R


Vitalismus


Biologie


Definition


Als Vitalismus bezeichnet man Haltungen, die „eine wie auch immer geartete Lebenskraft (vis vitalis) zum dominanten Prinzip ihrer Naturerklärung erheben[1].“ Der Vitalismus war immer eine Gegenposition zu einer rein mechanistischen oder deterministischen Erklärung der Lebensphänomene. Das ist hier kurz vorgestellt.

Der Vitalismus als Sinn und Zielgerichtetheit des Lebens


Eine frühe Formulierung der Idee eines dem Leben innewohnenden eigenen Prinzips wird Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) zugeschrieben. Sein Begriff der Entelechie sah in Dingen und Lebewesen ein Prinzip angelegt, dass auf eine Entwicklung der innewohnenden Potentiale hin auf ein Ziel wirke. Goethe fasst das dichterisch mit den Worten „geprägte Form die lebend sich entwickelt[2].“ Für den Menschen etwa sei dies die Hinentwicklung zur Idee des Guten. Der so verstandene Vitalismus beschreibt Vorgänge in der Natur damit nicht nur oder nicht vorrangig als Ergebnis der vergangenen Zustände (Aus A folgt immer B und nur B), sondern auch oder ganz als Hinwendung zu einem zukünftigen Ziel (ich mache B, weil ich auf C hinarbeite). Der Vitalismus ist damit eine Ausprägung einer Teleologie ↗

Der Mechanismus als ein Stein des Anstoßes


Als Mechanismus fasst man Positionen zusammen, nach denen alles in der Welt sich nur nach strikt naturgesetzlichen Regeln entwickelt: aus einem momentanen Zustand A folgt immer und eindeutig ein nächster Zustand B. Die mechanistische Weltvorstellung ließ keinen Raum für eine mitgestaltende Wirkung von Lebewesen. Wenn lebende Wesen ein Bewusstsein oder einen Willen hätten, dann wären diese doch bloße Zuschauer in einem Kosmos, der gleich einem exakten Uhrwerk streng mechanisch sich abspult. Typische Titel von Büchern dieser Weltsicht sind etwa „Die Maschine Mensch[3]“ oder „Reactions of the Human Machine[4]“. Obwohl das mechanistische Weltbild dem Menschen keinen Raum für echte Freiheit bot, erlangte es insbesondere im 19ten Jahrhundert große Beliebtheit[5]. Siehe mehr unter Mechanismus ↗

Der Vitalismus als Gegensposition zum Mechanismus


Im 19ten Jahrhundert verzeichneten die mechanistisch geprägten Naturwissenschaften beeindruckende Erfolge. Auf der Idee mechanisch sich verhaltender Objekte entstanden eine überzeugende Lehre der Elektrizität (Maxwell), der Erscheinungen rund um die Wäre (kinetische Gastheorie) und der Bewegung der Himmelskörper (Himmelsmechanik). Man begann, zunehmend auch den Menschen und überhaupt alle Erscheinungen des Lebens mechanistisch deuten zu wollen (siehe oben). Dass dieser Ansatz aber wichtige und reale Aspekte des Lebens und einer Welterklärung überhaupt unterschlagen könne, wurde schon früh auch von anerkannten Naturwissenschaftlern dargelegt[6]. Gegenpositionen zum anerkannten Mechanismus wurden vor allem von Biologen formuliert wie etwa Ernst Häckel (1834 bis 1919)[7], Hans Driesch (1867 bis 1941)[8], Jakob Johann von Uexküll (1864 bis 1944)[9], aber auch von Physikern wie Erwin Schrödinger[20].

Die Zweiteilung der Welt in Tot und Lebendig


Ein Grundzug des Vitalismus ist die Zweiteilung der Welt in lebende Organismen und tote Materie außerhalb der Organismen. Für die Materie außerhalb von Organismen gelten die Gesetze der Physik, durchaus deterministisch oder mechanistisch aufgefasst. Doch innerhalb von Organismen geleten andere Gesetze. Eine solche Zweiteilung der gesamten Welt fand sich etwa auch in der antiken und mittelalterlichen Idee einer göttlichen Welt oberhalb des Mondes und einer irdisch-vergänglichen Welt hier auf der Erde (translunar, sublunar). Näher am These des Vitalsismus ist die Einteilung der Chemie in einen organischen und einen anorganischen Bereich. So definiert ein Lexikon aus dem Jahr 1861 die organische Chemie als einen "Zweig der allgemeinen Chemie, welcher das Studium der organischen Körper umfaßt. Die Begriffsbestimmung der organischen Körper glaubte man früher von ihrer Entstehungsweise ableiten zu müssen u. betrachtete dieselben als Substanzen, welche ausschließlich unter dem Einfluß der Lebensthätigkeit in dem pflanzlichen u. thierischen Organismus gebildet werden u. nicht künstlich darstellbar seien[19]." Siehe dazu auch Lebenskraft ↗

Was ist der Kern des Vitalismus-Problems?


Vitalisten müssen erklären, wie ein geistiges Prinzip auf reale physikalische beobachtbare Prozesse einwirken können, ohne dass dabei die anerkannten Gesetze der Physik verletzt werden. Sieht man von Wundern ab, so müssen Einflüsse des Lebens auf die Materie sich auf kleine Veränderungen des Weltablaufes beschränken. Schon früh in der antiken Atomphysik kamen Denker auf die Idee, dass diese Einflussnahme eher geringfügig sein müsse[12]. Tatsächlich beobachtet man in der Welt der mittelgroßen Abläufe (fallende Steine, rollende Wagen, Wettergeschehen) oft einer erstaunliche Regelmäßigkeit. Geht man davon aus, dass auch der menschliche Körper aus Materie besteht, so kann ein irgendwie geartetes Lebensprinzip auch dort nur kleine Atome für kurze Zeit geringfügig beeinflussen. Diese Idee nahm der Philosoph William James als Ausgangspunkt für einen konkreten Vorschlag, wie Lebensregungen in den Prozess des Gehirns und des Körpers eingreifen können. Siehe mehr dazu unter Zwei-Stufen-Modell (Freier Wille) ↗

Wie plausibel ist der Vitalismus?


Zunehmend mehr: Mechanisten und Deterministen behaupten, dass alle Abläufe in der Welt strikten Naturgesetzen folgen. Sie tun dies auch angesichts der Tatsache, dass ihre Naturgesetze nur einen kleinen Bruchteil der Abläufe der Welt erklären können. Joachim von Bublath spricht sinngemäß davon, dass wir auf Inseln der Berechenbarkeit Leben[10]. Tatsächlich sprechen die Formeln der Physik selbst gegen das mechanistische Weltbild: Zustände sind nicht eindeutig (Unschärferelation) und sind in konkreten Fällen (Chaospendel) selbst theoretisch nicht exakt zu bestimmen[10]. Die moderne Physik des 20ten und 21ten Jahrhunderts hat mit den Quanten Objekte eingeführt, die sich jeder anschaulichen Fassung völlig entziehen. Um sie zu verstehen bedarf es völlig neuer Konzepte, die möglicherweise von außerhalb der Physik kommen müssen[11]. Das Denkverbot, welches der klassische Mechanismus in Richtung eines eigenen Prinzips des Lebendigen aufgestellt hat, ist damit gefallen. Was aber fehlt sind überzeugende Konzepte, wie die Physik mit Prinzipien des Lebens auf eine fruchtbare Weise verbunden werden soll. Eine Idee in diese Richtung ist die Vorstellung, dass die Gesetze der Physik das Leben nicht einengen, sondern ihm überhaupt erst ein sinnvolles Feld der Regung geben. Diese (rein spekulative) Idee ist kurz skizziert im Artikel kollaborative Physik ↗

Fußnoten