Sehstrahl
Optik
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Definition|
Historische Zitate|
Platons Sehstrahlen|
Das arabische Gehstock-Gleichnis|
Einfache Einwände|
Die Nachtblindheit|
Blick durch Glas|
Widerlegung|
Fußnoten
Definition
In der antiken und frühmittelalterlichen Optik war die Vorstellung verbreitetet, dass das Auge Strahlen aussende, die sozusagen ihre Umwelt abtasten. Das sei die Grundlage des Sehens.[1] Eine alternative Theorie ging davon aus, dass die von uns gesehene Dinge Bilder ihrer selbst aussenden, die dann von den Augen aufgenommen werden.[2] Die Theorie der Sehstrahlen hielt sich bis zur endgültigen Widerlegung durch arabische Gelehrte fast anderthalb Jahrtausende.[3] Interessanterweise ging auch die frühe chinesische Optik ähnlichen Fragen nach.[4]
Historische Zitate
Platons Sehstrahlen
ZITAT:
Platon (428 bis 348): "Und von den Organen konstruierten sie zuerst lichttragende Augen, und diese befestigten sie im Gesicht aus folgendem Grund. Sie ersannen, dass alles Feuer, das die Eigenschaft hatte, nicht zu brennen, sondern ein mildes Licht zu geben, einen Körper bilden sollte, der dem Licht eines jeden Tages verwandt ist. Denn sie bewirkten, dass das reine Feuer in uns, das dem des Tages verwandt ist, in einem glatten und dichten Strom durch die Augen fließt; und sie verdichteten die gesamte Substanz, und insbesondere das Zentrum, der Augen, so dass sie alles andere, gröbere Feuer ausschlossen und nur diese reine Art von Feuer hindurchfilterten. So fließt der Strom des Sehens, wann immer er vom Mittagslicht umgeben ist, heraus wie ähnliches zu ähnlichem, und verbindet sich damit zu einer verwandten Substanz entlang des Weges der Sicht der Augen, wo auch immer das Feuer, das von innen strömt, auf ein hinderndes Objekt trifft. Und diese Substanz, die in ihren Eigenschaften alle ähnlich geworden ist, wegen ihrer ähnlichen Natur, verteilt die Bewegungen jedes Objekts, das sie berührt, oder wodurch sie berührt wird, durch den gesamten Körper bis hin zur Seele und bringt jene Empfindung hervor, die wir jetzt 'Sehen' nennen. Aber wenn das verwandte Feuer in der Nacht verschwindet, wird das innere Feuer abgeschnitten; denn wenn es in das Unähnliche austritt, verändert es sich selbst und wird gelöscht, da es nicht mehr von gleicher Natur mit der angrenzenden Luft ist, da diese Luft ohne Feuer ist. Daher hört es auf zu sehen und wird auch ein Anreiz zum Schlafen. Denn die Augenlider - deren Struktur die Götter[45e] als Schutz für das Sehen erdachten - wenn sie fest geschlossen sind, zügeln die Kraft des inneren Feuers; diese Kraft zerstreut und beruhigt die inneren Bewegungen, und auf ihre Beruhigung folgt Stille; und wenn diese Stille intensiv geworden ist, fällt auf uns ein Schlaf, der nahezu traumlos ist."[5]
Platon (428 bis 348): "Und von den Organen konstruierten sie zuerst lichttragende Augen, und diese befestigten sie im Gesicht aus folgendem Grund. Sie ersannen, dass alles Feuer, das die Eigenschaft hatte, nicht zu brennen, sondern ein mildes Licht zu geben, einen Körper bilden sollte, der dem Licht eines jeden Tages verwandt ist. Denn sie bewirkten, dass das reine Feuer in uns, das dem des Tages verwandt ist, in einem glatten und dichten Strom durch die Augen fließt; und sie verdichteten die gesamte Substanz, und insbesondere das Zentrum, der Augen, so dass sie alles andere, gröbere Feuer ausschlossen und nur diese reine Art von Feuer hindurchfilterten. So fließt der Strom des Sehens, wann immer er vom Mittagslicht umgeben ist, heraus wie ähnliches zu ähnlichem, und verbindet sich damit zu einer verwandten Substanz entlang des Weges der Sicht der Augen, wo auch immer das Feuer, das von innen strömt, auf ein hinderndes Objekt trifft. Und diese Substanz, die in ihren Eigenschaften alle ähnlich geworden ist, wegen ihrer ähnlichen Natur, verteilt die Bewegungen jedes Objekts, das sie berührt, oder wodurch sie berührt wird, durch den gesamten Körper bis hin zur Seele und bringt jene Empfindung hervor, die wir jetzt 'Sehen' nennen. Aber wenn das verwandte Feuer in der Nacht verschwindet, wird das innere Feuer abgeschnitten; denn wenn es in das Unähnliche austritt, verändert es sich selbst und wird gelöscht, da es nicht mehr von gleicher Natur mit der angrenzenden Luft ist, da diese Luft ohne Feuer ist. Daher hört es auf zu sehen und wird auch ein Anreiz zum Schlafen. Denn die Augenlider - deren Struktur die Götter[45e] als Schutz für das Sehen erdachten - wenn sie fest geschlossen sind, zügeln die Kraft des inneren Feuers; diese Kraft zerstreut und beruhigt die inneren Bewegungen, und auf ihre Beruhigung folgt Stille; und wenn diese Stille intensiv geworden ist, fällt auf uns ein Schlaf, der nahezu traumlos ist."[5]
ZITAT:
Euklid (3. Jh. v. Chr.): "Geradlinige Strahlen reichen vom Auge divergierend ins Unendliche, und man sieht damit die Dinge auf die Strahlen fallen und man sieht nicht die Dinge auf die die Strahlen nich fallen."[6]
Euklid (3. Jh. v. Chr.): "Geradlinige Strahlen reichen vom Auge divergierend ins Unendliche, und man sieht damit die Dinge auf die Strahlen fallen und man sieht nicht die Dinge auf die die Strahlen nich fallen."[6]
Das arabische Gehstock-Gleichnis
ZITAT:
"Geht jemand im dunklen mit einem Stock spazieren, und streckt er den Stock ganz vor sich aus, und trifft der Stock dann auf einen Gegenstand das seine weitere Bewegung verhindert, dann weiß der Spaziergänger sofort, dass dort ein fester Gegenstand sein muss. Genauso ist es mit dem Sehen."[7]
"Geht jemand im dunklen mit einem Stock spazieren, und streckt er den Stock ganz vor sich aus, und trifft der Stock dann auf einen Gegenstand das seine weitere Bewegung verhindert, dann weiß der Spaziergänger sofort, dass dort ein fester Gegenstand sein muss. Genauso ist es mit dem Sehen."[7]
Einfache Einwände
Die Nachtblindheit
Ein zunächst offensichtlicher Einwand gegen die Idee, dass Sehstrahlen vom Auge ausgehen, ist unsere Unfähigkeit bei völliger Dunkelheit zu sehen. Diesen Einwand entkräftete zum Beispiel Platon damit, dass bei Dunkelheit die Sehstrahlen nicht durch die Luft gehen könnten.[5] Interessant ist bei Platons Argumentation auch, dass er ein Wozu mit angibt: die Dunkelheit behindert dass Sehen auch als Anreiz zum Schlafen. Man begegnet hier einer Vorstellung, die der schweizer Psychiater Jean Piaget vor allem bei jungen Kindern beschrieb: die Welt ist erschaffen zu und dient unserem Wohle.[8]
Blick durch Glas
Den alten Griechen, und damit auch den Vertretern der Sehstrahlen-Theorie müssen feste durchsichtige Gegenstände bekannt gewesen sein. Glas war seit dem 3ten Jahrtausend vor Christus bekannt. Und die Welt der Mineralien bietet viele Beispiele für durchsichtige feste Körper. Die Sehstrahl-Theorie müsste eigentlich an diesem Einwand gescheitert sein.
Widerlegung
Die Theorie der Sehstrahlen war nie ohne Alternativen. Schon der chinesiche Universalgelehert Mo Di (墨翟) (etwa 470 bis etwa 391) sah die Dinge schon klarer.[3] Aber auch in der griechischen Antike gab es konkurrierende Vorstellungen.[2] Als endgültig widerlegt galt die Theorie der Sehstrahlen aber erst durch die Arbeiten der arabischen Gelehrten Razes (865‒925 n. Chr. ) und Alhazen (965 bis 1040). Das war grob gesagt zur Zeit Karls des Großen.
Fußnoten
- [1] Antike Vertreter und arabische Aufklärer: "Emission theory, championed by scientists such as Plato and Euclid, postulated that vision transpires through the emission of rays from the eyes." Als wirkmächtiger Vertreter dieser Theorie wird beispielhaft Galen genanannt. Ein früher Zweifler war Ptolemäus, endgültig widerlegt wurde die Theorie durch die arabischen Gelehrten Razes (865‒925 n. Chr. ) und Alhazen (965 bis 1040). In: Heydari M, Talebnejad MR, Tajik N. Rhazes on the Rejection of "Emission Theory" of Vision. Arch Iran Med. 2025 Mar 1;28(3):180-181. doi: 10.34172/aim.31205. Epub 2025 Mar 1. PMID: 40298013; PMCID: PMC12038803
- [2] Die konkurrierende Immissions-Theorie: von den Dingen gehen Bilder aus, die unsere Augen einfangen: "Greek philosophy on optics broke down into two opposing theories on how vision worked, the intromission theory and the emission theory.[4] The intromission approach saw vision as coming from objects casting off copies of themselves (called eidola) that were captured by the eye. With many propagators including Democritus, Epicurus, Aristotle and their followers, this theory seems to have some contact with modern theories of what vision really is, but it remained only speculation lacking any experimental foundation." In: der Artikel "Optics". Hellinica.com Lexikon. Abgerufen am 30. Juni 2025. Dort heißt es: All text is available under the terms of the GNU Free Documentation License. Online: https://www.hellenicaworld.com/Science/Physics/en/Optics.html
- [3] Heydari M, Talebnejad MR, Tajik N. Rhazes on the Rejection of "Emission Theory" of Vision. Arch Iran Med. 2025 Mar 1;28(3):180-181. doi: 10.34172/aim.31205. Epub 2025 Mar 1. PMID: 40298013; PMCID: PMC12038803.
- [4] Einen interessanten Einblick in die Kenntnisse der frühen chinesischen Optik findet man in: Jennifer Purtle: Double Take: Chinese Optics and their Media in Postglobal Perspective. Volume 48. In der Einleitung heißt es: "In order to complicate the notion of a visual world universally constituted by light, this article undertakes an archaeology of light as a medium in China, where the discoveries of the polymath Mo Di 墨翟 (ca. 470–ca. 391 BCE) established different epistemological foundations for the study of light roughly a century before the Optica (Optics) of the Greek mathematician Euclid (mid-4th–mid-3rd century BCE)." Abgerufen am 30. Juni 2025. Permalink: https://doi.org/10.3998/ars.13441566.0048.004
- [5] Platos Beschreibung seiner Sehstrahlen, die Übersetzung ins Deutsche stammt von mir, Grundlage war eine Übersetzung ins Englisch: "And of the organs they constructed first light-bearing eyes, and these they fixed in the face for the reason following. They contrived that all such fire as had the property not of burning but of giving a mild light should form a body akin to the light of every day. For they caused the pure fire within us, which is akin to that of day, to flow through the eyes in a smooth and dense stream; [45c] and they compressed the whole substance, and especially the center, of the eyes, so that they occluded all other fire that was coarser and allowed only this pure kind of fire to filter through. So whenever the stream of vision is surrounded by midday light, it flows out like unto like, and coalescing therewith it forms one kindred substance along the path of the eyes' vision, wheresoever the fire which streams from within collides with an obstructing object without. And this substance, having all become similar in its properties because of its similar nature, [45d] distributes the motions of every object it touches, or whereby it is touched, throughout all the body even unto the Soul, and brings about that sensation which we now term “seeing.” But when the kindred fire vanishes into night, the inner fire is cut off; for when it issues forth into what is dissimilar it becomes altered in itself and is quenched, seeing that it is no longer of like nature with the adjoining air, since that air is devoid of fire. Wherefore it leaves off seeing, and becomes also an inducement to sleep. For the eyelids —whose structure the Gods devised [45e] as a safeguard for the vision,—when they are shut close, curb the power of the inner fire; which power dissipates and allays the inward motions, and upon their allaying quiet ensues; and when this quiet has become intense there falls upon us a sleep that is well-nigh dreamless;" In: Plato. Plato in Twelve Volumes, Vol. 9 translated by W.R.M. Lamb. Cambridge, MA, Harvard University Press; London, William Heinemann Ltd. 1925. This work is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 United States License.
- [6] Euklid, die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche stammt von mir: "Rectilinear rays proceeding from the eye diverge infinitely [and] those things are seen upon which the visual rays fall and those things are not seen upon which the visual rays do not fall." In: Euclid (1948). Optics. In M. R. Cohen and I. E. Drabkin (Eds.), A source book in Greek science (pp.257-261). Cambridge, MA: Harvard Univ. Press.
- [7] Die Übersetzung ins Deutsche aus der Englischen Vorlage stammt von mir. Die englische Vorlage ist: "If a person is walking in the dark and holds a stick in his hand and stretches it out full length before him, and the stick encounters an object which prevents it from advancing further, he knows immediately by analogy that the object preventing the stick from advancing is a solid body which resists anything that comes up against it...it is the same with vision.". Zitiert nach: Rashed, Roshdi (1996). Encyclopedia of the History of Arabic Science. New York: Routledge. pp. 682–683. Arabisches Original:
- [8] Die Idee, dass alles physikalische einem Zweck folgt, durchzieht das gesamte antike wie auch mittelalterliche Denken Europas. Erst die moderne Physik, seit dem 16ten Jahrhundert, verbannte die Frage nach dem Zweck aus ihren Erkenntniszielen. Siehe dazu auch den Artikel zum Wozu ↗
- [] "In paragraphs 5 and 86 of the De sensibus Theophrastus gives a brief report of Plato’s views on the sense of vision and its object, i. e. colour, based on the Timaeus. Interestingly enough, he presents the Platonic doctrine as a third alternative to the extramission and intromission theories put forward by other ancient philosophers." In: Ierodiakonou, Katerina. "Theophrastus on Plato’s Theory of Vision" Rhizomata, vol. 7, no. 2, 2019, pp. 249-268. https://doi.org/10.1515/rhiz-2019-0011
- [] Beare, John I. (1906): Greek Theories of Elementary Cognition from Alcmaeon to Aristotle. Oxford: Clarendon Press (Photomechanical reprint: New York: Thoemmes, 1995).Suche in Google Scholar
- [] Boudon-Millot, V. (2012): “Vision and Vision Disorders: Galen’s Physiology of Sight”. In: M. Horstmanshoff, H. King, C. Zittel (eds.): Blood, Sweat and Tears – The Changing Concepts of Physiology from Antiquity into Early Modern Europe. Leiden: Brill, pp. 551–567.
- [] Brisson, Luc (1999): “Plato’s Theory of Sense Perception in the Timaeus: How it Works and What it Means”. In: J. J. Cleary and G. M. Gurtler (eds.): Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, vol. 13, Leiden: Brill, pp. 147–176.