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Pollyanna


Doppeldenk


Basiswissen


Pollyanna ist der Titel eines Kinderbuches aus den USA. Das Wort steht in Anlehnung an die Titelheldin des Buches auch für eine naiv optimistische Haltung von Menschen. Das ist hier am Beispiel der klimapolitischen Sprecherin der Partei SPD vorgestellt.

Pollyanna als Kinderbuch


Das Kinderbuch Pollyanna erzählt die Geschichte der elfjährigen Waisen Pollyanna. Nach dem Tod ihrer Eltern kommt sie zu ihrer strengen, pflichtbewussten und freudlosen Tante. Pollyanna spielt das as „Such die Freude“-Spiel. Damit steckt sie ihre Tante und das ganze Dorf an. Als Pollyanna durch einen Unfall bedingt nicht mehr gehen kann, wird ihre Lebenseinstellung auf eine schwere Probe gestellt. Doch mit Hilfe der inzwischen verwandelten Dorfbewohner findet sie zurück zu ihrem alten Optismus.

Pollyanna als realitätsblinder Optimismus


Übersetzungseiten im Internet übersetzen das englische Wort Pollyanna heute als "grundlos optimistisch" (Leo.org), "unverbesserlichen Optimisten" (dict.cc), "blauäugig, unschuldig" (WordReference.com) oder mit "Frohnatur, rosarote Weltsicht" (Tureng.com). Vergleichbar verwendete Bezüge im deutschen Sprachraum sind die schwedischen Fernsehserien "Bullerbü" und "Pippi Langstrumpf" (ich mach mir meine Welt, wie sie mir gefällt). Anders als im originalen Kinderbuch, wird das Wort Pollyanna damit heute nicht mehr nur als eine erstrebenswerte positive Grundhaltung benutzt. Das Wort hat heute die Bedeutung eines realitätsblinden Optimismus angenommen. Das englische Wörtbuch dictionary.com macht das deutlich: "Pollyanna, noun: an excessively or blindly optimistic person. Adjective, (often lowercase), also Pollyannaish: unreasonably or illogically optimistic". Siehe auch => realitätsblind

Pollyanna in der Klimapolitik


Fragen zu Fakten mit langen Listen optimistischer Aussagen auszuweichen scheint eine rhetorische Strategie zu sein. Klimaforscher sagen voraus, dass im Jahr 2026 das 1,5 °C-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens erstmals verfehlt werden könnte [2]. Das kann zu weiteren chaotischen bis katastrophalen Zuständen führen [3]. Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres sieht uns auf "dem Highway zur Klimahölle [6]".

Als klimapolitische Sprecherin der Partei SPD hat Nina Scheer die Aufgabe, die Politik ihrer Partei in einem guten Licht darzustellen. Als Abgeordnete des Bundestages für den Kreis Lauenburg ist sie gemäß Artikel 38 des deutschen Grundgesetzes eine "Vertreterin des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Sie muss damit drei Loyalitäten bedienen: die gegenüber ihrer Partei, die gegenüber dem "ganzen Volk" und die gegenüber ihrem Gewissen. Das kann zu Loyalitätskonflikten führen.

Die Klimaforschung sagt recht eindeutig voraus, dass sich das Zeitfenster zur Abwendung unkontrollierbarer Folgen rapide schließt. Inzwischen werden zunehmend auch apokalyptische Szenarien ernsthaft untersucht [3]. Klimaforscher tendieren dazu die gegenwärtigen Maßnahmen für nicht ausreichend zur Abwendung eines Klimachaos zu halten. Das muss auch Frau Scheer bekannt sein, da diese Information nicht nur in Fachzeitschriften sondern auch in Alltagsmedien verbreitet ist. Das aber einzugestehen wäre gleichzeitig ein Eingeständnis einer wirkungslosen Klimapolitik der gegenwärtigen Regierungskoalition. Wie löst Frau Scheer diese => kognitive Dissonanz [?]

Frau Scheer scheint zur Lösung des Dilemmas systematisch die Methode Pollyannas zu nutzen. In einem Artikel in der Tageszeitung (TAZ) vom 28. April 2023 wurde der SPD vorgeworfen, eher die Geld-Interessen einer klimaschädlichen Industrie (Automobile, Steinkohle, Braunkohle) zu vertreten als eine wirksame Klimapolitik zu machen. Die Vorwürfe waren sehr konrket und detaillliert. In einem eigenen Gastkommentar in derselben Zeitung antwortete Frau Scheer auf den ersten Artikel. Sie ging dabei jedoch nicht auf die konkreten Vorwürfe ein. Stattdessen produzierte sie eine lange Liste von klimapolitischen Maßnahmen und Zieler ihrer Partei. An keiner Stelle erörterte Frau Scheer, ob diese Maßnahmen ausreichend seien. Der Artikel las sich so, als ob die SPD alles nötige eingestielt habe, man selbst als Leser nichts weiter zu tun habe und vor allem keinen Wohlstandsverzicht zu befürchten habe. In ähnlicher Weise antwortet auch die SPD-Bundestagsabgeordnete des Autoren dieser Zeilen hier auf konkrete Mails: anstatt konkrete Fragen mit ja oder nein zu beantworten, erhalten die oft langen Antworten bezuglos Listen von eigenen Maßnahmen und Zielen. Dieses systematische Ausblenden von unbequemen Fakten bei gleichzeitiger aggressiver Verbreitung eines unreflektieren Optimismus ist nicht strafbar [7]. Es trägt aber Züge von Populismus (ich sage, was die Leute hören wollen), von Demagogie (ich manipuliere sie in meine Richtung) sowie von Orwellschem => Doppeldenk

Pollyanna: eine manipulative Strategie oder Selbttäuschung?


Der englische Autor George Orwell frug sich in den 1930er und 1940er Jahren, ob die Machtelite seines Heimatlandes dumm oder bösartig manipulierend sei. Ich möchte hier Orwells Originalworte im Ganzen wiedergeben: "One thing that has always shown that the English ruling class are morally fairly sound, is that in time of war they are ready enough to get themselves killed. Several dukes, earls and what nots were killed in the recent campaign in Flanders. That could not happen if these people were the cynical scoundrels that they are sometimes declared to be. It is important not to misunderstand their motives, or one cannot predict their actions. What is to be expected of them is not treachery, or physical cowardice, but stupidity, unconscious sabotage, an infallible instinct for doing the wrong thing. They are not wicked, or not altogether wicked; they are merely unteachable. Only when their money and power are gone will the younger among them begin to grasp what century they are living in. [8]" Orwell sagt also, dass die englische Führungsschicht moralisch intakt war. Bewiesen hat sie das damit, dass sie sich auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges willig opferte. Was Orwell dieser Führungsschicht vorwarf war keine moralische Verfehlung sondern "Dummheit", "unbewusste Sabotage", einen "ein untrüglicher Instinkt das falsche zu tun". Es fällt mir allerdings schwer, im Falle von führenden Politikern, zudem mit akademischer Ausbildung, zu glauben, dass sie die drohende Gefahr nicht sehen. Zu deutlich weisen anerkannte Fachleute ständig darauf hin. Zweckoptimismus?

Zweckoptimismus als Gruppendenk


Sagen Personen in der Öffentlichkeit, was sie denken? Oder folgen sie eher einem Zweckoptimus? Betrachten wir dazu zwei Beispiele. Der US-amerikanische Talkmaster Tucker Carlson unterstützte mit großer demgagogischer Wirkung den US-amerikanischen Republikaner Donald Trump. In einem Gerichtsverfahren zeigte sich dann, dass er selbst nicht viel von Trump hielt [9]. Dass prominente Personen nicht immer an das glauben, was sie sagen, zeigte im Jahr 1945 auch der deutsche Generalleutnant Kurt Dittmar. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er im Namen des Oberkommando des Heeres (OKH) Radioansprachen gehalten. Darin befeuerte er den Glauben an den Endsieg Deutschlands. Als er nach der Gefangennahme durch US-amerikanische Truppen verhört wurde, räumte er ein: "Im Grunde habe ich nie angenommen, dass wir siegen [10]". Hier stellt sich die Frage, warum Menschen bewusst Dinge verbreiten, an die sie nicht glauben. Zweckoptimismus? George Orwell beschäftigte sich über seine gesamte schriftellerische Zeit hinweg mit der Frage nach Wahrheit und Rechtschaffenheit. Er sah vor allem Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe als ein sehr starkes Motiv an. Man sagt nicht, was man selbst für richtig hält, sondern was die Gruppe voranbringt. Siehe dazu auch den Artikel zum => Gruppendenk

Literatur