Seasteading
Sozialutopie
Basiswissen
Im Jahr 1869 erschien Jules Vernes Roman über den Kapitän Nemo, der in Abkehr von der restlichen Welt auf einem U-Boot die Weltmeere bewohnte. Verne arbeitete das Thema alternativ lebender Gemeinschaften später noch weiter aus in seiner Idee von der Propellerinsel. Vernes Idee wurde seit den 1980er Jahren mit den heutigen Mitteln der Technik neu aufgegriffen und inspiriert heute Sozialutopisten verschiedener Richtungen.
Die Idee des Seasteading auf hoher See
Seasteading, auf Deutsch so viel wie sich eine Heimstatt auf hoher See schaffen, hat als Ziele, a) größeren Lebensemeinschaften einen Lebensraum außerhalb bestehender staatlicher Kontrollen zu ermöglichen oder b) alternative Lebensräume für Bewohner untergehender Küstenregionen zu schaffen. Zur technischen Umsetzung vorgeschlagen werden etwa Kreuzfahrtschiffe, Bohr- und Förderplattformen oder speziell gebaute Containersiedlungen.
Vorläufer aus der Geschichte
Um 100 vor Christus gab es im Gebiet des heutigen Israel die Sekte von Qumran. Dort lebten Menschen weitgehend abgeschottet von der restlichen Menschheit, nach eigenen Gesetzen. Die Idee, Siedlungen abseits der sozialen Mehrheit, und oft in Widerspruch zu dieser, zu gründen durchzog seitdem die Jahrhunderte. Von den vielen hunderten Versuchen überdauerten nur wenige mehr als ein oder zwei Generationen. Ein geschichtlicher Vergleich kann aber Merkmale für eine langfristige Stabilität andeuten. Eine breite Übersicht dazu gibt der Artikel zu Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage ↗
Voraussetzungen für stabile Gemeinschaften
Schwimmende Siedlungen oder Städte auf dem Meer inspirieren zu sozialutopischen Denken. Könnte man dort nicht frei vom zersetzenden Charakter der Konsumgesellschaft leben? Wäre man dort nicht zumindest vorläufig sicher vor Künstlicher Intelligenz? Wer immer solche Gedanken nennt träumt wahrscheinlich davon, dass die Utopie Wirklichkeit wird und lange Bestand hat. Tatsächlich zeigt die Geschichte viele Beisiele für schnell wieder verschwundene solche Siedlungen aber auch einige mit überraschend hoher Langlebigkeit. Die Bewegung des Seasteading wird vor allem von Intellektuellen getragen. Hier zeigt sich der Widerspruch, dass gerade Intellektuelle historisch nicht erfolgreich darin waren, in dauerhaften Siedlungen ihresgleichen zu leben[6, Seite 288]. Hier steht eine Liste von immer wieder diskutierten Faktoren, die die soziale Stabilität beeinflussen könnten[6][7][8].
- Soll die Gemeinschaft autark sein benötigte man Landwirte und Handwerker.
- Siedlungsversuche auf rein intellektueller Basis sind meist gescheitert.
- Soll die Siedlung Einkommen erzielen, braucht sie Exportgüter. Wissen?
- Abweichler und die Idee zersetzende Personen müssen ausgewiesen werden können.
- Kleinfamilien schaden nicht der Stabilität, Sippen und Clans schon[8].
- Eignung sollte das höchste Auwahlkriterium für Ämter sein[7] Meritokratie ↗
- Ab einer gewissen Größe wird die Gemeinschaft geteilt (z. B. Hutterer).
Der Weltraum als Alternative
Es gibt bereits heute konkrete, technisch machbare Entwürfe für größere Siedlungen in einer Erdumlaufbahn (Standford-Torus), auf dem Mond oder Mars. Der hohe technische Aufwand und die damit verbundenen Kosten machen Weltraumsiedlungen nur für finanzstarke Einzelunternehmen oder Personen oder größere Staaten interessant. Doch scheinen bei diesen Projekten, sofern sie konkreter werden, meist technische Vision gegenüber den sozialen zu überwiegen. Siehe als Beispiel den Stanford-Torus ↗
Chamäleonautik (Binnenemigration) als Alternative
Als Chamäleonautik soll hier eine spekulative Form der Binnenemigration bezeichnet werden: man erzeugt Lebensumstände in räumlicher Nähe und mit funktionaler Abhängigkeit zu genau jenen sozialen Wirklichkeiten, vor denen man sich frei halten will. In der Sprache der Biologie lebt man selbst als Symbiont oder Parasit in enger Koevolution mit dem Wirtsorganismus. Übertragen auf die soziale Wirklichkeit wäre das eine Lebensform, in der man sich die Eigenständigkeit wahrt und dennoch weder in offener Feindschaft nur vollständiger Isolation von genau jener Gesellschaft hält, von der man kein Teil sein will. Siehe auch Chamäleonautik ↗
Fußnoten
- [1] Zwanzigtausend Meilen unter Meer. 2 Bände. Deutsch von Peter Laneus. Diogenes, Zürich 1976, ISBN 978-3-257-20244-1 (Band 1), ISBN 978-3-257-20245-8 (Band 2). Erstveröffentlichung im Jahr 1869.
- [2] Julius Verne: Die Propellerinsel. Mit 81 Illustrationen. In: Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne. Band 67 und 68. A. Hartleben’s Verlag, Wien. Pest. Leipzig. 1897.
- [3] Ken Neumeyer: Sailing the Farm: A Survival Guide to Homesteading on the Ocean. 1981. ISBN: 978-0898150513.
- [4] Tomasz M. Froelich: Festland adé! In: Henning Lindhoff (Hrsg.): Freiheitskeime 2013. Ein libertäres Lesebuch. Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8482-5247-3, S. 45–56.
- [5] Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus. Unrast Verlag, Münster 2022. ISBN 978-3-89771-175-4, S. 62–64.
- [6] Hermann Schrempp: Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen. 1969. Siehe auch Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage ↗
- [7] Hartmut Boockmann: Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte. C. H. Beck. 1981. ISBN: 3 406 08415 X.
- [8] Bernard Jussen: Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. Verlag C. H. Beck. 2014. ISBN: 978 3 406 66181 5.
- [9] Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. 1957. (Satire). ISBN: 9783518224106.