Emergenz
Systemtheorie
Definition
Emergenz hieß ursprünglich so viel wie Auftauchen[3], bald auch mit der Bedeutung des Neuartigen[4]. Man spricht heute von Emergenz, wenn ein System Eigenschaften zeigt, die seinen Teilen nicht zukommen. Emergente Eigenschaften enstehen erst durch das Zusammenspiel der Teile. Es werden verschieden eng gefasste Definitionen kurz vorgestellt.
Mehr als die Summe der Teile
Viele kleine Kugeln lassen sich so zusammenlegen, dass sie von weitem wie ein Viereck erscheinen. Die Viereckigkeit ist keine Eigenschaft, die einer Kugel zukommt. Doch ist die Möglichkeit, aus Kugeln grob ein Viereck zu legen bereits in der Idee einer Kugel leicht erkennbar enthalten. Der Begriff der Emergenz soll über diese bloße Addition von Eigenschaften aber hinausgehen.
Beispiel f(x) = x·e^x
f(x) = x·e^x ist eine sogenannten verknüpfte Funktion: der Funktionsterm besteht aus einem linearen Teil (dem x) und einem Exponentialteil (dem e^x). Weder die lineare Funktion f(x) = x noch die Exponentialfunktion f(x) = e^x haben Extrempunkte, sie haben also weder einen Hoch- noch einen Tiefpunkt. Die verknüpfte Funktion hingegen hat einen Extrempunkt. Die Eigenschaft, einen Extrempunkt zu besitzen, ist also erst durch die Verknüpfung emergiert. Siehe auch f(x)=xe^x ↗
Schwache Emergenz
Von schwacher Emergenz spricht man, wenn viele Teile so miteinander wechswelwirken, dass zwar neue Eigenschaften entstehen, diese aber durch eine Simulation nachgestellt werden können. Ein Beispiel ist die Schwarmintelligenz von Ameisen: viele scheinbar ziellos umherlaufende Ameisen finden als Kollektiv nach einiger Zeit den kürzesten Weg zwischen dem Ameisenhügel und einer Futterquelle. Dazwischen bildet sich dann eine stabile Ameisenstraße aus. Der Effekt beruht auf einfachen Mechanismen im Zusammenhang mit Duftstoffen (Pheromonen) und kann am Computer leicht simuliert werden: keine Ameise muss ein Wissen über den kürzesten Weg haben. Der emergente Effekt tritt aber erst auf, wenn ausreichend viele Ameisen beteiligt sind[1]. Siehe als Beispiel auch
Starke Emergenz
Starke Emergenz heißt, dass bei einem Zusammenspiel von Systemkomponenten plötzlich und unvorhersehbare Effekte auftrieten, die sich nicht aus der Wechselwirkung der Einzelteile erklären oder simulieren lassen. Hier ist das klassische Beispiel das Auftreten von Bewusstsein in neuronalen Strukturen. Es gibt keine physikalische Theorie, aus der sich Bewusstsein als Folge der Interaktion von Objekte der physikalischen Welt ableiten lässt. Manche Autore verbinden mit der starken Emergenz zusätzlich auch die Fähigkeit des Gesamtsystems, kausal auf seine Einzelkomponenten wirken zu können. Auch hier kann das Bewusstsein als Beispiel dienen, sofern man ihm die Fähigkeit zugesteht, kausal auf die Materie des Gehirn zu wirken[2]. Lies mehr unter Bewusstsein ↗
Emergenz und Leben
Emergenz spielt eine oft zentrale Rolle in Versuchen, das Leben als plötzlich auftretende Eigenschaft von Materie zu beschreiben. Ab einer gewissen Komplexität zeige ein System plötzlich Eigenschaften von Leben. Schwache Emergenz ließe zu, dass Leben auch durch Computersimulationen nachgestellt werden kann und letztendlich einen Turing-Test bestehen könnte. Starke Emergenz hingegen würde fordern, dass die Lebensphänomene als Ganzes kausal auf ihre Teile - etwa Neuronen - zurückwirken können. Bei dieser Annahme wird stellt sich zwangsläufig die Frage, was das Verhalten den Ganzen steuert, wenn nicht das Zusammenwirken seiner physikalischen Bausteine. Insbesondere wird die kausale Geschlossenheit der physikalischen Welt hinterfragt. Dieser Aspekt wurde umfangreich von Popper und Eccles diskutiert.[2]
Fußnoten
- [1] Glabowski, Mariusz & Musznicki, Bartosz & Nowak, Przemysław & Zwierzykowski, Piotr. (2012). Shortest Path Problem Solving Based on Ant Colony Optimization Metaheuristic. Image Processing & Communications. 17. 7-18. 10.2478/v10248-012-0011-5.
- [2] Die kausale Rückwirkung von Bewusstsein, etwa auf synaptische Prozesse, schlägt der Neurobiologie Sir John Eccles vor in: Karl Raimund Popper, John Carew Eccles: Das Ich und sein Gehirn. Piper Verlag, München. 6. Auflage, Januar 1997
- [3] Emergenz als Auftauchen, in einem Lexikon von 1854: "Emergens, lat., Entstehendes; Ereigniß; Emergenz, das Emporkommen; emergiren, auftauchen, emporkommen." In: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 550. Online: http://www.zeno.org/nid/20003316513
- [4] Emergenz auch als etwas Neues, in einem Lexikon von 1858: "Emergens (lat.), 1) (Bot.), auftauchend, aus dem Wasser, zur Zeit der Blüthe sich erhebend; 2) als Hauptwort ein Ereigniß, daher E. novum, etwas neu sich Zeigendes, ein neuer, den Stand der Sachen verändernder Umstand. Daher Emergenz, Emporkommen, Berühmtwerden; Emergiren, auftauchen, emporkommen." In: Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 671. Online: http://www.zeno.org/nid/20009856099
- [5] Emergenz auch in der Botanik, in einem Lexikon von 1906: "Emergénz (lat.), das Emportauchen, Sichhervortun; in der Botanik: Auswüchse der Pflanzenepidermis (s. Haare der Pflanzen). Emergieren, auftauchen, emporkommen." In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 754. Online: http://www.zeno.org/nid/20006550592
- [6] Emergenz in einem Lexikon von 1911: "Emérgens (lat.), etwas Auftauchendes, Entstehendes; Emergénz, das Emporkommen, Berühmtwerden; emergieren, auftauchen, emporkommen." In: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 509. Online: http://www.zeno.org/nid/20001078062
- [7] Dass die menschliche Vernunft aus der Tätigkeit vieler einzelnen Seelenzellen (Gehirnzellen) entsteht, vermutete der Biologie Ernst Haeckel (1834 bis 1919). In einer Rede sagte er: "Die Seelenzellen sind Haeckel zufolge die Zellen des Gehirns. Ihnen gesteht er ein eigenes Bewusstsein zu: "Die verwickelten Molekularbewegungen im Protoplasma der Seelenzellen, deren höchstes Resultat das Vorstellen und Denken, Vernunft und Bewußtsein ist, sind erst allmählich im Laufe vieler Jahrmillionen durch natürliche Züchtung erworben worden. Denn auch das Gehirn, das Organ jeder Funktionen, hat sich him Laufe dieser langen Zeiträume erst ganz langsam und stufenweise von der einfachsten zur vollkommensten Form entwickelt." In: Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen. Vortrag gehalten am 22. März 1878 in der Concordia zu Wien. Als Buch herausgegeben vom Verlag Alfred Krömer im Jahr 1909. Dort die Seite 25. Siehe mehr zu dieser Rede Haeckeln auf Zellseelen und Seelenzellen ↗
- [] Die Entstehung eines kollektiven Bewussteins als Emergenz nach einer sogenannten technologischen Singularität: "The technological singularity is popularly envisioned as a point in time when (a) an explosion of growth in artificial intelligence (AI) leads to machines becoming smarter than humans in every capacity, even gaining consciousness in the process; or (b) humans become so integrated with AI that we could no longer be called human in the traditional sense. […] technological singularity does not represent a point in time but a process in the ongoing construction of a collective consciousness." Seit über 10 Tausend Jahren entsteht in einem langsamen Prozess, einer "soft singularity" ein gemeinsames kollektives Bewusstsein von Maschinen und Menschen. In: O’Lemmon, M. (2020). The Technological Singularity as the Emergence of a Collective Consciousness: An Anthropological Perspective. Bulletin of Science, Technology & Society, 40(1-2), 15-27. Siehe auch kollektives Bewusstsein ↗