Akkomodation (Lernpsychologie)
Didaktik
Basiswissen
Als Akkomodation im Sinne des Psychologen Jean Piaget[1] bezeichnet man die Anpassung bestehender Schemata an neue Information[2], und zwar vor allem dann, wenn bestehende Schemata das neue nicht erkären können[3]. Die lernpsychologische Idee der Akkomodation wird hier mit praktischen Beispielen aus der Didaktik und der Wissenssoziologie vorgestellt.
Akkomodation in der Lernpsychologie
Der Begriff der Akkomodation wird meist eng beschränkt auf die Psychologie des Lernens verwendet. Er steht dort dafür, dass vorhandene Denkstrukturen an neue Erkenntnisse angepasst werden. Die Akkomodation ergänzt damit die Assimiliation, die neues Wissen in bereits vorhandene Strukturen einbindet. Jean Piaget entwickelte das Konzept in den 1920er Jahren[7]. 1932 schrieb er:
ZITAT:
»»Die Assimilation ist konservativ und möchte die Umwelt dem Organismus so unterordnen, wie sie ist, während die Akkommodation Quelle von Veränderungen ist und den Organismus den sukzessiven Zwängen der Umwelt beugt. Aber wenn diese beiden Funktionen in ihren Prinzipien antagonistisch sind, dann besteht gerade die Rolle des geistigen Lebens und der Intelligenz im besonderen in der Koordination der beiden miteinander.«[8]
»»Die Assimilation ist konservativ und möchte die Umwelt dem Organismus so unterordnen, wie sie ist, während die Akkommodation Quelle von Veränderungen ist und den Organismus den sukzessiven Zwängen der Umwelt beugt. Aber wenn diese beiden Funktionen in ihren Prinzipien antagonistisch sind, dann besteht gerade die Rolle des geistigen Lebens und der Intelligenz im besonderen in der Koordination der beiden miteinander.«[8]
Häufig zitiert wird ein Beispiel der frühkindlichen Entwicklung: ein Kind will mit der Hand Wasser greifen und merkt, dass dies nicht gelingt. Die Leistung der Akkomodation ist es dann, für das ein neues Denkschema zu verwenden, nämlich das des Schöpfens. In seinem Buch über das Weltbild des Kindes führte Piaget ausführlich viele Beispiele aus, wie jüngere Kinder nach und nach ihre Vorstellung von Lebendigkeit und Kausalität anpassen, das heißt akkomodieren. Es folgen hier nun einige weitere Beispiele wie wir sie seit dem Jahr 2010 in unserer Lernwerkstatt in Aachen[11] beobachtet haben.
Beispiel I: "weniger und mehr"
Wer die Grundschule verlässt hat wahrscheinlich bewusst oder unbewusst verinnerlicht, dass eine Division durch zwei eine Zahl immer kleiner macht: 8 geteilt durch 2 gibt 4. Und die Vier ist kleiner als die Acht. Probleme mit diesem Denkschema treten auf, wenn man es auf den Bereich der negativen Zahlen anwendet: -8 geteilt durch 2 ist rein rechnerisch -4. Aber die Zahl -4 gilt als größer als die Zahl -8. Hier hat also die Division durch zwei die ursprüngliche Zahl, den Dividenden, vergrößert. Wie das Problem durch eine geeignete Akkomodation gelöst werden kann ist besprochen im Artikel zum Halbierungsparadoxon ↗
Beispiel II: "oben und unten"
Kinder gehen in der Regel davon aus, dass Gegenstände, die man aus der Hand loslässt, "nach unten fallen". Man geht mehr oder minder unbewusst davon aus, dass "nach unten" für alle Menschen auf der Erde dieselbe Richtung ist. In unserer Lernwerkstatt in Aachen können wir aber bis hin zu Studenten und Erwachsenen Verblüssung erzeugen, wenn wir das an einem Globus durchspielen: die Menschen in Neuseeland stehen mit ihren Füßen sozusagen kopfüber[4]. Und wenn dort jemand etwas fallen lässt, dann bewegt sich der Gegenstand in eine Richtung, die von uns aus gesehen nach oben zeigt. Diese neue Erkenntnis kann dann so akkomodiert werden, dass man "nach unten" neu definiert, etwa als "in Richtung des Erdmittelpunktes"[5], also als lotrecht ↗
Beispiel III: von der dritten Wurzel zur 1,5ten Wurzel
Die dritte Wurzel der Zahl 8 ist die Zahl 2. Denn: 2³ gibt wieder acht. Anschaulich gesprochen ist die dritte Wurzel einer Zahl z diejenige Zahl, die dreimal in einer Malkette stehen muss, um als Wert der Malkette, des Produkts also, genau die Zahl z zu ergeben. Die Idee einer so definierten n-ten Wurzel ist für die meisten Schüler ab etwa der Klasse 8 gut begreifbar. Wie aber soll man sein Denkschema zur verallgemeinerten Wurzel erweitern, wenn in der Klasse 10 dann die 1,5te Wurzel von 8 berechnet wird und das Ergebnis 4 ergibt? Auch hier müssen bekannte Denkschemata angepasst, das heißt akkomodiert werden. Wie, das ist erklärt im Artikel über die r-te Wurzel ↗
Anlässe für eine Akkomodation
Das Dorsch Lexikon der Psychologie weist darauf hin, dass eine Akkomodation entweder aus einer Erklärungsnot oder auch spielerischer Neugier entsteht[3]. Hier sind beispielhaft einige Anlässe oder Umstände aufgelistet, die den Wunsch nach einer Akkomodation auslösen können (aber nicht immer müssen).
Verlust der Vorhersagbarkeit
Schon jüngere Kinder erfahren durch spielerisches Probieren, wie sie mit ihren Händen Schattenspiele an einer Wand erzeugen können. Aus einer Faust mit abgespreizten Fingern wird dann zum Beispiel ein Hasenkopf mit großeren Ohren. Intuitiv baut der Kopf dann das Denkschema der Strahlenoptik[14] auf: von der Lichtquelle denkt man sich gerade Lichtstrahlen. Wo diese durch einen Gegenstand (z. B. die Hand) unterbrochen werden, entsteht im weiteren Gang der Strahlen ein Schatten. Dieses Denkschema versagt aber, wenn man den Schatten eines dünnen Nagels in einem dünnen Laserstrahl vorhersagen will. Der tatsächliche Schatten wird ein sehr regelmäßiges und großes Streifenmuster sein. Die Akkomodation führt dann von der Strahlenoptik hin zur sogenannten Wellenoptik. Das konkrete Beispiel ist hier besprochen im Artikel zum Einzelhaarexperiment (Laser) ↗
Inkonsistente Daten oder Fakten
Man nennt Daten inkonsistens oder unstimmig, wenn ihre Deutung mit ein und demselben Denkschema zu Widersprüchen führt. Nehmen wir beispielhaft das Denkschema, dass eine Primzahl immer ungerade sein muss. Das trifft auf die Primzahlen 3, 5, 7, 11, 13, 17 und so weiter zu. Es gibt aber eine Ausnahme: auch die Zahl 2 gilt in der Mathematik als Primzahl. Die Daten "2" und "3" passen nicht auf das alte Denkschema. Das bestehende Denkschema muss also akkomodiert werden. Eine Akkomodation wäre dann zum Beispiel folgende neue Definition: eine Primzahl ist jede natürliche Zahl, die genau zwei verschiedene natürlichzahlige Teiler hat. Siehe mehr unter Primzahl ↗
Kognivitve Dissonanz
Sieht man den Mond nahe am Horizont stehen, so erscheint er deutlich größer als hoch am Himmel. Tatsächlich aber weiß man, dass der Effekt nichts mit einer Veränderung der tatsächlichen Größe des Mondes zu tun hat. Das Gefühl und das Wissen arbeiten hier gegeneinander. Was hier akkomodiert werden muss ist das unbewusste Denkschema, dass die scheinbare Größe zuverlässige Rückschlüsse auf die wahre Größe zulässt. Siehe auch kognitive Dissonanz ↗
Intelligent confusion
Der Begriff der intelligent confusion
Techniken einer Akkomodation
- Man ordnet eine Theorie einer anderen ein Korrespondenzprinzip ↗
- Man lässt Widersprüche bewusst bestehen Komplementaritätsprinzip ↗
- Man trennt verschiedene Denkbereiche gegeneinander ab Kompartmentalisierung ↗
- Man fasst unterschiedliche Beispiele unter einen Überbegriff Verallgemeinerung ↗
- Man verzichet auf unwesentliche Eigenschaften Abstraktion ↗
- Man sucht neue Prämissen Abduktion ↗
Exkurs I: Akkomodation als Anpassung außerkörperlicher Wissensstrukturen
Die Philosophen David Chalmers und Andy Clarke erweiterten das Konzept von Geist oder Psyche indem auch Materielle Dinge der Welt außerhalb von Gehirnen mit einbezogen wurden. So kann man ein Notizbuch als erweitertes Gedächtnis oder einen Computer als erweiterte Denkprozesse unserer Gehirne auffassen[9].
In dieser Vorstellung eines erweiterten Geistes können dann auch Wissens- und Denkprozesse außerhalb einer menschlichen Psyche akkomodiert, das heißt neuen Erkenntnissen angepasst werden. Der Sache nach und ausreichend abstrahiert kann man erwarten, dabei auf dieselben Prozesse zu stoßen, die auch im Psychischen ablaufen.
- Ein Lexikon der Physik enthält veraltete Worte (z. B. Undulationstheorie) Lemmatisierung ↗
- Eine über Jahre gewachsene Datenbank zeigt zunehmend innere Widersprüche auf Konsistenzerhaltung ↗
- Eine Gesetzesänderung verbietet einem Unternehmen bestimmte Artikel zu bewerben (z. B. Tabak). Eine Vielzahl von unternehmensinternen Abläufen müssen darauf hin angepasst werden.
- Bewährte Erfahrungsregeln zur Wettervorhersage (Schafskälte) gelten nicht mehr, es müssen neue Rechenmodelle entwickelt werden.
Wie anspruchsvoll und aufwändig die Akkomodation bestehender außerkörperlicher Wissensstrukturen belegt die Existenz vieler Beratungsunternehmen, die oft stark darauf spezialisiert sind die Auswirkungen neuer Gesetzeslagen für Unternehmen umzusetzen.[10]
Exkurs II: Akkomodation in der Wissensoziologie
Mit dem Begriff der Akkomodation im Sinne der Lernpsychologie beschreibt man meist nur psychologische Vorgänge in individuellen Menschen. Die Anpassung vorhandener Denk- oder Wissensstrukturen findet sich aber auch bei der kollektiven Bebarbeitung von Wissen im Sinne der Wissenssoziologie. So wurde durch schwer erklärbare Beobachtungen das astronomische "Wissen" um die Erde als Mittelpunkt des Alls akkomodiert und zwar dahingehend, dass man später die Sonne als Mitte des Alls ansah und heute ganz auf die Idee einer Mitte verzichtet[6].
In den 1930er Jahren beschrieb der polnische Mediziner und Pionier der Wissenssozilogie Ludwik Fleck, die Prozesse der Herausbildung neuer Denkschemata in Gruppen detailliert und einfühlsam in seinem Klassiker[12]Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ↗
Im Jahr 1962 prägte der US-amerikanische Physiker Thomas S. Kuhn den Begriff des Paradigmenwechsels[13]. Ein Paradigma innerhalb einer Forschungsgemeinde entspricht dabei in weiten Zügen dem, was Fleck zuvor als kollektiven Denkstil bezeichnet ha
Fußnoten
- [1] "Bei der Akkommodation (nach Piaget) werden bereits vorhandene Schemata verändert oder auch neue Schemata gebildet. Wenn eine neue Information nicht in ein bereits vorhandenes Schema eingefügt werden kann, wird dieses angepasst (oder ein neues Schema gebildet), so dass die Information nun passend eingeordnet ist." In: Springer Lehrbuch Psychologie. Dort der Eintrag zur "Akkomodation" im Glossar zur "Entwicklungspsychologie". Abgerufen am 24. Juni 2024. Online: https://lehrbuch-psychologie.springer.com/lexikon/5538
- [2] "Akkommodation (accommodation; vom lateinischen Verbum accomodare – „anpassen“, „adaptieren“, „anlegen“, „festmachen“) – auch Akkomodation – ist in der Entwicklungspsychologie die Modifizierung eines bisher vorhandenen kognitiven Schemas, um neue Informationen integrieren zu können." In:
- [3] "Akkommodationen werden «in Not» oder unter dem Druck von Unstimmigkeit vorgenommen, sie können sich aber auch «spielend» ergeben, d. h. jemand kann aus Lust «Gleiches» einmal anders angehen oder interpretieren." In: der Artikel "Akkomodation". Dorsch Lexikon der Psychologie. Abgerufen am 25. Juni 2024. Online: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/akkommodation
- [4] Historisch bezeichnete man einen solchen umgekehrt stehenden Menschen als Gegenfüßler oder Antipode ↗
- [5] Aber auch diese Definition von "nach unten" als "in Richtung des Erdmittelpunktes" muss später eventuell korrigiert oder neu akkomodiert werden. Denn Gegenstände fallen in den seltensten Fällen in einer geraden Linie Richtung Erdmittelpunkt. Tatsächlich werden sie von unterschiedlich dichte Massen (Gebirge, Seen, Erzlagerstätten, Häuser) messbar stark in ihrer Fallrichtung beeinflusst. Die Akkomodation kann dann weiter in die Richtung gehen, dass "nach unten" entsprechend der realen Fallrichtung auf einer stark inhomogenen Kugeloberfläche definiert wird. Siehe dazu auch Geoid ↗
- [6] Zur Entwicklung des astronomischen Weltbildes siehe zum Beispiel geozentrisches Weltbild [Erde in der Mitte] ↗
- [7] Im Vorwort zu Piagets "Das Weltbild des Kindes" schrieb Hans Aebli, dass man in Piaget Buch aus dem Jahr 1926 "eine Vorform des spätere Äquilibrationsmodells" erkenne. Äquilibration ist angemessene Abstimmung von Akkomodation und Assimiliation. Piaget beschreibt in dem Buch zum Beispiel, wie Kinder über die Jahre hinweg ihre Vorstellungen zur Lebendigkeit der Umwelt oder der Kausalität ständig verändern.
- [8] Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde. Zürich 1954. Dort die Seite 27 (Original: 1932)
- [9] Das Konzept eines erweiterten Geistes wurde unter anderem von den Philosophen Andy Clark und David Chalmers mit entwickelt. Sie fragen sich, wo der Geist eines Menschen endet und die Welt beginnt (Where does the mind end and the rest of the world begin?). Ihnen zufolge ist es nun interessant, nicht die Grenze am Schädelknochen (skull) anzusetzen, sondern nach der Teilnahme außerhalb des Schädelknochen liegender Dinge an kognitiven Prozessen zu fragen. Er spricht von einem Externalismus (an active externalism, based on the active role of the environment in driving cognitive processes). Ein Beispiel: jemand betrachtet auf einem Computerbildschirm Figuren, die ähnlich wie Puzzle-Stücke so einander zugeordnet werden sollen, dass sie geometrisch zueinander passen. In einer ersten Version kann ein Betrachter die Figuren nur sehen. In einer zweiten Version kann der Betrachter die Figuren, etwa über eine Tastatur auch drehen. Und in einer dritten, fiktiven Version ist der Betrachter über ein Neuroimplantat mit dem Computer verbunden. Das Autoren fragen nach der Menge an Kognition in allen drei Beispielen (how much cognition is present) und argumentieren, dass es hier nur fließende Übergänge aber keine scharfe Grenze (fundamentally differen) gibt. Entsprechend deuten sie alle drei Versionen als Ausdruck eines erweiterten Geistes. In: Clark, Andy, and David Chalmers. “The Extended Mind.” Analysis, vol. 58, no. 1, 1998, pp. 7–19. JSTOR, http://www.jstor.org/stable/3328150. Accessed 2 Mar. 2024. Siehe auch Erweiterter Geist ↗
- [10] Wer die Analogie individueller psychischer Denkprozesse und solcher in Unternehmen interessant findet, sei auf eine Pionierarbeit des Biologen Hans Hass verwiesen. Hass arbeitete detailliert als Hypothese eine enge Entsprechung von biologischen Lebensformen und Unternehmen aus. Siehe dazu Energon ↗
- [11] Gemeint ist die Mathe-AC Lernwerkstatt Aachen. Dort werden seit 2010 die Fächer Mathematik, Physik und Chemie unterrichtet. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Enrichtment für hochinteressierte und hochbegabte Kinder und Jugengliche. Siehe auch Mathe-AC Lernwerkstatt Aachen ↗
- [12] Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Ersterscheinung bei Benno Schwabe & Co. in Basel. 1935. Siehe auch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ↗
- [13] Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976. Dort die Seite 57. (Übersetzung von The Structure of Scientific Revolutions).
- [14] Die Strahlenoptik wird bis etwa zur Klasse 10 behandelt. Typische Themen sind das Reflexionsgesetz (Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel), die Brechung von Lichtstrahlen beim Übertritt von Luft in Wasser (Snellius), die Umkehrbarkeit des Strahlenganges, die Entstehung von Schattenbildern, Lupen und Parabolspiegel. Viele der Gesetze der Strahlenoptik gelten aber nur für spezielle Sonderfälle. Die Strahlenoptik wird später selbst zu einem Sonderfall der Wellenoptik oder - noch allgemeiner - der Quantenelektrodynamik. Siehe mehr unter Strahlenoptik ↗