Reduktionismus
Erkenntnistheorie
Definition
Das Wort Reduktionismus steht in der Philosophie für die Idee, dass man eine große Vielzahl an verschiedenen Beobachtungen, Tatsachen oder Theorien aus einigen wenigen Grundtatsachen oder Elemente heraus erklären will. Das ist hier mit einigen Beispielen kurz vorgestellt.
Geist oder Materie: der ontologische Reduktionismus
Im Jahr 1748 veröffentlichte der französische Philosoph Julien Offray de la Mettrie ein kleines Büchlein mit dem Titel "Die Maschine Mensch"[2]. In dem Buch reduzierte er den Menschen auf ein bloßes Zusammenspiel von mechanischen Bauteilen. La Mettries Gedanke klang schon in der antiken Idee der Atomen an[6]. Im Jahr 1936 dachte der Artz John Yerbury Dent ganz ähnlich und wollte die Psyche des Menschen im Wesentlichen auf ein Zusammenspiel von Hormonen und anderen chemischen Dingen reduzieren[3]. In der Philosophie ist das ein Beispiel für den sogenannten ontologischen Reduktionismus, der davon ausgeht, dass man "Entitäten eines Bereichs auf Entitäten eines anderen Bereichs zurückführen kann[1]." Umgekehrt kann man auch die Welt der Materie ganz auf Phänomene des Geistes reduzieren[5]. Ob eine solche Reduktion überhaupt der Wirklichkeit entspricht ist Gegenstand der laufenden Forschung. Siehe dazu beispielhaft etwa das Geist-Materie-Problem ↗
Die Physik als Einheitswissenschaft: der methodologische Reduktionismus
Die Idee, dass man alle Wissenschaften ganz auf die Methoden und Prinzipien einer grundlegende Wissenschaft, der Basiswissenschaft, zurückführen kann nennt man den methodologischen Reduktionismus[1]. Die Beobachtung, dass man viele Phänomene, etwa aus der Welt des Lebendigen, mit Hilfe der Physik erklären konnte[7][9] führte manche Denker zu der Annahme, dass man letztendlich alles in der Welt mit der Physik wird erklären können[8]. Der Gedanke war im 19ten und 20ten Jahrhundert sehr verbreitet. Doch sind Zweifel an der Berechtigung angebracht.[14] So mahnte etwa der Nobelpreisträger der Physik, Anton Zeilinger, im Jahr 2006, dass der Physik, insbesondere der Quantenphysik, ein solides philosophisches Fundament fehle. Zu den offenen Fragen zu Grundbegriffen der Physik siehe auch Zeilingers Kant-Forderung ↗
Die Biologie als Grundlage der Soziologie
Bereits im Jahr 1896 frug der Franzose Rene Worms (1869 bis 1926), ob die Biologie nicht eigentlich auch die Grundlage der Soziologie sei[10]. Worms stand damit in einer schon längeren Tradition, menschliche Staaten in enger Analogie zu biologischen Organismen zu deuten[11]. Neben rein äußerlichen Analogien wie der von der Regierung (Staatsoberhaupt!) als Gehirn, wurden dabei auch tiefsinnigere Vergleiche gezogen, wie etwa die auffällig starke Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängigkeit von Zellen in Organismen einerseits und Menschen in einer Gesellschaft andererseits[11][12]. Im 20ten Jahrhundert schließlich erhob die Soziobiologie den Anspruch, einen Großteil des menschlichen Verhaltens aus der Notwendigkeit zum Bestehen im evolutionären Wettstreit der Genen. Eine solche Reduktion von anderen Wissenschaftsgebieten auf die Biologie bezeichnet man auch als Biologismus. Als Beispiel siehe dazu den Artikel zur Soziobiologie ↗
Fußnoten
- [1] Reduktionismus. In: Metzeler Philosophie Lexikon. Herausgegeben von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar, 1999. ISBN: 3-476-01679-X. Dort werden auf Seite 501 drei Arten von Reduktionismus behandelt: ein ontologischler, ein methodologischer und ein epistemischer.
- [2] Julien Offray de la Mettrie: Die Maschine Mensch. 1748.
- [3] John Yerbury Dent: Reactions of the Human Machine. Published by Victor Gollancz Ltd, 1936. 288 Seiten.
- [4] Max Planck in einem Vortrag aus dem Jahr 1908: "… die Anzahl der Einzelgebiete der Physik ist erheblich verringert, dadurch, daß verwandte Gebiete miteinander verschmolzen sind: so ist die Akustik ganz in der Mechanik aufgegangen, der Magnetismus und die Optik ganz in die Elektrodynamik…" In: Die Einheit des physikalischen Weltbildes. (Vortrag, gehalten am 9. Dezember 1908 in der naturwissenschaftlichen Fakultät des Studentenkorps an der Universität Leiden.)
- [5] George Berkeley: Treatise on the Principles of Human Knowledge. 1710. Siehe auch Berkeley-Frage ↗
- [6] Dem antiken Denker Leukipp aus dem 5ten Jahrhundert vor Christus wird folgender Gedanke zugeschrieben: "Scheinbar ist Farbe, scheinbar Süßigkeit, scheinbar Bitterkeit: wirklich nur Atome und Leeres." - Fragment 125 (gemäß Galenos von Pergamon); Übers. durch Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch, Zweiter Band, 3. Aufl., Berlin 1912. S. 85 Internet Archive. Alternative Übersetzung : "Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum." - Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Kröner, Stuttgart 1935, S. 399. Siehe auch Atomon ↗
- [7] Ein Lexikon aus dem Jahr 1861 schreibt zur Reduktion von Lebensphänomen auf Prinzipien der Physik noch vorsichtig: "2) im engeren Sinne befaßt sich jedoch die P. nur mit den Veränderungen an den unorganischen Naturgegenständen od. auch an den organischen, insofern dieselben in der gleichen Weise erfolgen, als man sie an den unorganischen beobachtet hat, insofern sie also von der sogenannten Lebenskraft unabhängig sind, u. zwar sucht die P. die äußeren Veränderungen der unorganischen Naturkörper auf möglich wenige Gesetze zurückzuführen, mittelst welcher man im Stande ist, aus gegenwärtigen Erscheinungen zukünftige vorherzusagen." In: Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 107-110. Online: http://www.zeno.org/nid/20010636102
- [8] Voltaire (1694 bis 1778) brachte die Idee von der Physik als Basiswissenschaft bildhaft auf den Punkt: „Alles ist Springfeder, Hebel, Winde, hydraulische Maschine, chemisches Laboratorium vom Gras bis zur Eiche, vom Floh bis zum Menschen, vom Sandkorn bis zu den Welten“: diese Vorstellung, hier in den Worten des Philosophen Voltaire (1694 bis 1784), nennt man als Weltbild Mechanismus. Das ist hier kurz vorgestellt." Zitiert nach: Sakmann, Paul (1910): Voltaires Geistesart und Gedankenwelt. Stuttgart: Fromman. Seite 161. Die Idee der physikalischen Mechanik als Basiswissenschaft nennt man Mechanismus ↗
- [9] Der Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger schreibt, dass man Atomverbindungen im Sinne der Chemie ganz auf die Physik reduzieren könne: "Die Quantenmechanik ist die erste theoretische Betrachtungsweise, welche alle Arten der in der Natur wirklich vorkommenden Atomaggregate von Grund auf erklärt. Die Bindung nach Heitler-London ist ein einzigartiger und eigentümlicher Grundzug der Theorie und durchaus nicht eigens erfunden, um die chemische Bindung zu erklären." In: Erwin Schrödinger: Was ist Leben?: Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. R. Piper GmbH & Co. KG, München 1987. ISBN: 3-492-11134-3. Dort die Seite 86.
- [10] Die Biologie als fundamental für die Soziologie? Diesen Gedanken arbeitete der Franzose Rene Worms in eine Buch zu Vergleich von Organismen und Staaten aus dem Jahr 1896 detailliert aus. Worms "Die Biologie also ist unter allen Wissenschaften jene, die der Soziologie an mächsten steht. Und da sie in sich die Prinzipien der ihr untergeordneten Wissenschaften enthält, reduziert sich unser Problem darauf, zu wissen, in welcher Beziehung die Biologie zu den Sozialwissenschaften steht". Im Original: "La biologie étant ainsi, parmi toutes les sciences, celle qui est la plus voisine de la sociologie, et d'ailleurs contenant en soi les principes des sciences inférieures, notre problème se réduit à celui de savoir quel est l'apport de la biologie à la connaissance des sociétés." Und, in der Einleitung: "Nous savons qu'il existe une hiérarchie des connaissances ; et que, si les sciences sociales sont de toutes les plus hautes, c'est parce que leur objet est le plus compliqué, et renferme en quelque sorte l'objet de toutes les autres sciences. On ne peut donc arriver à la connaissance des sociétés que par celle des propriétés — mathématiques, mécaniques, physiques, chimiques, biologiques, — et par celle des êtres — inorganiques ou organisés — dont les sciences moins élevées font leur élude." In: Rene Worms: Organisme et societe. Paris. 1896. 419 Seiten. Dort ganz am Anfang in der Einleitung. Online (Französisch): https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5726769h.image.f2.langFR.pagination" target="_new">https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5726769h.image.f2.langFR.pagination" In: Rene Worms: Organisme et societe. Paris. 1896. 419 Seiten. Online (Französisch): https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5726769h.image.f2.langFR.pagination
- [11] Seit dem frühen 19ten Jahrhundert entstand eine große Anzahl von Schriften, in denene Staaten wie biologische Lebewesen gedeutet wurden. Siehe dazu unter organische Theorie ↗
- [12] Zur Arbeitsteilung bei Zellen und in Gesellschaften schreibt Rene Worms im Jahr 1898, dass ein Verständnis der Beziehungen von Zellen uns auch beim Verständnis von Zellen in Gesellschaftten hilft: "Ce qui se passe pour les cellules organiques va nous aider à comprendre cette multiplicité des
- [13] Der Engländer Herbert Spencer schreibt zunächst über sozial lebende Insekten: "The most advanced show us division of labour carried so far that different classes of individuals are structurally adapted to different functions. White ants, or termites (which, however, belong to a different order of insects), have, in addition to males and females, soldiers and workers; and there are in some cases two kinds of males and females, winged and unwinged: making six unlike forms." Dann kommt der Bezug zu menschlichen Gesellschaften: "As with organic evolution, so with super-organic evolution. Though, taking the entire assemblage of societies, evolution may be held inevitable as an ultimate effect of the co-operating factors, intrinsic and extrinsic, acting on them all through indefinite periods; yet it cannot be held inevitable in each particular society" Und: "Scarcely can I emphasize enough the truth that in respect of this fundamental trait, a social organism and an individual organism are entirely alike. When we see that in a mammal, arresting the lungs quickly brings the heart to a stand; that if the stomach fails absolutely in its office all other parts by-and-by cease to act; that paralysis of its limbs entails on the body at large death from want of food, or inability to escape; that loss of even such small organs as the eyes, deprives the rest of a service essential to their preservation; we cannot but admit that mutual dependence of parts is an essential characteristic. And when, in a society, we see that the workers in iron stop if the miners do not supply materials; that makers of clothes cannot carry on their business in the absence of those who spin and weave textile fabrics; that the manufacturing community will cease to act unless the food-producing and food-distributing agencies are acting; that the controlling powers, governments, bureaux, judicial officers, police, must fail to keep order when the necessaries of life are not supplied to them by the parts kept in order; we are obliged to say that this mutual dependence of parts is similarly rigorous. Unlike as the two kinds of aggregates otherwise are, they are unlike in respect of this fundamental character, and the characters implied by it." In: Herbert Spencer Part of: The Principles of Sociology, 3 vols. (1898). The Principles of Sociology, vol. 1 (1898). Dort die Abschnitte: § 3, §50 und §217.
- [14] Warum die Psychologie kein Zwei der Physik ist: Carrier, M. (1993): Die Vielfalt der Wissenschaften oder warum die Psychologie kein Zweig der Physik ist. In: Elepfandt, A. und G. Wolters (Hg.), Denkmaschinen: Interdisziplinäre Perspektiven zum Thema Gehirn und Geist, S. 99–115. Universitätsverlag, Konstanz.