Drehimpulserhaltung
Physik
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Basiswissen
Hat man irgendeine Kreisbewegung von einem echten Körper mit Masse, so kann man diesem Körper einen Drehimpuls zuordnen.[1] Solange von außen keine Kräfte auf das System einwirken, wird sich dieser Drehimpuls nicht ändern, auch wenn sich die Drehbewegung in ihrer Geschwindigkeit ändert. In der Kosmologie geht man davon, dass auch der Drehimpuls des gesamten Universums erhalten bleibt.[1]
Kants gute falsche Theorie
In einer beachtlichen naturphilosophischen Schrift aus dem Jahr 1755[3] hat der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis 1804) in groben Zügen die Entstehung unseres Sonnensystems aus einem Urnebel beschrieben. Das äußere Bild, das Kant zeichnet, entspricht weitgehend auch der heute noch gültigen Vorstellung: aus einem Urnebel bildet sich eine flache Scheibe die um sich selbst rotiert. Innerhalb dieser Scheibe entstehen dann die Sonne, die Planeten, die Monde und die Kometen.
Paradoxerweise kommt Immanuel Kant mit falschen Annahmen zu einem richtigen Ergebnis kommt. Das ist so, als würde man 3·4=15 fälschlicherweise für richtig halten und darauf aufbauend dann 4·4 korrekt lösen. In Anlehnung an George Orwells (1903 bis 1950) Idee von "guten schlechten Gedichten"[4] oder "guten schlechten Büchern"[5] könnte man Kants Nebularhypothese eine gute falsche Theorie nennen. Gut ist sie insofern, als sie eine scheinbare Erklärung des heutigen Sonnensystems aus der tatsächlich richtigen Annahme eines Urnebels gibt. Falsch ist sie aus einem Grund, der etwas mit der Erhaltung des Drehimpulses zu tun hat.
Kant beobachtet zu recht die zunächst auffällige Tatsache, dass alle Planeten und die Sonne in ihren Drehbewegungen eine gemeinsame Richtung haben. Dass die Planeten auf dem Weg um die Sonne überhaupt eine Bewegung benötigen ist nicht weiter verwunderlich. Erst mit Hilfe der Drehbewegung kann die Anziehungskraft der Sonne neutralisiert werden, sodass die Planeten nicht in die Sonne stürzen. Aber zunächst ist kein Grund ersichtlich, warum die Planeten alle in derselben Richtung um die Sonne wandern sollten. Die nötige "Fliehkraft" könnten sie auch dann erlangen, wenn manche rechtsherum und andere linksherum die Sonne umwandern.
Um nun die gemeinsame Drehrichtung zu erklären, bemüht Kant den Gedanken, dass sich die Theile des Urnebels beim Zusammenziehen Richtung Zentrum, wo die Sonne entsteht, gegenseitig anstoßen und dabei von einer geradlinigen Bewegung hin zum Zentrum abgelenkt werden. Und diese Ablenkung folge einem Bestreben der Teilchen des Urnebels "eines des andern Bewegung so lange einschränken, bis alle nach einer Richtung fortgehen". Genau dieser Satz drückt etwas Falsches aus. Es gibt kein Bestreben einander anstoßender Teilchen, sich gegenseitig hin auf eine gemeinsame Richtung der Bewegung zu beeinflussen. Kant zaubert dieses Erklärungsbild sozusagen aus dem Hut, es ist wie ein As, das ein Falschspieler unerlaubterweise aus dem Ärmel zieht.
Im Rückblick aus der Sicht der modernen Physik kann man Kants Fehler leicht erklären: es gilt die Erhaltung des Drehimpulses. Wenn es im Urnebel keinen Drehimpuls in eine bevorzugte Richtung gegeben hat, dann kann aus diesem urnebel ohne äußere Störfaktoren kein Sonnensystem mit bevorzugtem Drehimpuls in eine Richtung geben. Kants Urnebel, in dem es keine anfängliche Drehbewegung der Teilchen im Sinne von Kreisbahnen gab, in Übereinstimmung mit dem Satz von der Erhaltung des Drehimpulses ein Sonnensystem erzeugen, bei dem sich die Drehimpulse aller beteiligten Himmelskörper gegenseitig ausgleichen. Das aber würde heißen, dass die Himmelskörper die Sonne in entgegengesetzen Richtungen umlaufen und/oder auch unterschiedlich gerichtete Eigenrotationen haben. Aber genau das ist ja nicht der Fall. Und damit ist Kants Gedankengang falsch.
Und Kant begeht noch einen Fauxpas, einen Fehltritt in Sachen guter Wissenschaft. Er argumentiert inkonsequent, er erzeugt innere Widersprüche in seiner Argumentation. Und genau damit wird die Geschicht noch einmal verwunderlicher. Denn bei der Erklärung der Drehrichtung der Eigenrotation von Planeten um ihre eigene Achse geht Kant dann plötzlich korrekterweise von einer Art Erhaltung des Drehimpulses aus:
ZITAT:
"so müssen sie, als Theile desselben [des entstehenden Planeten], eben dieselbe Umwendung nach eben derselben Richtung fortsetzen, die sie hatten, ehe sie mit ihm vereinigt worden."[3]
"so müssen sie, als Theile desselben [des entstehenden Planeten], eben dieselbe Umwendung nach eben derselben Richtung fortsetzen, die sie hatten, ehe sie mit ihm vereinigt worden."[3]
Die "Theile", man kann sich vielleicht kleine meteoritenartige Brocken vorstellen, die auf die Erde fallen. Als Laborversuch könnte man einen großen Ball auf den Boden oder in einer Wasserwanne (weniger Reibung) legen und ihn dann mit kleinen Steinchen bewerfen. Wenn die Steinchen in geeigneter Weise auf den Ball geworfen werden, kann man ihn in eine Eigenrotation bringen. Analysiert man die Mechanik des Geschehens, wird man den geworfenen Teilchen einen gemeinsamen Drehimpuls zuordnen können, der auch nachher im rotierenden, übertragen im Planeten, enthalten ist.
Man könnte mit diesem Satz Kant fast als Urheber des Satzes von der Erhaltung des Drehimpulses ansehen. Aber in einer Gesamtschau seiner "Theorie des Himmels" findet man auch gegensätzliche Denkmuster (siehe oben). Und nirgends findet sich in dem Werk eine längere Einzeldarstellung des Prinzips mit Unterstreichung seiner Bedeutung. Den Satz von der Erhaltung des Drehimpulses in seiner heutigen fundamentalen Bedeutung haben andere Denker entwickelt.
Fußnoten
- [1] Man unterscheidet einen Eigen- und einen Bahndrehimpuls. Zur Definition und Berechnung dieser zwei Arten von Drehimpuls siehe den Artikel Drehimpuls ↗
- [2] Neben der Massenerhaltung der Chemie, der Energiehaltung der Physik, der Erhaltung der elektrischen Ladung, sowie der Erhaltung des Impulses ist die Erhaltung des Drehimpulses einer der fundamentalen Erhaltungssätze ↗
- [3] Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. Petersen, Königsberg und Leipzig 1755. Siehe auch Nebularhypothese (Immanuel Kant) ↗
- [4] Good bad poetry bringt ein tiefes Gefühl passend zum Ausdruck und geht in die Kultur eines Landes ein, obwohl man leicht erkennt, was mit dem Gedicht falsch ist. So sah es George Orwell (1903 bis 1950). Im Original: "There is a great deal of good bad poetry in English, all of it, I should say, subsequent to 1790." Unter anderem nennt er Kiplings Gedicht "Charge of the Light Brigade" als Beispiel. Das kennzeichnende Mekmal guter schlechter Gedichte ist ihre überdauernde Beliebheit trotz ihrer offensichtlichen Mangelhaftigkeit: "All of these reek of sentimentality, and yet – not these particular poems, perhaps, but poems of this kind, are capable of giving true pleasure to people who can see clearly what is wrong with them. One could fill a fair-sized anthology with good bad poems, if it were not for the significant fact that good bad poetry is usually too well known to be worth reprinting." In: George Orwell: Rudyard Kipling. Erschienen im Horizon, September 1941.
- [5] Ein Beispiel für gute schlechte Bücher im Sinne Orwell ist Onkel Toms Hütte. Über dieses Buch schreibt er: "It is an unintentionally ludicrous book, full of preposterous melodramatic incidents; it is also deeply moving and essentially true; it is hard to say which quality outweighs the other." Weitere Beispiele sind Conan Doyles Sherlock Holmes Geschichten oder die im England seiner Zeit poplären Raffles-Geschichten. Orwell erkennt an, dass der Begriff "good bad book" auf den katholischen Schriftsteller G. K. Chesterton zurückgeht. In: George Orwell: Good Bad Books. Erschienen im Tribune, 2. November 1945.