Verstehen
Definition und Beispiele
Basiswissen
Verstehen heißt zunächst, dass man mit etwas Gesagtem oder Geigten (passende) Gedanken verbindet[1] und die Bedeutung[2] oder den Sinn davon erfasst[3]. Viele Beispiele gehen dann in die Richtung, dass man einen einzelnen Denkgegenstand dadurch versteht, indem man ihn in einem größeren Zusammenhang mit anderen Denkinhalten bringt. Hier stehen einige konkrete Beispiele dafür, was verstehen in Einzelfällen heißen kann.
Beispiele, was verstehen heißen kann
- Verstehen ordnet in Zusammenhänge ein (z. B. quadr. Gl. ist eine ganzr. Gl.)[8]
- Vestehen bindet Einzelfakten in Argumente ein (ist ein Beleg für/widerlegt)
- Verstehen beseitigt vorherige Widersprüche (Relativitätstheorie).
- Verstehen schließt vorherige Erklärungslücken (warum bewegen sich die Kontinente?).
- Verstehen fasst viele alte Erklärungen in einer neuen Erklärung zusammen (Newton und die Himmelsmechanik, Quantenpfade, Wegener)
- Verstehen kann zeigen, wie ein Denkmodell folgerichtig aus einem anderen hervorgeht (Thermodynamik aus Mechanik)
- Verstehen verbindet verschiedene Denkweisen: Kreisfläche als Integralrechnung aus Umfangsformel, Wellenformel
- Verstehen produziert einfache Denkmodelle (Occam): Kopernikus erklärt Planetenschleifen einfacher als Epizyklenmodell (Versuch im Garten)[6]
- Verstehen kann etwas begründen (z. B. warum 0-Komma-Periode-9 gleich 1 ist)
- Verstehen kann Dinge voraussagen (Wetter, wirksame Medikamente)
- Verstehen kann seine eigenen Grenzen angeben (man weiss, wann U=RI gilt und wann nicht)
- Verstehen kann Relevantes von Irrelevantem trennen (Um den Energieinhalt eines Zuckerstückes zu berechnen spielen Form und Dichte keine Rolle)
- Verstehen findet von mehreren möglichen Lösungswegen oft den einfachsten (z. B. statt pq-Formel auch ausklammern oder probieren)
- Verstehen kann erklären, wer verstanden hat, kann erklären
- Verstehen kann erklären, wo etwas in einer Systematik steht
Hinweise zur Förderung von Verstehen
- Probleme völlig begreifen (z. B. warum muss das Äthermodell des Lichts falsch sein?)
- Verschiedene Denkinhalte gleichzeitig oder zeitnah im Bewusstsein haben (Serendipity)
- Ein Faktum in verschiedenen Denkmodii erfassen: dividieren als Formel, als Bild und als Sprache
- Sich Fragen, ob ein Faktum (Aussage) bereits in einer anderen enthalten ist
- Gezielt und bewusst verschieden Aussagen auf Widersprüche untersuchen
- Gezielt und bewusst verschiedene Aussagen auf gegenseitige Ableitbarkeit untersuchen
- Bestimmte Wissensgebiete über Jahre immer wieder neu betrachten
- Warum- und Wozufragen stellen
Beispielfragen
- Warum geht Licht durch schweres, dickes Glas, aber nicht durch dünnes leichtes Papier?
- Wozu ist die Linse in Augen gut? Es gibt auch scharf sehende Auge ohne Linse (Tintenfisch).
- Mehr unter intelligent confusion ↗
Verstehen als Vereinfachung oder Modell
Im Jahr 1686 veröffentlichte der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz den Gedanken, dass eine Theorie einfacher sein muss, als die Daten, die sie erklären soll[5]. Was es heißen kann, dass eine Theorie einfacher als die erklärten Daten sein soll, schlugen gut dreihundert Jahre später die englische Mathematiker Stephen Wolfram und Roger Penrose vor. Wolfram ging dabei davon aus, dass man Prozessen in der Wirklichkeit eine zu ihrer Hervorbringen benötigte Rechenleistung zuordnen kann. Eine rechnerische Reduzierung heißt dann, dass man diesen Prozess der Wirklichkeit mit weniger Rechenleistung nachstellen kann, als er in der Wirklichkeit benötigt[6]. Penrose sprach dazu passend von Berechenbarkeit und brachte das Konzept auch mit der Wirkung von Bewusstsein in Verbindung[7]. Damit kommt man zu der Idee, dass Verstehen im Wesentlichen heißt, dass man ein Modell der Wirklichkeit hat, das einfacher als die Wirklichkeit ist, mit dem man aber alle wichtigen Aspekte der Wirklichkeit vorhersagen oder nachvollziehen kann. Siehe mehr dazu unter Modelldenken ↗
Fußnoten
- [1] 1801, alltäglich: "Eigentlich. Man verstehet jemanden. Man verstehet eine Rede, ein Wort, ein Zeichen, wenn man eben den Gedanken damit verknüpft, welchen der Urheber der Rede oder des Zeichens damit verbindet. Ich verstand ihn nicht. Du sprichst so undeutlich, daß man dich nicht verstehen kann. Ich habe nichts davon verstanden. Er verstehet jeden Wink, jede Mine. Jemanden falsch, unrecht verstehen. Was verstehest du darunter? was wolltest du damit sagen, was ist deine Meinung dabey? Durch Einsamkeit verstehe ich jede Entfernung von[1149] der Gesellschaft der Menschen. Das versteht sich von selbst, im gemeinen Leben, das versteht sich am Rande, das ist außer allem Streit, ist unleugbar, ist leicht einzusehen. Scherz verstehen, einen Scherz als einen Scherz aufnehmen, nicht empfindlich darüber werden. Er verstehet keinen Spaß. Oft bedeutet es auch, die Absicht einer Forderung einsehen. Du wirst mich schon verstehen. Aber er verstand Unrecht und versetzte ihm einen Schlag, sagt man im gemeinen Leben, wenn jemand ohne scheinbare hinlängliche Reitzung ausschlägt. Jemanden etwas zu verstehen geben, es ihn auf eine verdeckte Art merken lassen. Im Oberdeutschen wird es oft für ersehen gebraucht. Ich habe aus dem Briefe verstanden, ersehen." In: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1149-1150. Online: http://www.zeno.org/nid/20000503398
- [2] 1904, Arten von Verstehen: "Verstehen (intelligere) heißt, die Bedeutung eines Wortes, eines Satzes, eines Satzzusammenhanges erfassen, wissen, d.h. die den betreffenden Sprachzeichen zugehörigen Vorstellungen, Begriffe, Urteile mehr oder weniger deutlich, gegliedert, zusammenhängend reproducieren oder producieren können. CHR. WOLF definiert: »Sobald wir von einem Dinge deutliche Gedanken oder Begriffe haben, so verstehen wir es« […]. Nach KIESEWETTER ist Verstehen »etwas hinreichend zu einem Begriff sich vorstellen« […]. Nach J. G. FICHTE drückt »Verstehen« »eine Beziehung auf etwas aus, das uns ohne unser Zutun von außen kommen soll« (Gr. d. g. Wissensch. S. 201 f.). SUABEDISSEN erklärt: »Verstanden wird, was im Verstande gefaßt. also wessen Bedeutung und Stelle im Gedankensystem erkannt wird. Es ist dann zugleich begriffen und eben damit aus einem unklaren und unsichern zu einem klaren und sichern Gedanken geworden« (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S.118). CALKER bestimmt: »Das Erkennen, in welchem die Verbundenheit des Mannigfaltigen mit der Einheit erkannt wird vermittelst der Allgemeinheit, ist das Verstehen« (Denklehre, S. 250). BACHMANN erklärt: »Man versteht... etwas, wenn man nicht bloß erkennt, was es ist, sondern auch warum es so ist« (Syst. d. Log. S. 73). Nach L. FEUERBACH heißt Verstehen »etwas in und aus uns selbst, in Übereinstimmung mit mehreren eigenen vernünftigen Wesen. erkennen« (WW. III, 175). Nach JESSEN ist Verstehen so viel wie »den in Gehörtem oder Gelesenem enthaltenen Gedanken vollständig in sich reproducieren« (Physiol. d. menschl. Denk. S. 114). Nach LAZARUS heißt Verstehen »Gedachtes oder das Denken eines andern (denkenden) Subjects auffassen« oder auch: »den inneren Zusammenhang, die Beziehung der Dinge zu andern als zu ihren Zwecken und Ursachen auffassen« (Leb. d. Seele II2, 160. v gl. Einl. in d. Psychol. I, 385 ff.). HÖFFDING erklärt: »Ich verstehe, was etwas ist, wenn ich es wiedererkenne« (Philos. Probl. S. 34). Nach A. MEINONG besteht das Verstehen des Satzes im Erfassen des »Objectivs« durch ein Urteil oder eine »Annahme« (Über Annahm. S. 272). »Verstehen eines Gesprochenen...besteht im Erfassen seiner Bedeutung« (ib.). Nach HUSSERL beruht das Verstehen nicht auf Phantasiebildern. wir können ohne Anschauungen, in bloß symbolischen Vorstellungen denken. Verstehen ist das »actuelle Bedeuten« (Log. Unters. II, 62 ff.). Vgl. DUGAS, Le Psittcisme. RIBOT, Id. génér. – Vgl. Begreifen." In: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 647-648. Online: http://www.zeno.org/nid/20001808982
- [3] "In einem allgemeinen Sinne kann man V. als eine Weise des Sinnerfassens erklären. Die Art des Sinnerfassens unterscheidet sich je nach Gegenstandsbezug." In: der Artikel "Verstehen". Metzler Philosophie Lexikon. Herausgegeben von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar, 1999. ISBN: 3-476-01679-X. Dort die Seite 637.
- [4] Alfred North Whitehead. "Understanding." Lecture Three in Modes of Thought. New York: Macmillan (1938): 58-87.
- [5] "Gottfried W. Leibniz’s philosophical essay Discours de métaphysique (Discourse on Metaphysics), in which he discusses how one can distinguish between facts that can be described by some law and those that are lawless, irregular facts. Leibniz’s very simple and profound idea appears in section VI of the Discours, in which he essentially states that a theory has to be simpler than the data it explains, otherwise it does not explain anything." In: Gregory Chaitin: The Limits Of Reason. In: Scientific American, 294 (3): 74–81. 2006. Online: https://www.cs.auckland.ac.nz/~chaitin/sciamer3.pdf
- [6] Die Idee der Datenkompression klingt auch in Stephen Wolframs Konzept der Rechnerischen Irreduzibilität an. Eine Sache (oder ein Prozess) gilt als rechnerisch irreduzibel, wenn man sie nicht mit weniger Rechenaufwand nachstellen kann, als die ursprüngliche Sache benötigte. Wolfram sieht in diesem Konzept tiefere philosophische Bedeutungen. Siehe auch rechnerische Irreduzibilität ↗
- [7] Mit einer sehr umfassenden mathematischen und physikalischen Begründung will Penrose zeigen, dass menschliches Bewusstsein dort auftritt, wo Prozesse der Wirklichkeit nicht "berechenbar" sind. Verstehen rückt damit in die Nähe von Dingen, die nicht nach starren Regeln ablaufen und mit starren Regeln vereinfacht werden können. In: Roger Penrose: Computerdenken. Des Kaisers neue Kleider oder Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Natur. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1991, ISBN 3-8274-1332-X. Siehe auch Computerdenken ↗
- [8] Das Einbinden in einen größeren Zusammenhang beinahltet auch das Wort Begreifen: "Begreifen, eigtl. Erfassen, heißt, ein Ding oder einen Vorgang in seinem Zusammenhange, nach seinen Ursachen, seinem Wesen, seinem Zweck, seinen Beziehungen verstehen lernen. Begriffen ist also eine Sache nur dann, wenn wir nicht nur wissen, was sie ist, sondern warum sie so ist und wozu sie dient und wie sie mit allen anderen Dingen zusammenhängt. Der Stoiker Zenon ( 258 v. Chr.) schilderte den Übergang von der Erfahrung zum Begreifen, indem er die Wahrnehmung mit den ausgestreckten Fingern, die Zustimmung mit der halbgeschlossenen Hand, das Begreifen mit der Faust und das Wissen mit beiden zusammengedrückten Fäusten verglich (Cicero, Acad. II, 47, 145). Nach Kant (1724-1804) gehören zum Begreifen Vernunftbegriffe, wie zum Verstehn Verstandesbegriffe. Das Begreifen ist also ein Vernunftgeschäft. Vollständig begreift man nur, was man a priori einsieht. (Kant, Kr. d. r. Vern. II. Aufl., S. 367.)" In: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 88-89. Siehe auch Zusammenhang ↗