Lernstil
Didaktik
Basiswissen
Als Lernstil bezeichnet man eine Gesamtheit von Denkstilen, Lernmethoden und bevorzugten Materialien, um einen bestimmten Lernerfolg zu erreichen. Seit den 1980er Jahren[1][2] entstand eine breite Literatur. Statistisch ist der Effekt aber nicht greifbar: bei gegebenen Anforderungen scheint die optimale Herangehensweise für alle Menschen mehr oder minder gleich zu sein[4]. Die Erfahrung aus einer Lernwerkstatt in Aachen sprechen dennoch für die Existenz von Lernstilen.
Denkneigungen als Bausteine von Denkstilen
Von einem Lernstil spricht man dann, wenn jemand verschiedene Denkweisen, Lernmethoden und bevorzugte Materialien so auswählt und verbindet, dass daraus ein eigener Stil wird. Hier stehen zunächst einige Beispiele für solche "atomaren" Denkneigungen, wie wir sie in der praktischen Arbeit in unser Lernwerkstatt in Aachen oft beobachten.
- Faktenwissen macht Spaß oder eher nicht[6].
- Fertige Lösungswege sind gewünscht oder eher nicht[7].
- Praktische Anwendungen sind gewünscht oder eher nicht[8].
- Theorie und Abstraktion sind gewünscht oder eher nicht[9].
- Neues Wissen wird aktiv mit altem Wissen verglichen oder eher nicht[10].
- Neu erlerntes wird schnell langweilig oder gerade erst durch Wiederholung attraktiv[11].
- Widersprüche sind eher interessant oder sie stoßen eher ab[12].
- Leistungsdruck (das muss jetzt sitzen) ist eher hilfreich oder er blockiert[13].
- Konkurrenz zu Mitschülern ist eher förderlich oder sie blockiert[14].
- Zeitdruck ist eher förderlich oder er blockiert[15].
- Noten können völlig demotivieren oder bleiben ohne Einfluss[16].
- Der Charakter eines Lehrers spielt eine wichtige Rolle oder nicht[17].
- Lernende stellen von sich aus viele Fragen oder bleiben eher passiv[18].
- Lernende suchen sich selbst gerne Themen aus oder nicht[19].
- Lernende bevorzugen die gleichzeitige Ansprache verschiedener Sinneskanäle oder eher nicht[20].
- Lernende fassen Dinge gerne in eigenen Worten zusammen oder lassen sich lieber diktieren[21].
- Lernende überprüfen ihre Ergebnisse tendenziell gar nicht[22].
- Lernende möchte ihre Ergebnisse gerne selbst überprüfen[23].
- Lernende möchte ihre Ergebnisse von anderen geprüft haben[24].
- Lernende möchte jeden Zwischenschritt bestätigt haben[25].
- Das Denken bleibt gerne im formalen, formelmäßigen[26].
- Das Denken bevorzugt die Sprache[27].
Fußnoten
- [1] David A. Kolb: Learning Style Inventory. McBer and Company, Boston 1985.
- [2] Richard Felder, L. Silverman: Learning and teaching styles in engineering education. In: Journal of Engineering Education. Band 7, Nr. 78, 1988, S. 674–681.
- [3] W. Stangl: Lernstile – was ist dran? In: Praxis Schule 5-10. 31 Jg., Heft 5/2005, S. 12–17.
- [4] W. Furey: The Stubborn Myth of “Learning Styles” – State teacher-license prep materials peddle a debunked theory. Education Next, 20(3), 8-12. 2020.
- [5] "Bisherige Untersuchungen deuten darauf hin, dass Personen mit einer starken Ausprägung des Merkmals Introversion tendenziell besser im Studium abschneiden als extravertierte Personen." In: Mario Fabianek: Welche Merkmale beeinflussen den Erfolg im Studium? Diplomarbeit. Diplomica Verlag GmbH. 2004. ISBN: 9783832480738. Dort die Seite 16.
- [6] Faktenwissen ist bis zur Klasse 6 immer gewünscht: Weltraum, Dinosaurier, Haustiere, Briefmarken und viele andere Themen wecken fast immer Interesse. Als grobe Richtschnur gilt: alles was in Büchern der Art des Was-ist-Was-Buches vermittelt wird, wird in dieser Altersklasse gerne angenommen. Siehe auch Lexika ↗
- [7] Was den Wunsch nach fertigen Lösungswegen angeht beobachten wir über alle Altersklassen hinweg sehr große Unterschiede. Während manche Schüler schnell ungehalten werden, wenn man ihnen nicht zeigt "wie man eine Aufgabe rechnet", zögern andere die fremde Lösung solange heraus wie nur möglich oder sind daran im Extremfall gar nicht interessiert. In der Beobachtungszeit von 2005 bis 2024 überwiegt bei Schüler der erste Fall deutlich.
- [8] Die Mehrzahl der Schüler wünscht zumindest, dass man ihnen praktische Anwendungen für theoretische Zusammenhänge nennt. Das eine Extrem sind Schüler, die gerne und ausdauernd praktisch arbeiten, etwa elektronische Schaltungen zusammensetzen (oft sehr anspruchsvoll), aber von sich keinerlei Interesse daran zeigen, den Unterschied zwischen Spannung und Stromstärke zu besprechen. Das andere Extrem sind Schüler, die vehement im rein theoretischen bleiben wollen und von sich sagen, dass die Praxis sie stört und ablenkt. Beispiele für die praktische Seite stehen zum Beispiel unter Werkstattversuche ↗
- [9] Was den Wunsch nach Theorie und Abstraktion angeht gibt es bei den Schülern in unserer Lernwerkstatt enorm große Unterschiede. Oft, aber nicht immer, deckt sich Wunsch nach Abstraktion mit der Fähigkeit dazu. In der Physik zum Beispiel sind Kinder mit einem hohen Wunsch nach Abstraktion zufrieden, wenn man das Thema von Feldern mit einer Aussage anfängt wie: "ein Feld ist die Zuordnung von einer oder mehreren Eigenschaften zu jedem Punkt eines interessierenden Raumes". Andere Kinder würden durch solche Definition abgeschreckt. Sie wünschen dann zum Beispiel viele einzelne Beispiele, ohne dass sie von sich aus den inneren Drang verspüren, ein tieferes Prinzip dahinter zu suchen. Kinder mit wenig Neigung zur Abstraktion lernen etwa Formeln und Fakten zum Dynamo, zu verschiedene Elektromotoren und Verlusten in Wechselspannungsleitungen getrennt auswendig. Kinder mit einer höheren Drang zur Abstraktion drängen aber schnell auf die Induktion als alles erklärende Prinzip. Siehe auch Abstraktion ↗
- [10] Manche Kinder versuchen Neues stets gerne mit Altem zu vergleichen, andere tun das gar nicht und lehnen es im Extremfall auch aktiv ab. Versucht man als Lehrer zum Beispiel die Kommadarstellung von Zahlen ganz aus der Bruchrechnung herzuleiten, finden das manche interessant, andere fordern, dass man ihnen nur sagt, was sie jetzt lernen sollen. Hier müssen wir leider beobachten, dass das aufbauende Lernen von Schulen oft sehr durch die schnelle und zusammenhangslose Abfolge von Themen erschwert wird: "wir haben jetzt ein neues Thema" ist als Aussage einer Schülers in der Lernwerkstatt oft gleichbedeutend mit "das Alte müssen wir jetzt nicht mehr können, das will ich auch nicht mehr machen". Die natürliche Folge davon ist dann das sogenannte Bulimielernen ↗
- [11] Manche Schüler sagen von sich aus, dass sie gerne viele ähnliche Aufgaben rechnen, wenn sie anfangen, ein Thema langsam zu verstehen. Sie sind dann tatsächlich ausdauernd dabei, bis zu 50 Aufgaben eines Typs zu lösen. Sie empfinden Freude am Können. Das extreme Gegenteil sind Schüler, die bereits beim geringsten Gefühl, den Kern einer Sache verstanden zu haben, jedes Interesse verlieren.
- [12] Es gibt Schüler, die von Ungereimtheiten stark abgestoßen werden. Meist suchen diese Kinder oder Jugendlichen nicht aktiv danach. Weist man sie darauf hin, etwa darauf, dass sie Strahlenoptik nicht erklären kann, wie Interferenzmuster entstehen, werden sie schnell ungehalten: "wozu haben wir dann die Strahlenoptik gelernt, wenn sie nicht stimmt?" oder "Sagen sie mir einfach, was ich hinschreiben soll" sind dann typische Reaktionen. Schüler vom anderen Extrem werden durch offene Fragen und Widersprüche eher angezogen. Sicheres Wissen ist ihnen eher langweilig, die großen Fragen und Ungereimtheiten ziehen sie an. Einige Beispiele für mögliche Widersprüche haben wir zusammengestellt auf der Seite zu Alogismen ↗
- [13] Auch was Leistungsdruck (du musst gute Noten haben) beobachten wir Extreme. Manche Kinder zeigen ohne Notendruck keinerlei Motivation zum Lernen. Sie sagen das oft auch genau so in eigenen Worten. Doch ist die Sache differenziert zu betrachten. Für manche ist es ein Anreiz, von der Fünf auf die Vier zu kommen. Andere fangen nur dann an zu lernen, wenn sie Chancen auf eine sehr gute Note haben. Was wir leider sehr oft beobachten (von 2005 bis 2024) ist eine völlige Resignation vieler Schüler, wenn sie trotz eigener Bemühungen nur schlechte Noten schreiben. Die völlige Resignation führt oft bis zur Einweisung in die Kinderpsychiatrie. Das Schlüsselwort bei Erstgesprächen mit Eltern ist dann oft "Selbstvertrauen".
- [14] Ähnlich wie beim Leistungsdruck reagieren viele Schüler auch stark unterschiedlich auf Konkurrenz mit ihren Mitschülern. Während es manche als Salz in der Suppe empfinden, ist es für andere störend. Ältere Schüler berichten uns in der Lernkwerkstatt, wie sehr es sie stört, dass auf dem Schulhof ständig Noten verglichen werden. Andere hingegen berichten oft strahlend, dass sie die beste Arbeit geschrieben hätten und dass sie den Glanz durchaus aktiv und gerne genießen.
- [15] Auch beim Zeitdruck beobachten wir Extreme. Ein hochbegabter Schüler aus der Klasse lehnte die Teilnehme an Wettbewerben (vom Lehrer empfohlen) ab. Seine Begründung war, dass nach einer bestimmten Zeit (Zeitdruck) die Sieger festgestellt würden und sich ab dann niemand mehr für das behandelte Thema interessiere. Derselbe Schüler (seit drei Jahren bei uns in der Lernwerkstatt) sagt von sich aus, dass es ihm wichtig sei, dass jedes Thema so lange behandelt wird, bis es verstanden oder sonstwie zu einem guten Ende gebracht wird. Andere Schüler hingegen empfinden Zeitdruck als motivierend.
- [16] Eine kleine Gruppe von Schülern scheint nahezu immun gegen dauerhaft schlechte Noten zu sein. Wenn ein entsprechender Schüler intrinsisch an einem Thema interessiert ist, arbeitet er gerne und ausdauernd an den Inhalten weiter. Andere, vielleicht die eher extrinsisch motivierten, verlieren bei dauerhaft schlechten Noten oft das Interessen und suchen sich andere Schwerpunkt (Physik gebe ich sofort ab, wenn ich es kann!).
- [17] Je jünger Kinder sind, desto wichtiger ist der Charakter der Lehrperson. Aber auch bei älteren, bis hin zum Abitur, beobachten wir vereinzelt, dass nicht nur die Fähigkeit zum guten Erklären wichtig zu sein scheint. Vielmehr färben auch die charakterlichen Eigenschaften und die persönliche Beziehung der Lehrer zu Schülern auf das Interesse der Schüler an einem Thema ab. Aber auch hier sehen wir große individuelle Unterschiede bei den Schülern.
- [18] Im Sommer 2023 wurde uns ein gerade 5 Jahre alter, vermutlich hochbegabter Junge vorgestellt. Seine erste Frage an uns war: "wie sind die Ringe des Saturn entstanden". Aber auch nicht hochbegabte Kindern stellen viele solche Fragen: welche Farbe hat ein Elektron? Woher wissen Planeten in welche Richtung sie von der Sonne angezogen werden sollen? Oder: woher weiß man, wie weit die Sterne entfernt sind? Hier beoachten wir große Unterschiede. Während manche Kinder ganze Stunden mit solchen Fragen zubringen können, fällt anderen keine einzige eigene Frage ein. Siehe auch Hochbegabung ↗
- [19] Im Jahr 2023 kamen von den rund 50 Schülern in unserer Lernwerkstatt etwa 4 bis 5 nur, um dort eigenen Interessen und Themen nachzugehen. Diese Kinder genießen es, wenn man von Stunde zu Stunde gemeinsam neu überlegt, was man aktuell machen soll. Ihre Interessen orientieren sich oft locker am Schulstoff, kann davon aber auch ganz losgelöst sein. Kinder vom anderen Extrem lehnen alles, was nicht für die "nächste Arbeit" wichtig ist. Die große Mehrheit folgt gerne dem aktuellen Schulgeschehen und möchte nur ungerne mehr als vielleicht 10 Minuten einer Stunde auf nicht aktuell schulrelevanten Themen verwenden.
- [20] Man hört oft davon, dass es eher visuelle oder auditive oder haptische Lerntypen gäbe. Hier ist für uns die Lage unklar. Eindeutig ist, dass viele Kinder (vor allem Legastheniker) ungerne lesen. Andere werden von Formelschreibweisen abgestoßen, weil sie die Symbole nicht kennen. Abseits solcher Eindeutigkeiten aber kann man eigentich alle Schüler auf allen Sinnenskanälen gut ansprechen, wenn der Stoff passend aufbereitet ist. Gute Texte, gute Skizzen, gute gesprochene Erklärungen funktionieren meist immer gut. Die wörtlich gleichzeitige Ansprache aber scheint tendenziell eher zu verwirren. Das erkennen wir daran, dass Schüler das Sehen, Hören, Schreiben und Lesen gerne von sich aus zeitlich trennen. Das passt zu den wissenschaftlichen Befunden, dass echtes Multitasking die Leistungen eher verschlechtert. Siehe auch Multitasking ↗
- [21] Wir haben immer wieder sehr sprachgewandte Schüler auffällig oft Schülerinnen, die gerade mathematische und physikalische Inhalte druckreif in eigenen Worten zusammenfassen können. Beispiele dafür reichten von der Klasse 5 bis kurz vors Abitur. Diese Kinder haben große Freude am Verfassen eigener Texte. Umgekehrt gibt es auch Kinder, denen das Verfassen von Texten enorm schwer fällt oder die es trotz vorhandener Fähigkeit nicht gerne tun. Sie bevorgen diktierte Texte. Siehe auch Rechnen und Sprache ↗
- [22] Hier fallen mir wieder zuerst die Extreme ein: es gibt immer wieder Schüler, auffällig oft Jungen, die schwierige und komplexe Aufgaben lösen und dann keinerlei Interesse daran haben, diese Lösung zu überprüfen. Mir fallen Beispiele ein, wo sie aktiv die Überprüfung mit einem Experiment (Fallgesetze der Physik) oder das Nachschlagen in einem Lösungsheft ablehnten. Die Begründung war immer, dass sie sich sicher sind, dass ihr Ergebnis stimmt (oft stimmte es nicht).
- [23] In der Lernwerkstatt stellen wir viele klassische Aufgaben der Mathematik, etwa das Aufstellen einer Geradengleichung, in Form von Tischversuchen. Ob die eigene Antwort dann stimmt sagt nicht der Lehrer oder ein Buch. Ob die Antwort stimmt kann man vielmehr selbst an dem Tischversuch alleine überprüfen. Hier machen wir die Beobachtung, dass alle Schüler diese Lernform akzeptieren und einige betonen, dass es ihnen sehr gut gefalle. Für Beispiele dazu siehe auch Siehe auch Geradengleichung aus Versuch ↗
- [24] Verblüffend viele Schüler lösen große Pakete von Aufgaben ohne dass sie unterwegs nach einer Kontrolle von außen fragen. Vielen ist nicht bewusst, dass die Lösung zu den Aufgaben aus der Schule zum Beispiel oft im Buch hinten stehen.
- [25] Ein großer Anteil unserer Schüler fragt beim Lösen einer Aufgabe ständig bei jedem kleinen Schritt, ob das so richtig sei. Sie sagen von sich aus, dass sie nicht gerne weiterarbeiten wollen, wenn das Ergebnis doch eh falsch wird. Typische Beispiele sind das Lösen der pq-Formel oder lineare Gleichungssysteme. Es kostet viel Zeit und viel Überredungskunst, die Schüler dazu zu bringen, dass sie bis zum Endergebnis alleine arbeiten und dann das Endergebnis auch alleie überprüfen.
- [26] Dieses Extrem wird mir vor allem bei einigen Schülern im Physik Leistungskurs sehr deutlich: sie möchten sich ganz auf die rein mathematische Bearbeitung von Physik zurückziehen. Sie sind oft sehr schnell und gut im Umgang mit Formalismen, merken aber dann zum Beispiel selbst kurz vor dem Abitur nicht, dass sie für einen freien Fall fälschlicherweise die Formel für eine gleichförmige Bewegung benutzen. Dass Extrem fällt mir auch bei erwachsenen Physikern mit Promotion auf. Sie interessieren sich etwa für den Formalismus der Rotation eines Vektorfeldes interessieren sich aber kaum oder nur widerwillig dafür, wofür das anschaulich steht. In den unteren Klassen der Schule beobachten wird, dass viele (nicht alle) Kinder eine starke Abneigung gegen Textaufgaben haben. Diese, so manche Schüler, seien keine Mathematik. Mathematik sei "rechnen". Siehe auch formal rechnen ↗
- [27] Es ist eine beachtenswerte Tatsache, dass viele Mathematiker (Russell, Whitehead) und Physiker (Schrödinger, Exner, Heisenberg, Einstein, Feynman) umfangreich Fachbücher schrieben und darin fast kaum Formeln verwendeten. Dabei erklärten sie durchaus rein mathematische oder physikalische Themen. Wir beobachten, dass es einige wenige Schüler gibt, die über Sprache sehr gut Mathematik lernen können, die aber bei der Anwendung von Formeln völlig versagen. Das zeigt sich dann zum Beispiel daran, dass die schriftlichen Arbeiten oft im Bereich von 5 oder 6 liegen, die mündliche Note aber nicht selten bei 2. Siehe auch Rechnen und Sprache ↗