Altruismus
Selbstlosigkeit
Basiswissen
Altruismus oder auch gemeinnütziges Verhalten[6] bezeichnet ein Handeln, das anderen mehr Vorteil verschafft als einem selbst[4]. Die Enstehung und vor allem die Beibehaltung von echtem Altruismus ist evolutionsbiologisch schwer zu erklären.
Beispiele für altruistisches Verhalten
- Individuen sondern sich bei Krankheit von ihrer Umwelt ab soziale Immunität ↗
- Schädliche Zellen in einem Körper begehen programmierten Zelltod, die Apoptose ↗
- Mönche und Nonnen verzichten auf eigenen Nachwuchs reproduktiver Altruismus ↗
Altruismus als Problem
Streng darwinistisch gefolgert, dürfte echt altruistische Individuen niemals mehr Anteil an einer Population haben, als durch zufällige Mutationen verursacht. Ein größerer Anteil echt altruistischer Individuen wird als Argument gegen rein evolutionsbiologische Sichten auf den Menschen (oder anderen Wesen) verwendet. Echt altruistische Verhaltensweisen dürfte es aus rein darwinistischer Sicht nicht geben[5], ist aber zum Beispiel unter Insekten nachgewiesen[6]. Die Frage, warum man es aber unter Menschen oder auch Tieren dennoch recht häufig beobachtet gilt als ein ungelöstes Problem der Evolutionsbiologie.
Verwandetenselektion als Erklärung?
Das Forschungsprinzip von Ockhams Rasiermesser besagt, dass man zur Erklärung der Wirklichkeit mit möglichst wenigen und möglichst einfachen Annahmen oder Denkmodellen auskomen soll. Versucht man also ganz im Denkmodell des Darwinismus zu bleiben, muss man Altruismus mit Überlebensvorteilen für möglichst viele eigene Nachfahren erklären. Ein solcher Versuch ist das Modell de sogenannten Verwandtenselektion ↗
Gruppenselektion als Erklärung?
„Es lässt sich nicht zweifeln, dass ein Stamm, welcher viele Glieder umfasst, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muths und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, über die meisten andern Stämme den Sieg davontragen wird, und dies würde natürliche Zuchtwahl sein.“ So schrieb Charles Darwin bereits im Jahr 1871: würde dieser Effekt biologisch tatsächlich wirken, so könnte er Altruismus erklären. Eine extreme Form des Altruismus ist der reproduktive Altruismus, bei dem Mitglieder einer Gruppe freiwillig auf die Fortpflanzung verzichten[2]. Der Altruismus als Effekt einer alleinigen Gruppenselektion hat aber eine beharrliche Erklärungslücke. Lies dazu unter Gruppenselektion ↗
Reproduktiver Altruismus
Zellen der Kugelalge Volvox können sowohl einzeln als Individuen leben als auch Kolonien bilden, die als Ganzes die Form eines Individuums haben. Wenn nun manche Zellen in einer Kolonie ihre eigene Zellteilung zugunsten der Kolonie einstellen, spricht man von einem reproduktiven Altruismus. Der Mechanismus dafür wurde in einem Gen gefunde, dass einzeln lebende Zellen dann die Fortpflanzung einstellen lässt, wenn sie in ihrer Umwelt zu viel Stress erfahren (z. B. Kälte). Für die individuelle kann es ein evolutionärer Vorteil sein bei ungünstigen Lebensbedingungen, die Fortpflanzung vorübergehend einzustellen. In einer Kolonie aber verhindert dieses Gen dauerhaft die Fortpflanzung einer Mehrzahl der koloniebildenden Zellen[2]. Der reproduktive Altruismus gilt als ein Merkmal für eine sogenannte Eusozialität. Siehe auch Reproduktiver Altruismus ↗
Nichlokalität als Erklärung?
Übertragen auf das Problem des Altruismus hieße das: es könnte einen Wirkmechanismus geben, der eine Gruppe als Art in Gänze zu optimieren trachtet und direkt das lokale Verhalten einzelner Gruppenmitglieder beeinflusst. Damit wäre der Zwang zur Genoptimierung einzelner Individuen sozusagen überbrückt und in der Wirkung eingeschränkt. Lies mehr unter Nichtlokalität ↗
Religion als Erklärung?
Religion könnte auf zwei Weisen Altruismus erklären. Zum einen argumentieren manchen Biologen, dass Religionen Verhaltensweisen hin zu einer höheren Form der Sozialität, einer sogenannten Eusozialität fördern. Und eusoziale Gemeinschaften haben oft gegenüber anderen Gemeinschaften einen evolutionären Vorteil[7]. Zum anderen aber gehen Religionen oft von einer direkten Einflussnahme metaphysischer Wesen oder Prinzipien auf das Verhalten von Menschen aus. Im Gebet spricht man mit Gott, der Heilige Geist[8] entfaltet eine Wirkung jenseits materialistisch-biologistischer Kausalität. Die Frage, ob es wirkende Prinzipien jenseits der Physik gibt behandelt die sogenannte Metaphysik ↗
Fußnoten
- [1] Linksvayer, T. A., Busch, J. W., and Smith, C. R.: Social supergenes of superorganisms: do supergenes play important roles in social evolution? Bioessays 35, 683–689. 2013. doi: 10.1002/bies.201300038
- [2] Die Möglichkeit altruistischer Gene in der biologischen Evolution: Aurora M. Nedelcu, Richard E. Michod: The evolutionary origin of an altruistic gene in Volvox carteri. Molecular Biology and Evolution. 8:1460-1464. 2006. URL: https://eeb.arizona.edu/sites/default/files/2022-11/altruistic%20gene%20reg.pdf
- [2] Die Idee von einem reproduktiven Altruismus in Volvox-Kugelalgen: "Reproductive altruism is an extreme form of altruism best exemplified by sterile castes in social insects and somatic cells in multicellular organisms" Und: "Although reproductive altruism is central to the evolution of multicellularity and eusociality, the mechanistic basis for the evolution of this behaviour is yet to be deciphered." Sowie: "Volvox carteri consists of approximately 2000 permanently biflagellated sterile somatic cells and up to 16 non-flagellated reproductive cells." In: Aurora M. Nedelcu: Environmentally induced responses co-opted for reproductive altruism. In: Biol Lett. 2009 Dec 23; 5(6): 805–808. Veröffentlicht am 3. Juli 2009. DOI: 10.1098/rsbl.2009.0334. Als Modell wurde unter anderem die Volvox-Kugelalge betrachtet. Siehe auch Eusozialität ↗
- [3] Der reproduktive Altruismus notwendige Voraussetzung für eine evolutionäre Transition: "The evolution of eusociality in social insects, such as termites, ants, and some bees and wasps, has been regarded as a major evolutionary transition (MET). Yet, there is some debate whether all species qualify. Here, we argue that worker sterility is a decisive criterion to determine whether species have passed a MET (= superorganisms), or not." In: Abel Bernadou, Boris H. Kramer, Judith Korb: Major Evolutionary Transitions in Social Insects, the Importance of Worker Sterility and Life History. In: Front. Ecol. Evol., 26 October 2021. Sec. Social Evolution. Volume 9 - 2021. DOI: https://doi.org/10.3389/fevo.2021.732907
- [4] Zur Definition von Altruismus: "Altruismus (lat. alter, the other) kann definiert werden als kostspieliges Verhalten, welches dem Wohlergehen anderer zu Gute kommt." Sowie "Jedwedes Verhalten, das kostspielig ist für den Akteur, aber jemand anderem nützt, wird als altruistisch angesehen, gleichgültig, ob es von absichtsvollen Menschen gezeigt wird oder von Fischen, Bakterien oder Pflanzen." Bei dieser Definitio fehlt noch, dass das kostspielige Verhalten vorrangig dem Wohlergehen anderer zugute kommt. Wesentlich für eine Abgrenzung zur bloßen Zusammenarbeit oder auch einer Symbiose ist, dass das Verhalten anderen mehr nutzt als einem selbst. Die Definition stammt aus: Sabine Windmann, Grit Hein: Altruismus aus Sicht der Sozialen Neurowissenschaften. In Neuroforum 2018; 24(1): 15–24. De Gruyter. DOI: https://doi.org/10.1515/nf-2017-0047
- [5] Ein wesentliches Problem zur Erklärung des Altruiusmus ist "die Gefahr des Trittbrettfahrens. Individuen, die vom Altruismus anderer Gruppenmitglieder profitieren, aber ihrerseits keinen fairen Beitrag zum Gruppenwohl leisten, weisen eine höhere Erfolgsbilanz auf als diejenigen, die kooperieren." In: Sabine Windmann, Grit Hein: Altruismus aus Sicht der Sozialen Neurowissenschaften. In Neuroforum 2018; 24(1): 15–24. De Gruyter. DOI: https://doi.org/10.1515/nf-2017-0047
- [6] "Altruismus m [von ital. altrui = ein anderer; Adj. altruistisch], fremddienliches Verhalten, uneigennütziges Verhalten, gemeinnütziges Verhalten, Gemeinnutz, Beistandsverhalten, uneigennütziges Verhalten eines Individuums (= Geber oder Donor) zum Wohl anderer (= Empfänger oder Rezipient) mit Erhöhung der Fortpflanzungschancen des Empfängers auf Kosten des Gebers. Als klassisches Beispiel gilt der Verzicht auf eigene Nachkommen z. B. von Arbeiterinnen in Insektenstaaten (staatenbildende Insekten)" In: Spektrum Lexikon der Biologie. Abgerufen am 20. Februar 2024. Online: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/altruismus/2546
- [7] Dass Religion, unter anderem mit einer zölibatären Priesterkaste, die Entstehung von Eusozialität und damit auch Altruismus in menschlichen Gesellschaften gefördert haben könnte, untersucht Jay R. Feierman. In: Religion’s Possible Role in Facilitating Eusocial Human Societies. A Behavioral Biology (Ethological) Perspective. In: Studia Humana. Band 5 (2016): Heft 4 (Dezember 2016). Siehe auch Eusozialität ↗
- [8] Der Heilige Geist, unter anderem als Medium zum Wirken von Wundern: "Heiliger Geist (Spiritus sanctus), bedeutet im A. T. (als göttlicher Geist, Geist Gottes, Geist des Herrn) überhaupt Sinn u. Geist, dann den bildenden u. belebenden Hauch Gottes in der Natur u. Geisterwelt (bes. in der Schöpfungsgeschichte), daher auch das Leben, als von Gott geschenkt, ohne daß hierbei immer an ein besonderes Subject außer Gott gedacht wird; im N. T. ist er überhaupt mehr das tiefere, innere Leben; in Bezug auf Jesus die höhere Gotteskraft, welche ihn für seine Lehre u. seine Wunderwerke unterstützt, u. dann die Geistesfülle, die mittheilbar an Andere ist" In: Pierer's Universal-Lexikon, Band 8. Altenburg 1859, S. 171-172. Online: http://www.zeno.org/nid/20010094229