen entdeckte, die man damit nicht vorhersagen konnte[6]. Eine solche Bechreibung nennt man auch deterministisch[8]. Man muss dabei klar zwei Arten von Vorhersagbarkeit unterscheiden sowie einen Fehlschluss vermeiden.

Die Vorhersagbarkeit als Leitprinzip der Physik


Indem Physiker ihr Intresse auf Dinge beschränkten, die eine Vorhersage zukünftiger Zustände erlaubt, legten sie sich gleichzeitig ein sehr strenges Wahrheitskriterium auf. Das hieß aber auch, dass die Erkenntnise der Physik eine hohe Überzeugungskraft erlangten. Während man zum Beispiel bei der Diskussion um die Existenz und das Wesen Gottes im Spekulativen blieb und die Diskussion nie ein Ende fand[12], konnten Physiker Zweifel an ihren Erkenntnisen stets mit dem Verweis zerstreuen, dass sich die Welt offensichtlich in Übereinstimmung mit den Formeln verhalte.

MERKSATZ:

1.0 Wo sich die Physik auf vorhersagbare Dinge beschränkte, erlangte sie eine schwer anzuzweifelnde Autorität.

Die Beschränkung auf das Vorhersagbare gab den Ergebnissen der Physik also eine schwer zu leugnende Autorität. Wer erfolgreich die Bahn von Planten auf Jahrhunderte im Voraus berechnen kann, hat scheinbar auch Anspruch darauf, in anderen Gebieten der Erkenntnis gehört zu werden. Aber die Münze hat auch eine Kehrseite. Durch die Beschränkung auf vorhersagbare Abläufe, gab die Physik stillschweigend ihren Anspruch auf Erkenntnisse auf, die möglicherweise nicht vorhersagbar sind.

MERKSATZ:

2.0 Behauptungen über nicht vorhersagbare Dinge gelten vielfacht nicht als seriöse Physik.

Neben Offensichtlichkeiten wie echt zufälligen und praktisch nicht berechenbaren Abläufen bezieht sich das vor allem auch auf Erkenntnisse, auf die das Konzept der Vorhersagbarkeit überhaupt gar nicht sinnvoll anwendbar ist. In der Philsophie spricht man dann von einem Kategorienfehler. Ein gutes Beispiel ist das Konzept eines Sinns des Lebens, die Frage nach dem großen Wozu[15]. Es macht wenig Sinn, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens damit bewerten zu wollen wie gut sie Vorhersagen erlaube.

Vielleicht war es die Angst mancher Naturforscher, dass sie letzten Endes mit ihren Methoden für viele drängende Fragen nicht zuständig sein konnten, die manche zu der kühnen Hypothese verleitete, dass alles in der Welt vorhersagbar sei, und dass es deshalb nur eine Frage der Zeit sei, bis die Wissenschaft die richtige Antwort fände. Andere hingegen forderten, dass man über die Dinge, die sich nicht eindeutig klären ließen, nicht reden solle[16]. Und auch außerhalb der Physik habe man sich auf das sicher Bestimmbare zu beschränken[17].

MERKSATZ:

3.0 Manche Denker forderten, dass man über nicht Vorhersagbare Dinge besser schweigen sollte, oder zumindest nicht zu viel Zeit auf sie verschwende.

Man kann festhalten, dass die Vorhersagbarkeit ein geeignetes Kriterium für die Erlangung bemerkenswert zuverlässiger Gesetzmäßigkeiten im Ablauf der Welt ist. Ob dieser Anspruch aber mit Erfolg auch über die Physik hinaus ausgedehnt werden kann, ist zumindest strittig.

Die Vorhersagbarkeit als Eigenschaft der Welt


Schon früh formulierten Naturwissenschaftler die Idee, dass die Welt als Ganzes bis ins kleinste Detail vorhersagbar sein könnte. Im Jahr 1814 stellte der Mathematiker Laplace seinen hypothetischen Dämon vor, der mit dem Wissen des momentanen Zustandes der Welt alle vergangenen und alle zukünftigen Zustände der Welt berechnen können sollte[10].

MERKSATZ:

4.0 Der Idee, dass die gesamte Welt vorherbestimmt ist liegt der sogenannte Determinismus zugrunde.

Das ist nun ein gewaltiger Schritt. Zwischen der bescheidenen Idee, sich methodisch auf vorhersagbare Abläufe in der Welt zu beschränken und der Idee, dass alles in der Welt vorhersagbar liegt ein ähnlich großer Sprung wie zwischen der kindlichen Idee, dass lebende Dinge sich bewegen und dem offensichtlichen Fehlschluss, dass alles was sich bewegt, auch lebendig ist[18]. Der weltanschauliche Determinismus erlangte dann im 19ten Jahrhundert dennoch eine große Überzeugungskraft und war weit verbreitet[8].

Vorbestimmt heißt nicht automatisch auch vorhersagbar


Im vorigen Abschnitt wurde die Vorhersagbarkeit der Welt in enge Verbindung mit dem Weltbild des Determinismus gebracht. Man muss sich aber deutlich halten, dass sich die zwei Konzepte nicht zwangsläufig gegenseitig bedingen.

Die Welt kann determiniert, dass heißt vorherbestimmt sein, ohne dass sie dabei vorhersagbar ist. Ein einfaches Beispiel dafür sind sogenannte Zellularautomaten[23]. Das sind einfache Computersimulationen von geometrischen Mustern, die sich nach eindeutigen Regeln über die Zeit hinweg verändern. Penrose konnte nun nachweisen, dass das Verhalten mancher dieser Muster auf keine Weise vorausberechnet werden kann[19]. Man muss die gesamte Simulation Schritt für Schritt durchlaufen ohne dass es eine rechnerische Abkürzung gibt. Damit ist das Verhalten von Zellularautomaten nicht berechenbar, nicht vorhersagbar.

MERKSATZ:

5.0 Es gibt determinierte Abläufe, die nicht vorhersagbar sind.

Der Kern des Problems ist, dass die Abläufe rechnerisch nicht in einem Rechenweg zusammengefasst werden können, der schneller sein kann, als der Ablauf der Welt dauern würde das Ergebnis hervorzubringen. Das mathematische Konzept dieses Gedankens ist die rechnerische Irreduzibilität ↗

Vorhersagbar heißt nicht automatisch auch vorherbestimmt


Stellen wir uns vor, der Mensch verfüge über einen umfassenden echten freien Willen. Das soll hier heißen, dass er unabhängig vom Zustand der Welt eigene Entscheidungen treffen und diese auch - zumindest teilweise - umsetzen kann. Wenn nun ein Mensch mittags um 12.00 Uhr ganz frei von Einflüssen seiner Umwelt entscheidet, um 13.00 Uhr einen Zug in die Nachbarstadt zu nehmen, dann ist diese Tat ab 12.00 weitgehend vorhersagbar. Sie war aber vor 12.00 Uhr nicht vorherbestimmt.

MERKSATZ:

6.0 Es sind Abläufe denkbar, die ab einem bestimmten Zeitpunkt vorhersagbar sind, aber davor nicht vorherbestimmt waren.

Was manchen hier wie eine nutzlose Spitzfindigkeit erscheinen mag, hat doch in der Physik eine große praktische Bedeutung. Es gibt dort nämlich Experimente, bei denen ein Experimentator durch die freie Wahl seiner Messungen sozusagen erst festlegt, welche Eigenschaften das Messobjekt durch die Messung animmt. Ab dort sind die Messergebnisse vorhersagbar, sie waren aber aber vorher nicht vorherbestimmt. Siehe mehr dazu im Artikel Delayed-Choice-Experiment ↗

Grenzen der Vorhersagbarkeit


Die bisher gemachten Betrachtungen sollen zweierlei gezeigt haben: die Vorhersagbarkeit ist ein nützliches Leitbild für physikalischen Erkenntnisgewinn. Es gibt aber begründete Zweifel daran, dass die Abläufe der Welt alle oder auch nur in großen Teilen vorhersagbar sind. Die Zweifel lassen sich grob in zwei Gruppen teilen: physikalisch begründete Zweifel (a bis c) und philosophisch begründete Zweifel (d und e):


In der Wissenschaftstheorie wird das Konzept der Vorhersagbarkeit der Welt meist unter dem Stichwort des Determinismus behandelt. So nennt man die Vorstellung, dass alles in der Welt vorherbestimmt, das heißt determiniert sei. Die gegenteilige Auffassung, dass die Welt möglicherweise nicht determiniert ist, bezeichnet man als Indeterminismus ↗

Persönliche Einschätzung


Es ist die Absurdität der Extreme, die auf eine vielleicht weiterführende Spekulation über die Natur der physikalischen Welt verweist. Wie zum Beispiel Einstein[7] bemerkte wäre eine völlig vorhersagbare Welt absurd. Sie ließe keinen Raum für freie persönliche Entscheidungen. In einer völlig vorhersagbaren Welt wären wir wir Spielzeug von Göttern oder bloße Automaten[20], bestenfalls empfindungsfähig[21], aber nicht wirkmächtig. Das ist zwar denkbar, aber absurd. Zum anderen wäre aber auch eine Welt die völlig unvorhersagbar wäre ebenfalls absurd. Wenn wir nicht vorhersagen könnten, ob das Betätigen eines kleinen Schalters das Licht im Wohnzimmer anmacht oder zur Explosion der Welt führt, könnten wir uns in dieser Welt nicht sicher bewegen, wie wäre ein totales Chaos.

Nur ein ausgewogener Kompromiss zwischen Vorhersagbarkeit und ihrem echten Gegenteil, der Offenheit im Sinne von Freiheit, gibt eine sinnvolle Welt. Dass die Welt mit ihren physikalischen Gesetzen möglicherweise zu genau diesem Zweck eingerichtet ist, wird spekulativ betrachtet in dem Artikel kollaborative Physik ↗

Fußnoten