Soziale Differenzierung
Biologistisch
Grundidee
Als Differenzierung in der Biologie bezeichnet man die Ausbildung unterschiedlich spezialisierter Zell- und Gewebetypen in einem Organismus. Wenn ein Embryo aus einer einzigen Zelle entsteht, dann bildet er im Laufe seiner Entwicklung zum Beispiel Herzzellen, Gehirnzellen oder Immunzellen aus. Dieses Konzept lässt sich als Analogie auch auf gesellschaftliche Phänomene anwenden. Das ist hier kurz beispielhaft vorgestellt.
Differenzierung in der Soziologie
Schlecht bezahlte Straßenkehrer, Akademiker an Forschungsinstituten oder selbständige Kleinbauern auf dem Land: moderne menschliche Gesellschaften bilden oft sehr unterschiedliche Menschentypen und vor allem sehr unterschiedliche Lebensumstände für einzelne Menschen heraus. Den Prozess oder das Vorhandensein solcher unterschiedliche Lebensumstände nennt man in der Soziologie Differenzierung. Man unterscheidet zwei grundlegend verschiedene Formen einer Differenzierung.
Vertikale Differenzierung
Sklaven, Freie Bürger, Senatoren, Kaiser: das antike Rom kannte eine klar von unten nach oben abgestufte Rangfolge bei der mit einer höheren Stufe immer auch mehr Vorteile und Rechte verbunden waren. Welche Stufe man im Leben einnehmen konnte, war dabei stark von der familiären Herkunft geprägt. Eine solche Differenzierung von Lebensumständen nach Machtverhältnissen nennt man in der Soziologie eine vertikale Differenzierung ↗
Horizontale Differenzierung
Bauern, Priester, Maurer, Fischer: die Ausbildung unterschiedlich spezialisierter Menschen nach Berufen, aber ohne Hierarchie, bezeichnet man auch als horizontale Differenzierung ↗
Differenzierung in der Biologie
In der Evolution der Lebensformen auf der Erde kann man immer wieder beobachten, wie sieh ehemals eigenständige Einzeller zu Zellkolonien und später zu mehrzelligen Organismen verbinden. Mit diesem Prozess einher geht meist auch eine einsetzende Differenzierung der beteiligten Zellen. So gelten beispielsweise Schwämme als mögliche Vorfahren aller Tiere, und damit auch den Menschen. In Schwämmen gibt es Zellen, die sich um das Strudeln von Wasser kümmern, andere, die im wesentlichen nur die Nahrung aufnehmen und verdauen, während andere Zellen die Nahrung im Körper verteilen und wiederum andere Zellen der Fortpflanzung dienen. Siehe auch Differenzierung (Biologie) ↗
===== Differenzierung als Evolutionsprodukt?
Sowohl bei sozialen wie auch biologischen Systemen scheint es einen Zusammenhang zwischen Komplexität und Differenzierung zu geben. Möglicherweise ist eine Differenzierung eine Erfolgsstrategie, die sich früher oder später in einem geeigneten evolutionären Umfeld ergibt, wenn größere Gebilde entstehen können. Siehe dazu auch die biologistisch-soziologische Theorie zu Holismus und Evolution ↗
Differenzierung und Individualität
Man kann sich fragen, ob der Spielraum für Individualität über die Geschichte gesehen zu oder abnimmt. Zweifelsfrei dürfte sein, dass ein Stamm von Jägern und Sammlern weniger soziale Rolle bieten kann als eine moderne Großstadt. In einer steinzeitlichen Stammesgesellschaft waren die Betätigungsfelder der Mitglieder weitgehend vorgezeichnet. In einer modernen Industriegesellschaft kann man zwischen tausenden von Berufen und Bildungsgängen auswählen, es gibt eine Vielzahl sozialer Milieus und man kann seine Rollen auch während der Lebenszeit immer wieder neu definieren. Gleichzeitig verweisen verschiedene Soziologen auf den Umstand, dass innerhalb eines sozialen Feldes die Spielregeln fest vorgegeben sind und man nur weitgehend vorgezeichnete Rollen einnehmen kann[6, Seite 274]. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu zeigte das exemplarisch anhand von Gustave Flauberts Roman "Die Erziehung des Herzens" aus dem Jahr 1869. Ein junger Mann vom Lande tritt ausgestattet mit Geld in die feine Pariser Gesellschaft ein. Hin und her gerissen zwischen einem Leben für die Liebe, die Kunst und das Geld, erfährt er die unterschiedlichen Regeln jener drei Lebenssphären. Er ordnet sich keiner der Sphären endgültig unter und hält sich bis zum Ende alle Möglichkeiten offen. Das führt dann auch zu seinem endgültigen Scheitern. Bourdieu zeigte[5] an diesem Beispiel, wie jedes soziale Feld mit seien eigenen unsichtbaren Zwängen die Individuen auf fixe Spielregeln festlegt. Diese Spielregeln erfährt der einzelne Mensch als Sachzwang oder auch als mehr oder minder scheinheilige Werte einer soziale Gruppe, in der Sprache Bourdieus als Illusio ↗
Rene Worms über soziale Differenzierung (1896)
Im 19ten Jahrhundert entstand vor allem in Deutschland eine breite literarische Strömung zur Idee des Staates als Organismus. Worte wie Volkskörper[8], Staatsorgan[9][10] oder auch sozialer Organismus[11] oder vom sozialen Körper[12] bezeichnen diese Idee treffend. Der Franzose Rene Worms (1869 bis 1926) war ein französischer Soziologie. In einem 1896 erschienenen Buch[13] vergleicht er den sozialen Körper (corps social) mit Organismen. Eine erste Gemeinsamkeit hinsichtlich eine sozialen Differenzierung sei die leichte Ersetzbarkeit von Untereinheiten (elements): kommt es in einem sozialen Gebilde (etre sociale) zu einer Schädigung oder Zerstörung von einem Organ, so können die benachbarten Elemente (elements) erneut eine Differentiation durchlaufen und andere Teile funktional ersetzen (remplacer fonctionnellement). Worms spricht in diesem Zusammenhang bereits 1896 von Plastizität (plasticite), analog zur neuronalen Plastizität im Sprachgebrauch des späten 20ten Jahrhunderts (Seite 73). Als Beispiele für die Ersetzbarkeit einzelner Elemente im sozialen Körper erwähnt er den Austausch der US-amerikanischen Administation bei einem Wechsel der Regierungspartei oder ähnliche Vorgänge in der europäischen Politik. Worms verweist dann auf ähnliche Fähigkeiten bei den Zellen des Wasserpolypen Hydra
Fußnoten
- [1] Georg Simmel: Über sociale Differenzierung. In: Gesamtausgabe: Aufsätze 1887–1890, 2. Auflage. Suhrkamp. Frankfurt 1999. ISBN 3-518-57952-5. (erstveröffentlicht 1890).
- [2] Oster, G. F., and Wilson, E. O.: Caste and Ecology in the Social Insects. Princeton, NJ: Princeton University Press. 1978.
- [3] Seppä, P., Gyllenstrand, M., Corander, J., and Pamilo, P.: Coexistence of the social types: genetic population structure in the ant Formica exsecta. Evolution 58, 2462–2471. 2004. doi: 10.1111/j.0014-3820.2004.tb00875.x
- [4] Thorstein Veblen: The Theory Of The Leisure Class. 1899 (wörtlich: Die Theorie der müßigen Klasse); Übersetzung: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin, 1958. Neuauflagen: Fischer, 1997, ISBN 978-3-596-27362-1; 2007 ISBN 3-596-17625-5.
- [5] Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-57613-5. Siehe auch Die feinen Unterschiede ↗
- [6] Pierre Bourdieu: The social space and the genesis of groups. Theor Soc 14, 723–744 (1985). Dort die Seite 724. https://doi.org/10.1007/BF00174048
- [7] Julia Friedrichs: Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von Morgen. Hoffmann und Campe Verlag. 2008.
- [8] Winfried Süß: Der "Volkskörper" im Krieg: Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945 (Studien zur Zeitgeschichte, 65, Band 65). De Gruyter Oldenbourg. 2003. ISBN: 978-3486567199.
- [9] G. Jellinek: Die Staatsorgane. In: Allgemeine Staatslehre. Springer, Berlin, Heidelberg. 1929. https://doi.org/10.1007/978-3-642-50936-0_16
- [10] Albert Th. v. Krieken: Die sogenannte organische Staatstheorie. Leipzig. 1873
- [11] Spencer, Herbert: Principles of sociology. MacMillan, London 1969. Erstveröffentlichung im Jahr 1873
- [12] Albert Schäffle: Bau und Leben des socialen Körpers. 1875-1878.
- [13] René Worms: Les principes biologiques de l’evolution sociale. V. Giard et E. Brière, Paris 1910. Seite 73 ff: hier spricht Worms davon, dass sich Individuen im Volkskörper (corps social) an Funktionen anpassen (adapter a des fonctions) und sich dabei differenzieren (differencier).