Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation
Quantenphysik
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- 2025
Basiswissen|
Die Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation|
Das Doppelspaltsexperiment als Beispiel|
Das Atomorbital als Beispiel|
Naturgesetze als Wahrscheinlichkeitsgesetze|
Was ist das Revolutionäre an der Bornschen Interpretation?|
Gegenstimmen|
Fußnoten
Basiswissen
In der Quantenphysik werden Naturgesetze nur noch als Wahrscheinlichkeitsaussagen interpretiert: die Wahrscheinlichkeiten geben an, wie oft man im Schnitt ein bestimmtes Messergebnis erhält, wenn ein Versuch sehr oft durchgeführt wird. Betrachtet man die Quantenphysik als letztendlich fundamental, werden alle Naturgesetze zu Wahrscheinlichkeitsgesetzen. Hier ist kurz vorgestellt, was daran so revolutionär sein soll.
Die Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation
Die bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation oder bornsche Regel (vorgeschlagen 1926 von Max Born), ist als Interpretation der quantenmechanischen Wellenfunktion ein wesentlicher Bestandteil der Quantenmechanik. Sie beschreibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei der Durchführung einer Messung an einem Quantensystem ein bestimmter Messwert auftritt, insbesondere ein Teilchen dort angetroffen werden kann[4][5][6].
ZITAT:
"… die Wellen stellen die Ausbreitung der Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein von Teilchen dar."[4]
"… die Wellen stellen die Ausbreitung der Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein von Teilchen dar."[4]
In ihrer ursprünglichen Formulierung besagt die Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation, dass die Wahrscheinlichkeitsdichte, das Teilchen an einem bestimmten Punkt zu finden, proportional zum Betragsquadrat der Wellenfunktion des Teilchens an diesem Punkt ist.
Das Doppelspaltsexperiment als Beispiel
Bei diesem Experiment geht Licht durch zwei enge Spalten in einer Wand. Nach dem Durchgang durch die Spalten trifft das Licht auf eine zweite Wand, den sogenannten Schirm. Dort erzeugt es ein sogenanntes Interferenzmuster. Es gibt Rechengesetze, mit denen sehr genau vorhergesagt werden kann, in welchem Bereich auf dem Schirm wie viele Prozent der ursprünglich von der Lichtquelle ausgesandten Lichtteilchen ankommen werden, wenn man sehr viele Lichtteilchen durch die Spalten schickt. Es ist aber völlig unmöglich, eine Vorhersage über ein einzelnes Teilchen zu treffen. Die Rechengesetze geben im Bornschen Sinne nur Wahrscheinlichkeiten für die Messbarkeit an bestimmten Stellen auf dem Schirm an. Mehr dazu unter Doppelspaltexperiment ↗
Das Atomorbital als Beispiel
In der Atomphysik, vor allem aber in der Chemie, wird das Modell der Atomorbitale genutzt. In der Chemie steht es in engem Zusammenhang mit dem Aufbau des Periodensystems der Elemente. Die Orbitale werden dabei oft als Punktwolken unterschiedlicher Dichte um den Atomkern dargestellt. Die Wolkendichte steht für die Wahrscheinlichkeit, in einem kleinen Raumelement in einem kleinen Zeitraum dort ein Elektron anzutreffen. Die Deutung erfolgt nach dem Bornschen Prinzip. Siehe mehr dazu unter Orbitalmodell ↗
Naturgesetze als Wahrscheinlichkeitsgesetze
Im 20ten Jahrhundert gelang es, die bekannten Naturgesetze zur Wärme, Temperatur, Energie, Druck und Dichte auf ein rein stochastisches, wahrscheinlichkeitsbasiertes Teilchenmodell zu reduzieren. Das Ergebnis war die sogenannte kinetische Gastheorie. Später, in den frühen 1920er Jahren formulierte der Physiker Franz Serafin Exner die Vermutung, dass alle Naturgesetze möglicherweise Zufallsgesetze sein könnten. Als Max Born in den späten 1920er Jahren die Quantenphysik rein stochastisch deutete, wurde der fundamentale Zufallscharakter der Naturabläufe zunehmend auch in der Philosophie außerhalb der Physik wahrgenommen. Das Zufällige wurde zu einer beachteten Eigenschaft der Welt, vor allem auch in der Physik[2][3]. Siehe auch So-Sein der Welt ↗
Was ist das Revolutionäre an der Bornschen Interpretation?
Das Revolutionäre an der Bornschen Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Quantenphysik ist die Idee, dass der Zufallscharakter nicht durch eine technische Beschränkung der Messmöglichkeiten entsteht, sondern eine wesentliche Eigenschaft der beoachteten Zustände selbst ist. Wo sich ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhält, ist real unbestimmt, bis dass man eine Messung vornimmt. Das beobachtete Teilchen hat bis zum Zeitpunkt der Messung keinen bestimmten Aufenthaltsort sondern existiert nur als „Wahrscheinlichkeitsfeld“. Die Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation verschärft die alte philosophische Frage, was denn Existenz oder Sein eines physikalischen Objektes überhaupt bedeuten sollen. Die Frage, was denn Sein (vor allem auch im Sinne der Physik) überhaupt meint, ist die Leitfrage der Ontologie ↗
Gegenstimmen
Schon Albert Einstein hatte Zweifel an Borns Deutung geäußert. Max Born und Albert Einstein waren enge Freunde, die sich über Jahrzehnte, vom Ersten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre gegenseitig Briefe schickten. Wer den Briefwechsel aufmerksam liest, wird in der Zeit der 1930er Jahre verstörende Misstöne finden. In der Deutung der Quantenphysik blieben sich die zwei großen Denker zeitlebens fremd. Einstein lehnte die Zufälligkeit als Grundlage allen Geschehens ab:
ZITAT:
"Die Quantenmechanik ist sehr achtungsgebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt."[7]
"Die Quantenmechanik ist sehr achtungsgebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt."[7]
Dass die elementaren Ereignisse der Welt rein zufällig ablaufen sollten missfiel Einstein deutlich. Gut 90 Jahre nach Einsteins Äußerungen hatte der Niederländer Gerard 't Hooft ein detailliertes, mathematisches Modell der Physik ausgearbeitet, in dem der Zufall aus der Quantenphysik verbannt wird:
ZITAT:
"Es kann durchaus sein, dass es in der Natur auf ihrer grundlegendsten Ebene keine Zufälligkeit und keinen grundsätzlich statistischen Aspekt der Evolutionsgesetze gibt. Bis ins kleinste Detail unterliegt alles unveränderlichen Gesetzen. Jedes bedeutende Ereignis in unserem Universum findet aus einem bestimmten Grund statt, es wurde durch die Wirkung physikalischer Gesetze verursacht und nicht nur durch Zufall."[8]
"Es kann durchaus sein, dass es in der Natur auf ihrer grundlegendsten Ebene keine Zufälligkeit und keinen grundsätzlich statistischen Aspekt der Evolutionsgesetze gibt. Bis ins kleinste Detail unterliegt alles unveränderlichen Gesetzen. Jedes bedeutende Ereignis in unserem Universum findet aus einem bestimmten Grund statt, es wurde durch die Wirkung physikalischer Gesetze verursacht und nicht nur durch Zufall."[8]
Konsequenterweise weist 't Hooft dann auch die Idee eines Freien Willen zurück. Er zeigt an mehreren Stellen[8][9], dass die mathematischen Beschreibungen der Quantenphysik, vor allem die Dirac-Notation, auch dann angewendet werden können, wenn die fundamentalte Wirklichkeit streng deterministisch ist.
Fußnoten
- [1] Max Born: Zur Quantenmechanik der Stoßvorgänge. In: Zeitschrift für Physik. Band 37, Nr. 12, 1926, S. 863–867. DOI: 10.1007/BF01397477
- [2] Die Gesetze der Quantenphysik beruhen letztendlich auf Wahrscheinlichkeiten: "Grundsätzlich sagt die Quantenmechanik nicht ein bestimmtes Ergebnis für eine Beobachtung voraus, sondern eine Reihe verschiedener möglicher Resultate, und sie gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit jedes von ihnen eintreffen wird" In: Stephen Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Englischer Originaltitel: A Brief History of Time. From the Big Bang to Black Holes. Deutsch im Rohwolt Taschenbuch Verlag. 1988. ISBN: 3-499-188-50-3. Dort die Seite 78.
- [3] Dass die moderne Physik nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen trifft, betonte auch der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman (1918 bis 1988): "Von Philosophen wurde die Behauptung aufgestellt, daß, wenn die gleichen Umstände nicht immer zu den gleichen Resultaten führen, Vorhersagen unmöglich sind, was das Ende der Naturwissenschaften bedeuten müßte." Am Beispiel der sogenannten partiellen Reflexion von Licht an einer Glasplatte zeigt Feynman, dass dieses Prinzip nicht mehr gilt. Richtet man zum Beispiel ein Photon in immer derselben Richtung auf dieselbe Glasscheibe müsste das Photon auch immer am selben Zielort A oder B ankommen. Dazu Feynman weiter: "Wir können nicht vorhersagen, ob ein bestimmtes Photon in A oder B anlangen wird. Wir können einzig voraussagen, daß von 100 Photonen, die auf dem Glas landen, durchschnittlich 4 an der Oberfläche reflektiert werden. Heißt das nun, daß die Physik, eine Wissenschaft mit großer Genauigkeit, sich damit zufriedengeben muß, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses zu berechnen, und außerstande ist, genau vorherzusagen, was passieren wird? Ja, das heißt es." In: Richard Feynman: QED: Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie. Piper Verlag. 1. Auflage 1992. ISBN: 3-492-21562-9. Dort die Seite 30. Was hier also aufgegeben wird ist das sogenannte Kausalitätsprinzip ↗
- [4] Max Born: "… die Wellen stellen die Ausbreitung der Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein von Teilchen dar." In: Albert Einstein Max Born Briefwechsel 1916-1955. Geleitworte von Bertrand Russell und Werner Heisenberg. Ullstein Buch, Frankfurt am Main, 1986. ISBN: 3-548-3445-7. Der Satz wurde in den 1960er Jahren als Kommentar zu Born eigenem Briefwechsel mit Einstein geschrieben. Dort auf Seite 124.
- [5] "Elektronen wird einen Wellenfunktion ψ(x,t) zugeordnet, die sich nach Wellengesetzen ausbreitet.|ψ(x))|² beschreibt die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung ein Elektron am Ort x zu finden." Hier ist kritisch anzumerken, dass der Ort x nicht einen Punkt im Raum meint, sondern ein infinitesimal kleines Raumvolumen. Desweiteren gilt die Wahrscheinlichkeitsinterpretation nicht nur für Elektronen sondern generell auch für andere Quantenobjekte. Max Born sprach dazu passend nur von Teilchen, ohne diese näher zu präzisieren. Eine dritte Kritik betrifft die in der Definition verwendete Idee der Ausbreitung. In einem Atom etwa, breitet sich die Wellenfunktion nicht aus, sie ändert ihr Raumvolumen nicht. Hier wäre es besser zu sagen, dass die Werte der Wellenfunktion im Raum sich ändern. In: Dorn.Bader. Physik SII Gesamtband Gymnasium. Westermann Bildungsmedien. Braunschweig. 2023. ISBN: 978-3-14-152376-8.
- [6] "Analog zur elektromagnetischen Welle für Photonen wird das Verhalten von Elektronen und anderer Materieteilchen durch eine Wellenfunktion ψ(x,y,z,t) beschrieben, deren Quadrat proportional zur Wahrscheinlichkeit ist, ein Teilchen im Raumpunkt P(x,y,z) zur Zeit t anzutreffen." Und weiter unten heißt es korrekter: "Die ψ-Funktion beschreibt die Ausbreitung von Teilchen oder genauer die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen in einem bestimmten Raumvolumen nachzuweisen." In: Metzler Physik. 5. Auflage. 592 Seiten. Westermann Verlag. 2022. ISBN: 978-3-14-100100-6. Dort im Kapitel "10.3.2 Wellenfunktion und Wahrscheinlichkeitsinterpretation" auf Seite 401.
- [7] Einsteins "Gott würfelt nicht" findet man in einem Brief Einsteins an Born vom 4. Dezember 1926. Nachzulesen in: Max Born: Albert Einstein Max Born Briefwechsel 1916-1955. Geleitworte von Bertrand Russell und Werner Heisenberg. Ullstein Buch, Frankfurt am Main, 1986. ISBN: 3-548-3445-7.
- [8] Der niederländische Physiker und Nobelpreisträger Gerard 't Hooft argumentiert in verschiedenen Schriftstücken gegen die Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation. In verschiedenen Schriften zeigt er, dass die Bornsche Deutung der Quantenphysik als Ausdruck einer der Welt zugrunde liegenden Zufälligkeit nicht nötig ist: "It may well be that, at its most basic level, there is no randomness in nature, no fundamentally statistical aspect to the laws of evolution. Everything, up to the most minute detail, is controlled by invariable laws. Every significant event in our universe takes place for a reason, it was caused by the action of physical law, not just by chance." Und: "This is the general picture conveyed by this book." In: Gerard 't Hooft: The Cellular Automaton Interpretation of Quantum Mechanics. Springer. 2016.
- [9] Sehr ausführlich: Gerard t'Hooft: Time, the arrow of time, and Quantum Mechanics. 2018. Online: https://doi.org/10.48550/arXiv.1804.01383