Mechanistisches Weltbild
Philosophie
Basiswissen
„Alles ist Springfeder, Hebel, Winde, hydraulische Maschine, chemisches Laboratorium vom Gras bis zur Eiche, vom Floh bis zum Menschen, vom Sandkorn bis zu den Welten“[1]: diese Vorstellung, hier in den Worten des Philosophen Voltaire (1694 bis 1784), nennt man als Weltbild Mechanismus. Das ist hier kurz vorgestellt.
Die Grundidee des mechanistischen Weltbildes
Der englische Philosoph und Mathematiker Isaac Newton (1642 bis 1727) legte mit seinem Hauptwerk, der Principia Mathematica aus dem Jahr 1687, das Fundament für die Naturwissenschaften, das Ingenieurswesen und die Naturphilosophie wie wir sie heute kennen. Die Mechanik erzielte bereits im 18ten Jahrhunderte beachtliche Erfolge[16]. Man spann den Gedanken fort und schloss, dass möglicherweise die gesamte Welt wie eine Mechanik abläuft[17]. Im 18ten Jahrhundert glaubten viele Denker dann tatsächlich, dass sich alles was in der Welt passiert auf mechanische Vorgänge zurückführen ließe und frei von jeder Einflussnahme durch etwas Seelisches sei[4]. Sie stellten sich die Welt vor, als sei sie aus vielen kleinen Kügelchen, den Atomen, aufgebaut. Und so wie man die Bewegung der Planeten vorausberechnen konnte, so wollte man auch die Bewegung aller Atome vorausberechnen können. Das war die Idee des Mechanismus. Zur physikalischen Grundidee siehe auch Mechanik ↗
Die Erde als Mechanismus
Der Geologe James Hutton revolutionierte im 18ten Jahrhundert den Blick des Menschen auf die Erde. Dabei bediente er sich Metaphern, die ganz im Sinn eines mechanistischen Weltbildes waren. Er schreibt von einem Mechanismus und einer Maschine. Klassische Signalworte für mechanistisches Denken sind etwa motion (Bewegung) und machine (Maschine): "Such is the mechanism of the globe: Let us now mention some of those powers by which motion is produced, and activity procured to the mere machine.[2]" Die Idee einer Erde, die nach reinen Naturgesetzen abläuft, findet sich heute wieder im Systemdenken, etwa in Form der naturalistischen Gaia-Theorie ↗
Der Mensch als Mechanismus
Bereits Rene Descartes (1592 bis 1651) betrachtete den menschlichen Körper als eine Mensche, wennauch noch gesteuert von einer Seele[13]. Großes Aufsehen erregte dann im Jahr 1748 der französische Freidenker Julien Offray de la Mettrie mit seinem provokativen Buch, in dem er den Menschen ganz als Maschine darstellte[14]. Was wir tun oder wünschen hängt nur von äußeren Einflüssen und inneren Zuständen, etwa der Körpersäfte oder der Verdauung ab[3]. Siehe auch Die Maschine Mensch ↗
Der Staat als Mechanismus
Während antike und mittelalterliche Metaphern den Staat oft als Organismus sahen, setzte der englische Philosoph Thomas Hobbes den Menschen mit einer Maschine[5] und den Staat mit einem Menschen gleich, machte also den Staat damit auch zu einer Maschine[6]. Im Deutschen bildete sich später dazu passend die Begriffe vom Staatsapparat[7] und der Staatsmaschine[8] heraus.
Arbeitsprozesse als Mechanismus
In der Welt der Unternehmen, der Organisationen und der Wirtschaft an sich tritt die mechanistische Vorstellung vom Menschen oft in statistischer Form auf. Sammelbegriffe wie Humankapital[9], Beförderungsfall[10] oder conversion rate[11] machen individuelle Menschen zu anonymen Größen, die bei ausreichender Anzahl ähnlich zuverlässig berechnet werden können, wie die Teile einer Maschine. Konsequent und effektiv ist die detaillierte Stellen- oder Arbeitsplatzbeschreibung[12]. Erfüllt ein Mensch seine Funktionalität, ist er ähnlich zuverlässig planbar wie ein nach ISO gefertigtes Zahnrad in einem Uhrwerk. Eine frühe konsequente Theorie vom Menschen als austauschbarem Teil eines Produktionsprozesses war der sogenannte Taylorismus ↗
Der Mechanismus als Sonderfall des Materialismus
Der Mechanismus als Weltbild ist ein Sonderfall der Materialismus, nämlich Materialismus ohne Felder und echte Fernwirkung gedacht: klassische mechanistische Vorstellungen bauten auf der Idee auf, dass die gesamten Erscheinungen der Welt letztendlich aus kleinsten stofflichen Elementen, der Materie hergeleitet werden können. Diese können nur dann in Wechselwirkung miteinander treten, wenn sie sich berühren. Metaphorisch gesprochen, mussten alle physikalischen Prozesse auf Materie, Hebel, Feder, Seile und derlei Modelle heruntergebrochen werden. So dachte man sich Licht zwar bereits im 17ten Jahrhundert als Wellt[15], suchte aber für diese eine materielle Grundlage, den Äther, der dann wieder ganz mechanisch als Träger des Licht funktionierte. Die gleiche Frage stellte sich für die Schwerkraft: kann diese durch den leeren Raum übertragen werden, oder braucht sie eine materielle Grundlage? Wenn man aber diese Annahme aufgibt, und etwa echte Fernwirkung in Betracht zieht, verlässt man die Grundlage eines strengen Mechanismus. Wenn dann aber noch immer die Materie als Träger aller wesentlichen Phänomene der Welt gilt, erweitert man damit das Weltbild des Mechanismus zum Weltbild des Materialismus ↗
Der Mechanismus als Sonderfall des Determinismus
Der Mechanismus als Weltbild ist ein Sonderfall des Determinismus: Determinismus heißt, dass jeder Zustand der Welt eine eindeutige Folge vorheriger Zustände der Welt war. Es gibt keine Abweichungen von den (Natur)Gesetzen, die letzendlich jede noch so gorße und jede noch so kleine Veränderung in der Welt genauestens regeln. Anders als der Mechanismus können die alles regelnden Gesetze aber auch Ausdruck materiefreier Felder, göttlichen Willen oder sonstiger metaphyischer Prinzipien sein. Siehe auch Determinismus ↗
Fußnoten
- [1] Zitiert nach: Sakmann, Paul (1910): Voltaires Geistesart und Gedankenwelt. Stuttgart: Fromman. Seite 161.
- [2] James Hutton: THEORY OF THE EARTH. WITH PROOFS AND ILLUSTRATIONS. Das Zitat findet sich am Anfang des Kapitels I (THEORY OF THE EARTH; or an Investigation of the Laws observable in the Composition, Dissolution, and Restoration of Land upon the Globe). Online: https://www.gutenberg.org/files/12861/12861-h/12861-h.htm
- [3] Julien Offray de la Mettrie: Die Maschine Mensch. 1748. Siehe Die Maschine Mensch ↗
- [4] Ernst Haeckel charakterisiert Mechanismus als den glauben an eine entsteelte Materie, und weist diese Vorstellung als irrtümlich zurück. Haeckel schreibt: "Kein Vorwurf wird der heutigen Naturwissenschaft häufiger gemacht […] als derjenige, daß sie die lebendige Natur zu einem seelenlosen Mechanismus herabwürdige, alle Ideale aus der realen Welt verbanne und die ganze Poesie zerstöre. Wir glauben, daß unsere vorurteilsfreie, vergleichende und genetische Betrachtung des Seelenlebens jenen irrtümlichen Vorwurf entkräftet. Dann nach unserer einheitlichen oder monistischen Naturauffassung ist gerade umgekehrt alle lebendige Materie beseelt, und die wundervollste aller Naturerscheinungen, die wir herkömmlich nur mit dem einen Worte 'Geist' oder 'Seele' bezeichnen, ist eine ganz allgemeine Eigenschaft des Lebendigen. Weit entfernt, an eine rohe und seelenlose Materie zu glauben wie unsere Gegner, müssen wir vielmehr in aller lebendigen Materie, in allem Protoplasa, die ersten Elemente alles Seelenlebens annehmen: die einfache Empfingsform der Lust und Unlust […]" In: Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen. Vortrag gehalten am 22. März 1878 in der Concordia zu Wien. Als Buch herausgegeben vom Verlag Alfred Krömer im Jahr 1909. Dort die Seite 51. Siehe auch Zellseelen und Seelenzellen ↗
- [5] Ganz zu Beginn des Leviathan schreibt Hobbes: "For seeing life is but a motion of Limbs, the begining whereof is in some principall part within; why may we not say, that all Automata (Engines that move themselves by springs and wheeles as doth a watch) have an artificiall life? For what is the Heart, but a Spring; and the Nerves, but so many Strings; and the Joynts, but so many Wheeles, giving motion to the whole Body, such as was intended by the Artificer?" Auf Deutsch in etwa: "Hat man erkannt, dass Leben nur eine Bewegung von Gliedmaßen ist […] können wir dann nicht sagen, dass alle Automaten (Maschinen, die sich selbst bewegen mit Federn und Rädern wie eine Uhr) ein künstliches Leben haben? Denn was anders ist das Herz als eine Feder, und die Nerven viele Feder, und die Gelenke nur Räderwerk […]?" In: Thomas Hobbes: Der Leviathan. 1651.
- [6] In der Einleitung zum Leviathan vergleicht Thomas Hobbes den Staat mit einem Lebewesen, einem individuellen Menschen. Dabei bleibt der Vergleich im Metaphorischen: "For by Art is created that great LEVIATHAN called a COMMON-WEALTH, or STATE, (in latine CIVITAS) which is but an Artificiall Man; though of greater stature and strength than the Naturall, for whose protection and defence it was intended; and in which, the Soveraignty is an Artificiall Soul, as giving life and motion to the whole body; The Magistrates, and other Officers of Judicature and Execution, artificiall Joynts; Reward and Punishment (by which fastned to the seat of the Soveraignty, every joynt and member is moved to performe his duty) are the Nerves, that do the same in the Body Naturall; The Wealth and Riches of all the particular members, are the Strength; Salus Populi (the Peoples Safety) its Businesse; Counsellors, by whom all things needfull for it to know, are suggested unto it, are the Memory; Equity and Lawes, an artificiall Reason and Will; Concord, Health; Sedition, Sicknesse; and Civill War, Death. Lastly, the Pacts and Covenants, by which the parts of this Body Politique were at first made, set together, and united, resemble that Fiat, or the Let Us Make Man, pronounced by God in the Creation." Siehe auch Leviathan ↗
- [7] Friedrich Engels verwendete den Begriff Staatsapparat im Zusammenhang mit dem Berliner Aufstand aus dem Jahr 1848. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1960, Band 8, S. 5. Entstanden August 1851 bis September 1852. Siehe unter Staatsapparat ↗
- [8] Der Begriff von der Staatsmaschine wird unter anderem in Grimms Wörterbuch aus dem Jahr 1905 erwähnt. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 2 (1905), Bd. X,II,I (1919), Sp. 312, Z. 67. Siehe dazu Staatsmaschine ↗
- [9] Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert Humankapital als das "auf Ausbildung und Erziehung beruhende Leistungspotenzial der Arbeitskräfte (Arbeitsvermögen)." In: Andreas Schäfer: Humankapital Gabler Wirtschaftslexikon. Abgerufen am 4. Januar 2024. Online: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/humankapital-32920
- [10] Eine Person wird zum Beförderungsfall: "Als beförderte Person oder Beförderungsfall gilt eine nicht unterbrochene Fahrt eines Verkehrsgastes auf dem Netz eines Verkehrsunternehmens, unabhängig davon, ob nur ein Verkehrsmittel oder mehrere vom Unternehmen betriebene Verkehrsmittel benutzt wurden." In: Definitionen und Erläuterungen des Thüringer Landesamtes für Statistik. Online. Abgerufen am 4. Januar 2024.
- [11] Der Mensch als Conversion rate: "A user is converted from being a visitor or prospect into a buyer or customer. In technical language, it is also said that the user “converts”. Internet Glossar der Conductor GmbH aus Berline. Abgerufen am 4. Januar 2024. Das klassische Beispiel ist die Umwandlung (conversion) eines sichtbar angebotenen Produktes zum Kauf in den eigentlichen Kaufakt. Das Internet ist voll mit Anleitungen, wie man Besucher einer Internetseite auf raffinierte Weise in Käufer konvertiert. Blinkende Buttons, die richtige Platzierung auf dem Monitor, kurze eindeutige Worte mit Aufforderungscharakter oder die Andeutung seriöser und guter Kundenbewertungen sind nur wenige oft genannte Methoden.
- [12] In Form einer Stellen- oder Arbeitsplatzbeschreibung tritt der individuelle Mensch ganz hinter die von ihm erwarteten Funktionalitäten zurück. Erfüllt der Mensch die definierten Funktionen ausreichend gut, so ist er im Arbeitsprozess ähnlich zuverlässig planbar wie ein Zahnrad in einem Urhwerk. Thomas Bartscher definiert eine Stellenbeschreibung als eine "verbindliche, in schriftlicher Form abgefasste Fixierung der organisatorischen Eingliederung einer Stelle im Betrieb hinsichtlich ihrer Ziele, Aufgaben, Kompetenz, Pflichten". In: Gabler Wirtschaftslexikon online. Abgerufen am 4. Januar 2024. Online: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/stellenbeschreibung-44447
- [13] Den Gedanken vom Menschen als Maschine entwickelte Rene Descartes (1596 bis 1651) unter anderem in seinem Buch über den Menschen: De homine (postum 1662). Deutsch: „Über den Menschen“. Dort schreibt er: "Dies (die Ausführungen der Bewegungen von den Lebensgeistern) wird denjenigen keineswegs verwunderlich erscheinen, die wissen, wie viele verschiedene Automaten oder bewegungsfähige Maschinen die Geschicklichkeit der Menschen herstellen kann, und dies im Vergleich zu der großen Anzahl von Knochen, Muskeln, Nerven, Arterien, Venen und all den anderen Teilen, die im Körper eines jeden Tieres sind". Descartes ließ seine Maschine Mensch durch eine Seele (in der Zirbeldrüse) steuern. Spätere Autoren entfernten die Seele dann ganz aus ihrem Weltbild. Siehe auch Rene Descartes ↗
- [14] Offray sieht den Menschen ganz als Maschine: "Der Mensch als Maschine: "Der menschliche Körper ist eine Maschine, welche selbst ihr Triebwerk aufzieht, das lebendige Bild eines perpetuum mobile (beständig bewegten Gegenstandes). Die Nahrungsmittel unterhalten, was das Fieber erregt. Ohne jene schmachtet die Seele, geräth in Wuth und stirbt im höchsten Grade der Ermattung. Sie ist wie eine Kerze, deren Licht, ehe es erlöscht, noch einmal aufflackert. Aber wenn man den Körper ernährt, wenn man in seine Gefässe einen kräftigen Saft, stärkende Getränke eingiesst, dann wird auch die Seele stark wie diese und bewaffnet sich mit stolzem Muthe; der Soldat, welcher beim blossen Genuss von Wasser geflohen wäre, wird heldenmüthig und geht unter dem Klang der Trommel freudig in den Tod." In: Julien Offray de la Mettrie: Die Maschine Mensch. 1748. Als deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1875. Dort die Seite 24. Siehe auch Die Maschine Mensch ↗
- [15] 1899, Äther als Gewissheit: "Wenn nun auch heute von fast allen Physikern die reale Existenz des Aethers als eine positive Thatsache betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen dieser wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, besonders optische und elektrische Versuche, genau bekannt sind, so ist es doch bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit über ihr eigentliches Wesen zu gewinnen." In: Ernst Haeckel: Die Welträthsel. 1899. Dort das Kapitel 12 "Das Substanz-Gesetz". Siehe auch Äther ↗
- [16] Ein Beispiel ist die Bestimmung des Längengrades mit Hilfe der Methode der Monddistanz. Mit Hilfe aufwändiger Winkelmessungen am Mond und mindestens einem anderen Himmelskörper konnte man mit Hilfe von Tabellen den Längengrad der gegenwärtigen eigenen Position bestimmen. Die Tabellen wurden im Voraus mit Hilfe von aufwändigen astronomischen Berechnungen erstellt. Erst Newtons Gesetze der Mechanik machten es möglich, dass Mathematiker nach ihm Methoden zur Berechnung der Position des Mondes am Himmel für Jahre im voraus entwickelten. Die so erstellen Tabellenwerke waren von größtem praktischem Nutzen für Seefahrer bis weit ins 19te Jahrhundert. Bücher zu diesem Thema sind: Andresen, Peter, Boy, Die Geschichte der Monddistanzen. Nachdr. der Ausg. Hamburg 1924, Marbach 1986. Sowie: Weißbecker, Bernhard, Das Uhrwerk des Mondes: Tobias Mayer und der Längenpreis, Norderstedt 2012.
- [17] Christiaan Huygens kann sich nur ein mechanistisches Weltbild vorstellen: "It is inconceivable to doubt that light consists in the motion of some sort of matter. For whether one considers its production, one sees that here upon the Earth it is chiefly engendered by fire and flame which contain without doubt bodies that are in rapid motion, since they dissolve and melt many other bodies, even the most solid; or whether one considers its effects, one sees that when light is collected, as by concave mirrors, it has the property of burning as a fire does, that is to say it disunites the particles of bodies. This is assuredly the mark of motion, at least in the true Philosophy, in which one conceives the causes of all natural effects in terms of mechanical motions. This, in my opinion, we must necessarily do, or else renounce all hopes of ever comprehending anything in Physics." In: Treatise on light In which are explained the causes of that which occurs in reflexion, & in refraction and particularly in the strange refraction of Iceland crystal. Aus dem Französischen übersetzt von Silvanus P. Thompson. Französisches Original aus dem Jahr 1690: Traite de la Lumiere.