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Das Banner der Rhetos-Website: zwei griechische Denker betrachten ein physikalisches Universum um sie herum.

Milieutheorie

Soziologie

Basiswissen


Der Mensch wird in seinem Verhalten ganz von seiner Umgebung, seinem Erbgut und seinem sozialen Milieu beeinflusst, nicht etwa durch einen freien Willen: die Milieutheorie entstand im 19ten Jahrhundert, mit ideengeschichtlichen Wurzel die tief im mechanistischen Denken des 18ten Jahrhunderts verankert waren. Heute steht der Begriff der Milieutheorie jedoch einschränkend dafür, dass nur die soziale Umwelt und nicht die Gene (also das Erbmaterial) unser Verhalten beeinflussen[6]. Das ist hier kurz vorgestellt.

Schlaglichter auf die Historie der Milieutheorie


Dass das Umfeld in dem man lebt einen mehr oder minder großen Einfluss auf das konkrete Verhalten einzelner Menschen hat, bedarf als offensichtlicher Lebensweisheit keiner wissenschaftlichen Begründung. Spricht man aber von einer Theorie, so deutet man damit doch eine mehr oder minder wissenschaftliche Haltung an, aus der heraus etwas betrachtet wird. Wie der Mensch durch sein Milieu geprägt wird und was das für die Entwicklung von Gesellschaften bedeuten kann hat als wissenschaftlicher Gedanke seinen Wurzeln im mechanistischen Denken des 18ten Jahrhunderts und hat sich seitdem zu einer wirkmächtigen Strömung innerhalb der Soziologie weiter entwickelt.

1748: La Mettries Maschine Mensch


Mit dem Erstarken mechanistisch geprägter Versuche einer Welterklärung im 18ten Jahrhundert begann man auch den Menschen als reines Produkt seiner Umwelt zu sehen. Großes Aufsehen erregte in dieser Zeit die Schrift "Die Maschine Mensch" des Franzosen Julien Offray de la Mettrie:

ZITAT:

"Man hat einen Menschen abgerichtet wie ein Thier; man ist Schriftsteller geworden wie Lastträger. Ein Geometer hat erlernt die schwersten Beweise und Berechnungen darzulegen, wie ein Affe seinen kleinen Hut abzunehmen oder aufzusetzen und auf seinem gelehrigen Hunde zu reiten. Alles ist durch Zeichen zu Wege gebracht; jede Art hat begriffen, was sie begreifen konnte, und so haben die Menschen auf diese Weise die symbolische Erkenntniss, wie selbige von unseren deutschen Philosophen noch heute genannt wird, erlangt. Man sieht also, nichts ist so einfach wie die Mechanik unserer Erziehung! Alles lässt sich auf Töne oder auf Worte zurückführen, die von dem Munde des einen durch das Ohr des andern ins Gehirn gehen, welches zu gleicher Zeit vermittelst der Augen die Gestalt der Körper erhält, deren willkürliche Zeichen diese Worte sind."[11]

Der Autor, la Mettrie, wurde zu seiner Zeit stark angefeindet. Selbst in den damals toleranten Niederlanden wurde er nicht geduldet. Erst am Hof des Preußenkönigs Friedrich II in Potsdam erhielt la Mettrie einen (engen) Freiraum. Man begreift die polarisierende Wirkung des ganz und gar materialistischen Denkens eines la Mettrie vielleicht erst dann, wenn man sich gleichzeitig auch auf mehr religiös geprägte Gedankenwelten einlässt. In diesen ist der Mensch nicht zufälliges Produkt seiner Umwelt sondern Ausdruck und Ebenbild eines göttlichen Willens und Träge einer Würde. Die provokativen Sichten eines la Mettrie waren aber dennoch Vorzeichen einer neuen Strömung wissenschaftlichen Denkens, die dann im 19ten Jahrhundert eine klare Gestalt annahm.

1863: Hippolyte Taines Milieu, Rasse und Umstand


Im 19ten Jahrhundert floss mechanistisches Gedankengut zunehmend in die Behandlung soziologischer Themen mit ein. Man denke hier beispielhaft an Darwins Evolutionstheorie aus dem Jahr 1860. Es war der Franzose Auguste Comte (1798 bis 1857) der das Programm einer streng logisch rein wissenschaftlichen Begründbarkeit menschlichen Verhaltens skizzierte.[12] Comte war es auch, der seinem Landsmann Hippolyte Taine (1828 bis 1893) die Idee zugestand, den Einfluss des Milieus auf den Menschen klar in einer mechanistischen Form[13] ausformuliert zu haben. Taine dachte streng in Ursachen und Wirkungen:

ZITAT:

"Das Laster und die Tugend sind Produkte wie Vitriol und Zucker, und jede komplexe Gegebenheit entsteht durch das Zusammentreffen anderer, einfacherer Gegebenheiten, von denen sie abhängt. Suchen wir also die einfachen Gegebenheiten für die moralischen Eigenschaften, so wie man sie für die physischen Eigenschaften sucht.“[14]

Hippolyte Taines Gedanken passen in den Zeitgeist. In den 1840er Jahren arbeiten die deutschen Karls Marx und Friedrich Engels an ihrer Theorie, dass der Gang der Geschichte logischen "materiellen" Notwendigkeiten folgt. Taine sucht dann die tieferen Ursachen menschlichen Verhaltens[1]. In der Suche nach den Ursachen kommt dann die Idee des Milieus ins Spiel:"

ZITAT:

Drei unterschiedliche Ursachen wirken zusammen, die Rasse , das Milieu und der Moment.[15]

Unter Rasse versteht Taine eine Gruppe von Menschen mit einer bestimmten ererbten Neigung zu denken und zu fühlen.[16] Das Milieu bildet die innere Struktur, in der eine Rasse lebt.[17] Beispielhaft führt er dazu die geographischen Unterschiedliche in denen germanische und lateinische Völker siedeln an und begründet damit ihre unterschiediche Haltung etwa zu Krieg, Spiel und Handel.[18] Mit Moment schließlich meint Taine einen bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte. Denn je nach dem gewählten Zeitpunkt, können dieselben Ursachen andere Wirkungen hervorbringen.[19]

Bei Hippolyte Taine sehen wir die Idee des Milieus als eine von drei Ursachen menschlichen Verhaltens nicht nur im Sinne eine isolierten Behauptung in den Raum gestellt. Vielmehr ist der Einfluss des Milieus Teil eines umfassenderen gedanklichen Konstrukts formuliert. In diesem Sinn eines Drangs hin zu komplexeren soziologischen Gedankengebäuden kann Taine somit als Urheber einer Milieutheorie angesehen werden. Der Begriff des Milieus als sozial prägende Kraft war fortan fest in der Soziologie etabliert.[2][3][10]

1900: Thorstein Veblen: das Milieu der Reichen


Für das Amerika der Zeit um 1900 untersuchte der US-Amerikaner Thorstein Veblen die Sitten der Reichen und zeigte, wie der klassengebundene Zwang zur Demonstration von Reichtum individuelle Charakterzüge überdeckte. Für Geld arbeiten zu müssen galt zur Zeit Veblens als Stigma[3]. Das soziale Milieu prägt damit sehr weitgehend das individuelle Verhalten. Siehe dazu den Artikel zum Veblen-Effekt ↗

1935 und später: Fachkulturen als Milieus


Im Jahr 1935 veröffentlichte der polnische Arzt Ludwik Fleck ein kleines Buch über Wissenschaftler als Denkkollektive.[24] Spätestens begann sich die wissenschaftliche Forschung für Fachkulturen im Sinne von eigenen Milieus zu interessieren. Dabei prägen die Fachkulturen durch vielfältige Prozesse das Denken und auch das äußere Aussehen, den Habitus, ihrer Angehörigen, es findet also eine "Disziplinierung" statt[25], die sich stark dann auch die Außendarstellung der Fachkulturen prägt[26].

1960er Jahre: Pierre Bourdieu: Milieus im Alltag


Für die Länder Algerien und Frankreich der 1960er bis 70er Jahre führte der Franzose Pierre Bourdieu umfangreiche und detaillierte milieutheoretische Studien durch. Sie zeigen vor allem, wie sehr menschliches Verhalten und menschliche Vorlieben (Essen, Trinken, Kleidung, Wohnunseinrichtung) von ihrem jeweiligen sozialen Milieu abhängen[2]. Zu Bourdieus Gedanken siehe auch den Artikel Die feinen Unterschiede ↗

2020: Die Milieutheorie in der Marktforschung


Die kommerziell arbeitende SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH greift Kerngedanken der Mileutheorie auf und macht sie unter anderem wirtschaftlich nutzbar. Die insgesamt zehn Sinus-Milieus fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammen. Im Jahr 2021 definierte das Institut für Deutschland die folgenden 10 Milieus. Die Prozentangaben stehen für den Anteil der Personen in diesem Milieu:


Das Institut wirbt unter anderem damit, dass sogenannte "Milieu-Landkarten" dabei helfen, "Produkte, Marken, Parteien, Medien" zielgruppengenau zu platzieren. Das Institut bietet dazu Expertisen, Fortbildungen und Informationsmaterial an und ist auch an internationalen Forschungsprojekten beteiligt, wie zum Beispiel: a) Auswirkungen der Corona-Pandemie auf vulnerable Gruppen, b) Auswirkungen von Narrativen und Wahrnehmungen von Europa auf Migration, c) Best Practice-Umfrageinstrumente für die Musikindustrie.

Zwischen Selbstbestimmung und Funktionalität


Wo eine Milieutheorie so weit geht, alle wesentlichen Regungen eines Menschen ganz auf materielle[21] äußere Umstände zurückzuführen, erkennt sie dem Menschen einen freien Willen und jede Autonomie ab. Umgekehrt kann das Milieu aber auch Heimat und Verbundenheit stiften, im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Ausbildung unterschiedlicher sozialer Milieus zu effektiven sozialen Strukturen innerhalb größerer Organisationen führen kann.[22]

Milieus und Arbeitsteilung


Maschinenbauer kleiden sich anders als Jurastudenten. Und Physiker[14] lachen über andere Witze als Politologen. Was zunächst nur wie eine oberflächliche Banalität aussieht hat aber einen tieferen Sinn und Zweck. In einem Buch aus dem Jahr 2004 werden die vier Hochschulfächer Physik, Biologie, Literatur und Geschichte als unterschiedliche Fachkulturen vorgestellt[8]. Dort heißt es: "Das Lernen einer Wissenschaft verlangt mehr von den Studierenden als nur das Lernen der »offiziellen Theorien« und Methoden. Denn die Identität einer Disziplin […] bildet sich nicht zueletzt durch ihre Traditionen und Brüche, ihre wissenschaftlichen Praktiken, sowie durch die moralischen Normen und Regeln des Verhaltens […]" [Seite 18]. Das macht Sinn, "Denn zu einer Wissenschaft […] werden die Forschungen erst, indem Gruppen von Forschern mit denselben paradigmatischen Modellen (und den mit diesem verbundenen Methoden und Argumentationsweisen) arbeiten, so dass ihre Ergebnisse sich letztendlich zu einer Wissenschaft verbinden [Seite 19]." Wichtig ist auch, dass "welcher Art das gesuchte Wissen ist [Seite 21]". Auch die als selbstverständlich anerkannten Kriterien von wahr und falsch unterscheiden sich in den Fächern stark: Literaturwissenschaftler würden zum Beispiel den »ästhetischen Geschmack« als Wahrheitskriterium gelten lassen, Geschichtswissenschaftler hingegen niemals. Für Physiker typisch sei das Experiment das wichtigste Wahrheitskriterium. In den Worten Pierre Bourdieus prägt der Wissenschaftler dann einen sozialen »Habitus« aus, der ihn für sein »soziales Feld« geeignet macht. Wenn Anfänger zu Mitgliedern einer Wissenschaftskultur werden, so durchlaufen sie eine Sozialisierung, ganz in Analogie zu der Differenzierung von biologischen Nerven wenn sie zu einem Teil eines Zellgewebes werden. Soziale Milieus festigen damit die gesellschaftliche Fähigkeit für eine Arbeitsteilung ↗

Milieus als Katalsysator einer Soziogenese


Um das Jahr 900 vor Christus blühte im wüstenhaften Südwesten der heutigen USA plötzlich die indianische Chaco-Canyon-Kultur auf. Es entstanden große Städte mit aufwändig gebauten steinernen Gebäuden sowie eine komplexe Verkehrsinfrastruktur zur Einbindung weit entfernter Siedlungen. Was löste diesen kulturen Phasenwechsel von einer Stammesgesellschaft hin zu einer komplexen Stadtgesellschaft[23] aus? Die dort lebenden Indianer hatten schon viele Jahrhunderte vorher die Landwirtschaft eingeführt, sodass diese als allein auslösender Faktor nicht in Frage kommt. Der Komplexitätsforscher Roger Lewin vermutet, dass es die „Erfindung“ der Arbeitsteilung war[7]. Wenn sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf je eine bestimmte Tätigkeit konzentrieren, steigt dadurch die Effektivität der Gesellschaft als Ganzes möglicherweise sprunghaft an. Denkbar ist dann, dass eine soziale Differenzierung in Milieus auch eine arbeitsteilige Organisation gesellschaftlicher Aufgaben (Landwirtschaft, Militär, Verwaltung etc.) fördert und somit zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Gesellschaften wird. Die Arbeitsteilung wäre dann keine Folge einer städtischen Kultur, sondern eine ihrer Ursachen. Mehr zu diesem Beispiel steht im Artikel zur Chaco-Canyon-Kultur ↗

Fußnoten