Doppelte Wahrheit
Philosophie
Doppelte Wahrheit
Als Doppelte Wahrheit[1] wurde vorwurfsvoll die unterstellte geistige Haltung mittelalterlicher Philosophen im Umfeld der Pariser Universität bezeichnet. Dieser doppelten Wahrheit zufolge sollte es gleichzeitig eine philosophie und eine theologische Wahrheit geben können[12].
Die Unvorstellbarkeit Gottes als Vorgeschichte
Schon früh hatten Theologen erkannt, dass gewisse Eigenschaften eines gedachten Gottes zu definitorischen Widersprüchen führten: wenn Gott alles kann, kann er dann auch einen Stein machen, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann? [2] Im Kern ging es darum, ob logisch Widersprüchliches die Allmacht Gottes einschränken könne[3]. Weitere Widersprüche - real oder unterstellt - ergaben sich aus dem Einfluss arabisch-aristotelischen Denkens auf die Theologie Westeuropas, vor allem an der Universität in Paris.
In der mittelalterlichen Theologie in Westeuropa spitzte sich im 13ten Jahrhundert immer mehr der Widerspruch zwischen Glaubenssätzen der kathologischen Kirche einserseits und von Akademikern diskutierten, dazu scheinbar oder tatsächlich widersprüchlichen Wahrheiten zu. Das führte im Jahr 1277 zu einer Zusammenfassung der Vorwürfe gegenüber Lehrern an der Pariser Universität vor einem Tribunal der Kirche, der Inquisition.
Die 13 Thesen des Etienne Tempier
Im Jahr 1270 veröffentlichte der Bischof von Paris, Etienne Tempier, 13 Thesen von Behauptungen, die zu verurteilen seien. Diese 13 Thesen stünden im Widerspruch zum katholischen Glauben und dürften nicht verbreitet werden[4]. Viele dieser Thesen sprechen Fragen an, die auch heute noch in der Philosophie diskutiert werden:
- 1) Dass der Intellekt aller Menschen ein und derselbe ist an Zahl.
- 2) Dass Folgendes falsch oder uneigentlich (gesagt) ist: Ein Mensch versteht.
- 3) Dass der Wille des Menschen aus Zwang will oder wählt.
- 4) Dass alles, was hier auf Erden geschieht, dem Zwang von Himmelskörpern unterliegt.
- 5) Dass die Welt ewig ist.
- 6) Dass es niemals einen ersten Menschen gegeben hat.
- 7) Dass die Seele … vergehe, wenn der Körper vergeht.
- 8) Dass die nach dem Tode abgetrennte Seele nicht unter körperlichem Feuer leidet.
- 9) Dass der freie Wille ein passives, nicht aktives Vermögen ist und dass er durch Zwang von dem, was er erstrebt, bewegt wird.
- 10) Dass Gott nicht Einzeldinge erkennt.
- 11) Dass Gott nicht von sich anderes erkennt.
- 12) Dass menschliche Handlungen nicht durch göttliche Vorsehung geleitet werden.
- 13) Dass Gott nicht Unsterblichkeit oder Unvergänglichkeit einer sterblichen oder vergänglichen Sache geben kann.
Der Vorwurf der doppelten Wahrheit
Sieben Jahre später, im Jahr 1277 schließlich hatte Tempier 219 Thesen zusammengestellt, die es zu verwerfen gelte. Wer diese Thesen verbreite, sollte exkommuniziert werden, das heißt, von der katholischen Kirche ausgeschlossen werden. Im Prolog (Vorwort) zu diesen Thesen taucht dann ausdrücklich der Vorwurf von der doppelten Wahrheit auf:
ZITAT:
"Es wird die Lehre der 219 Thesen unter die Strafe der Exkommunikation gestellt und die doppelte Wahrheit verurteilt: Sie sagen nämlich, diese Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht im Sinne des katholischen Glaubens, als gebe es zwei gleichsam entgegengesetzte Wahrheiten."[4]
"Es wird die Lehre der 219 Thesen unter die Strafe der Exkommunikation gestellt und die doppelte Wahrheit verurteilt: Sie sagen nämlich, diese Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht im Sinne des katholischen Glaubens, als gebe es zwei gleichsam entgegengesetzte Wahrheiten."[4]
ZITAT:
Auf Latein: "Dicunt enim ea esse vera secundum philosophiam, sed non secundum fidem catholicam, quasi sint duae contrariae veritates"
Auf Latein: "Dicunt enim ea esse vera secundum philosophiam, sed non secundum fidem catholicam, quasi sint duae contrariae veritates"
Die Verurteilung der Pariser Gelehrten durch die Kirche gilt manchen Wissenschaftshistorikern als die Geburtsstunde der modernen Naturwissenschaft. Theologen wie etwa Wilhelm von Ockham hätten sich zunehmend von den Vorgaben der Kirche emanzipiert und den Grundstein für die heutigen Naturwissenschaften gelegt.
Die Angst der katholischen Kirche vor einem Widerspruch zwischen Philosophie und Theologie war aber auch im 19ten Jahrhundert noch lebendig. 1879 stellte der Papst unmissverständlich fest, dass bei einem scheinbaren Widerspruch zwischen Glaube und Vernunft der Glaube Vorrang habe. Siehe dazu unter Aeterni patris ↗
Ähnliche Denkfiguren
Der Kern des Vorwurfes von der Doppelten Wahrheit besteht darin, dass zwei oder mehr zueinander widersprüchliche Aussagen oder Gedankengebäude gleichzeitig für wahr gehalten werden. Die Aufrechterhaltung unverträglicher Aussagen tritt auch in anderen Zusammenhängen auf.
- Als Dilemma der Physik Welle-Teilchen-Dualismus ↗
- Als pragmatische Haltung Komplementarität [Physik] ↗
- Als politischer Vorwurf Doppeldenk ↗
Das Tertium non datur als Gegenanspruch
Auch nach dem Mittelalter ließen verschiedene Philosophen die gleichzeitige Gültigkeit verschiedener Wahrheiten zu[13]. Den herausgebarbeiteten logischen Widersprüchen zwischen Gedankengebäuden untereinander oder zwischen Gedankengebäuden (Theorien) und der Wirklichkeit liegt eine tiefere Fragestellung zugrunde, ob nämlich eine irgendwie gedachte Realität (die Welt, Gott) logischen Prinzipien folgen müsse, oder auch Realitäten jenseits der Logik denkbar sind. Dass von zwei widerstreitenden Wahrheiten nur eine gelten könne fordert das Prinzip des tertium non datur ↗
Persönliche Einschätzung
Die mittelalteliche Theologie Westeuropas hat eine Vielzahl logischer Zuspitzungen herausgearbeitet, die in ihrer Form unter anderem auch in der Logik, Philosophie und der Physik der Gegenwart auftreten. Sie sind Teil einer Philosophia perennis[10]. Man denke etwa an das Problem des Freien Willens oder an den Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts und der Materie. Das Herausschälen von Widersprüchen ist kein Mangel sondern eine Leistung denkerischer Arbeit.
Völlig zu Recht emanzipierten sich seit dem 13ten Jahrhundert Denker wie Wilhelm von Ockham, Buridan und später Galilei zunehmend von den Wahrheitsvorgaben der Kirche. Doch mit dieser Emanzipation ginkg auch etwas Wertvolles verloren, nämlich der philosphischer Anspruch der Ganzheitlichkeit. Während man im Mittelalter - vielleicht voreilig - zeigen wollte, dass die Welt eine harmonisch gefügte Einheit bilde[11], begnügen sich (zu) viele Naturwissenschaftlicher der Gegenwart mit dem Auffinden von mathematisch fassbaren Gesetzmäßigkeiten. Fragestellungen die darüber hinaus gehen, erklären sie für irrelevant[8] oder sie werden schlichtweg ignoriert.
Was unserer Gegenwart fehlt ist das Bemühen des Mittelalters, religiöse Bestrebungen, menschliche Sehnsüchte und physikalisch-naturwissenschaftliche Erkennntisse in einem zusammenhängenden, lücken- und widerspruchsfreiem Weltbild denken zu wollen. Sehr schön auf den Punkt gebracht wird dieser Wunsch im Motto der amerikanischen Planetarischen Gesellschaft: "Know the cosmos and our place within it."[9]
Fußnoten
- [1] Der Artikel "Doppelte Wahrheit". In: Metzler Philosophie Lexikon. Herausgegeben von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar, 1999. ISBN: 3-476-01679-X. Dort die Seite 118. Online: https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/doppelte-wahrheit/483
- [2] Diese Art von Widerspruch wurde in der modernen Logik im 20ten Jahrhundert als typisch für viele sogenannte Antinomien erkannt. Ein diesbezüglichen Erdbeben löste der entsprechende Satz von Gödel aus. Der Kern des Problems liegt in der Selbstbezüglichkeit von Definition. Siehe mehr zu diesem logischen Problem unter Barbier von Sevilla ↗
- [3] "Seit Anselm von Canterbury war sich der lateinische Westen überwiegend einig darin, dass Gott alles könne, nur nichts Widersprüchliches, und dass dieses Nicht-Können keine Ohnmacht, sondern die Weisheit Gottes ausdrücke. [...] Mit strengerer terminologischer Festlegung wurden somit die Möglichkeiten Gottes immer mehr eingeengt. Die Verurteilung von 1277 sollte dieses Spiel, wenn nicht beenden, so doch einschränken." In: Kurt Flasch: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277: Das Dokument des Bischofs von Paris. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung. Mainz. 1989. 320 Seiten. Deutsch und Latein. ISBN: 978-3871620171. Siehe auch Unvorstellbarkeit Gottes ↗
- [4] In: Peter Grabher: Die Pariser Verurteilung von 1277. Kontext und Bedeutung des Konflikts um den radikalen Aristotelismus. Diplomarbeit an der Universität Wien. September 2005. Dort auf Seite 83: Die 219 Thesen des Pariser Syllabus. Ursprünglich auf Latein verfasst von Etienne Tempier.
- [5] W. Betzendörfer: Die Lehre von der zweifachen Wahrheit. Tübingen 1924.
- [6] A. Hufnagel: Zur Lehre von der doppelten Wahrheit. In: Theol. Quartalschrift 136 (1956). S. 284–295
- [7] F. Van Steenberghen: Une légende tenace: la théorie de la double vérité. In: Ders.: Introduction à l’étude de la philosophie médiévale. Louvain-Paris 1974. S. 555–570.
- [8] "Only as the gods become less and less personal, and finally evaporate, does the objective viewpoint become possible", Dent umging das Problem einer Doppelten Wahrheit, indem er eine Wahrheit schlicht ignorierte oder für falsch erklärt. Dents Buch ist ein klassisches Beispiel für einen streng einseitigen Materialismus: John Yerbury Dent: Reactions of the Human Machine. Victor Gollancz Ltd. London. 1936. Insgesamt 288 Seiten. Dort die Seite 12. Siehe auch Reactions of the Human Machine ↗
- [9] Mit dem Motto "Know the cosmos and our place within it" werden keine vorschnellen Urteile gefällt, gleichzeitig wird der Anspruch auf ein allumfassendes Weltbild, das auch unsere Rolle darin erklärt, aufrecht erhalten. In: The Planetary Society. Online Juni 2024, in der Rubrik "About": https://www.planetary.org/
- [10] Siehe unter Philosophia perennis ↗
- [11] Siehe unter Harmonia mundi ↗
- [12] Ein späterer Anhänger der Lehre der doppelten Wahrheit war Robert Holcot. In einem Lexikon aus dem Jahr 1912 heißt es: "Holcot, Robert, Dominikaner, Lehrer der Theologie in Oxford, gest. 1349. Seine Schriften erschienen 1497. = H. ist von Occam beeinflußt, Nominalist. Er unterscheidet von der »logica naturalis« die »logica fidei«, so daß es eine doppelte Wahrheit, eine philosophische und eine theologische, gibt." In: Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 277. Online: http://www.zeno.org/nid/20001824074
- [13] Zur Wirkungsgeschichte der Doppelten Wahrheit in der Renaissanace und Neuzeit: "Das Wissen wird durch den Glauben ergänzt (Sum. th. I. 1, 1). So auch DUNS SCOTUS (In l. sent. prol. qu. 1, 6), der aber schon die Lehre von den »doppelten Wahrheiten« vorträgt, deren jede (Glauben – Wissen) innerhalb ihres[798] Gebietes gilt, und die im Gegensatz zueinander stehen können (Report. Paris. IV, d. 43, qu. 3), welche Lehre von WILHELM vVON OCCAM und anderen Scholastikern weiter ausgebildet wird zu der Lehre, daß, was philosophisch wahr sei, theologisch falsch sein könne. Sie tritt ferner auf bei LUTHER, POMPONATIUS, F. BACON, nach welchem Theologie und Wissenschaft reinlich geschieden werden sollen (Nov. Organ. I, § 65). letzteres verlangt auch SPINOZA (»fidem a philosophia separare«, Tract. theol.-pol.). Gegen die Lehre von den doppelten Wahrheiten ist NICOL. TAURELLUS Den Zwiespalt zwischen Wissen und Glauben betont PASCAL. »Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît pas« (vgl. Pensées sur la relig. 1669). Die Widersprüche zwischen Wissen und Glauben betont BAYLE. die Glaubenswahrheiten sind widervernünftig, desto verdienstvoller ist es. an sie zu glauben (Dict. histor.. Oeuvr. div. 1725/31). KANT endlich entfernt das Pseudowissen (auf metaphysisch-transcendentem Gebiet), »um dem Glauben Platz zu machen«, indem er zeigt, daß unsere Erkenntnismittel zwar eine gesicherte empirische Wissenschaft ermöglichen, nicht aber die Erfassung des Transcendenten, und daß alle Aussagen der Wissenschaft nur für die phänomenale Welt, für die Dinge als Erscheinungen, nicht für deren An-sich gelten, so daß der Glaube freie Hand hat (s. Gottesbeweise, Postulat)." In: der Artikle "Glauben und Wissen". Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 798-799. Online: http://www.zeno.org/nid/20001810758