Occasionalismus
Philosophie
Basiswissen
Als Occasionalismus bezeichnet man die Vorstellung, dass Gott gelegentlich in den Weltprozess eingreift. Der Gedanke wurde im 17ten Jahrhundert als als mögliche Lösung des von Descartes aufgeworfenem Dualismus von Leib (res extensa) und Seele (res cogitans) entwickelt. Nach Descartes waren Leib und Seele zwei völlig voneinander getrennte Substanzen, die nicht aufeinander einwirken können. Damit könnte aber auch die Seele ihren Leib nicht steuern. Indem Gott aber in den Prozess eingreift, kann die Seele auf diesem Umweg doch auf den materiellen Leib wirken[1, Seite 411]. Siehe zum Ausgangspunkt auch Leib-Seele-Problem ↗
Fußnoten
- [1] Metzler Philosophie Lexikon. Herausgegeben von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar, 1999. ISBN: 3-476-01679-X. Siehe auch Metzler Philosophie Lexikon ↗
- [2] Occasionalismus in einem einem Lexikon aus dem Jahr 1857: "Occasionalismus (Occasionalsystem), 1) die von Descartes, um den unerklärlich scheinenden gegenseitigen Einfluß der Seele u. des Körpers zu umgehen, aufgestellte Ansicht, daß die Vorstellungen der Seele u. die Bewegungen des Körpers durch unmittelbare Einwirkung (Assistenz) Gottes gleichzeitig, aber unabhängig von einander, also nur gelegentlich, eintreten. Daher Occasionalisten, welche in diese Ansicht eingehen. 2) Hypothese, nach welcher bei der Zeugung Gott jedesmal, wenn die organisirbaren Zeugungsstoffe einander berühren u. auf einander wirken, ein neues organisches Wesen körperlich u. geistig schafft." In: Quelle: Online: http://www.zeno.org/nid/20010540938
- [3] Occasionalismus in einem Lexikon aus dem Jahr 1904: "Occasionalismus: System der Gelegenheitsursachen (»causae occasionales«), nach welchem a. alle Einzelursachen nur »Gelegenheiten«, Anlässe sind, während die wahrhafte (active, bewirkende) Ursache Gott ist. b. die Coordinationen, Wechselbeziehungen von Seele und Leib nicht auf directer Wechselwirkung (»influxus physicus«, s. d.) beruhen, sondern von Gott (in jedem einzelnen Falle oder von Anfang an) hergestellt werden, so daß jeder physische Vorgang im Organismus für Gott die Gelegenheit gibt, einen entsprechenden psychischen auszulösen, und umgekehrt ein psychischer Vorgang die Gelegenheit für das Auftreten eines physischen ist. Der allgemeine Occasionalismus wird schon von arabischen Philosophen (Ascharîya, Motakallimun) gelehrt (vgl. L. STEIN, Arch. f. Gesch. d. Philos.[48] I, 61. II, 207 ff.). »Nullum corpus inveniri, quod actionem aliquam habeat, verum ultimum tantum agens Deum.« »Dicunt etiam secundum istam hypothesin, quando homo movet (h. e. sibi videtur movere) calamum, hominem nequaquam illum movere, sed motum calami esse accidens a Deo in calamo creatum« (bei MAIMONIDES, Doct. perpl. I, 73). »Occasio«, »causa occasionalis« ist nach DUNS SCOTUS das Object für die Betrachtung des Intellectes, dieser ist »principalis causa« (vgl. PRANTL, G. d. L. III, 211). Nachdem schon DESCARTES zur Erklärung der Wechselwirkung zwischen den völlig verschiedenartigen Substanzen Leib und Seele der Annahme einer »Assistenz« (s. d.) Gottes bedurfte (Ep. II, 55), wird in der Schule des Cartesianismus, dem die directe Wechselwirkung zwischen Seele und Leib unbegreiflich erscheint, der psychophysische Occasionalismus ausgebildet. So bei REGIS (Cours de philos. I, p. 123 ff.), CORDEMOY (Discern. de l'âme et du corps). Bei CLAUBERG: »Deus pro sapientia et libertate sua diversissimorum generum actus in homine sic necti voluit, ut alter ad alterum nulla similitudine intercedente referretur.« »Corporis nostri motus tantummodo sunt causae procatarcticae, quae menti tanquam causae principali occasionem dant, has illasve ideas, quas virtute semper in se habet, hoc potius tempore quam alio ex se eliciendi ac vim cogitandi in actum deducendi« (Opp. 219, 221). DE LA FORGE erklärt: »Gravissimam hanc veritatem deducere possumus, quidquid in nobis fit, cuius conscii non sumus, spiritum non esse, qui id faciat.« »Eum, qui corpus et mentem unire voluit, simul debuisse statuere et menti dare cogitationes, quas observamus in ipsa ex occasione motuum sui corporis esse, et determinare motus corporis eius ad eum modum, qui requiritur ad eos mentis voluntati subiiciendos« (Tract. 1674, 16, 14, p. 129. 6, 1, p, 28). Nach GEULINCX stehen der Annahme einer directen Wechselwirkung zwischen Leib und Seele erstens die totale Verschiedenheit dieser Substanzen, zweitens der Umstand entgegen, daß wir das, dessen wir uns nicht bewußt sind, es zu tun, auch in Wirklichkeit nicht tun. von einer Einwirkung auf den Leib wissen wir nicht, wie sie gemacht wird, also kann sie nicht direct von uns von unserer Seele ausgehen (»Quod nescis, quomodo fiat, id non facis«). Es erfolgt daher in Leib und Seele alles »absque ulla causalitate, qua alterum hoc in altero causat, sed propter meram dependentiam, qua utrumque ab eadem arte et simili industria constitutum est« (Eth. I, sct. II, § 2). »Meum corpus... quod mihi occasio est percipiendi alia corpora huius mundi« (Eth. annot. p. 204). »Nec motus sequitur in membris meis voluntatem meam, sed voluntatem meam comitatur. Non ideo, inquam, pedes isti moventur, quia ego ire volo, sed quia alius id me volente vult« (l. c. p. 211). Seele und Leib correspondieren einander »sine ulla alterius in alterum causalitate vel influxu«. Sie verhalten sich wie zwei Uhren, die ständig in Übereinstimmung miteinander gebracht werden (l. c. p. 212. vgl. LEIBNIZ, Gerh. I, 232). Nach MALEBRANCHE ist Gott der »Ort« der Geister und der Ideen (s. d.) der Dinge. Wir haben unsere Vorstellungen unmittelbar von Gott, in Übereinstimmung mit den Dingen, die wir ja in Gott erkennen (Rech. II, 6, 7. III). Damit verwandt ist die Lehre BERKELEYs (s. Idealismus). SPINOZA setzt an die Stelle des Occasionalismus den psychophysischen Parallelismus (s. d.), LEIBNIZ die prästabilierte Harmonie (s. d.), wonach Gott die Seele gleich im Anbeginne so geschaffen hat, daß sie sich der Reihe nach vorstellen muß, was im Körper geschieht, und der Körper so geschaffen worden ist, daß er von selbst tut, was der Seele entspricht (Theod. I B, § 62). Der Occasionalismuß[49] verlangt eine beständige Reihenfolge von Wundern, einen Deus ex machina (l. c. § 61). CONDILLAC faßt die körperlichen Vorgänge als »causes occasionelles« der seelischen auf (Trait. de sensat. I, ch. 2, § 22). »Les sens ne sont que la cause occasionelle des impressions que les objets font sur nous« (Log. I, 1). So auch BONNET (Ess. de Psychol. C. 37). SCHOPENHAUER bemerkt: »Allerdings hat Malebranche recht: jede natürliche Ursache ist nur Gelegenheitsursache, gibt nur Gelegenheit, Anlaß zur Erscheinung jenes einen unteilbaren Willens, der das An-sich aller Dinge ist und dessen stufenweise Objectivierung diese ganze sichtbare Welt. Nur das Hervortreten, das Sichtbarwerden an diesem Ort, zu dieser Zeit, wird durch die Ursache herbeigeführt und ist insofern von ihr abhängig, nicht aber das Ganze der Erscheinung, nicht ihr inneres Wesen... Kein Ding in der Welt hat eine Ursache seiner Existenz schlechthin und überhaupt, sondern nur eine Ursache, der es gerade hier und gerade jetzt da ist« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 26). Eine Art Occasionalismus lehrt GIOBERTI. Auch LOTZE (Mikrok. I2, 313 f., Med. Psychol. S. 77 f.). »Überall besteht das Wirken eines a auf ein b darin, daß nach einer allgemeinen Weltordnung... ein Zustand a des a für b die zwingende Veranlassung ist, auf welche dieses b aus seiner eigenen Natur einen neuen Zustand ß hervorbringt« (Gr. d. Psychol. § 67). WINDELBAND bemerkt: »Der Übergang der lebendigen Kraft aus einem Körper in den andern ist das ungelöste Rätsel der Naturwissenschaft: in ihr sind alle Ursachen... nur Gelegenheitsursachen, d h. gegebene Bedingungen, auf deren Eintritt mit einer unbegriffenen, aber als factisch nachgewiesenen Notwendigkeit das getroffene Ding die ihm eigentümliche Kraft ausübt« (Lehr. vom Zuf. S. 10). Vgl. Causalität, Ursache, Wechselwirkung." In: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 48-50. Online: http://www.zeno.org/nid/20001797719
- [4] Occasionalismus in einem Lexikon aus dem Jahr 1907: "Occasionalismus (franz. occasionalisme = Lehre von den Gelegenheitsursachen v. lat. occasio = Gelegenheit) heißt die Richtung der Philosophie, welche die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper und den Einfluß der Seele auf den Leib und umgekehrt leugnete und die Übereinstimmung beider in jedem einzelnen Falle auf ein vermittelndes Drittes, Gott, zurückführte. Sie bildete sich[404] in der Schule des Descartes (1596-1650) heraus. Während vorher die Theorie des natürlichen Einflusses (influxus physicus) von Körper und Geist, Leib und Seele aufeinander geherrscht hatte, stellte Descartes die dualistische Lehre von der substantiellen Verschiedenheit von Körper (Ausdehnung) und Geist (Denken) auf, die, konsequent durchgeführt, jede gegenseitige Einwirkung beider ausschließt. Clauberg, Louis de la Forge und Cordemoy lehrten dann, daß die scheinbare Wechselwirkung zwischen Körper und Geist auf Gott als die wirkliche Ursache zurückzuführen sei. Am entschiedensten vertrat diese Lehre Arn. Geulincx (1624-1669). Er behauptete, Gott rufe bei Gelegenheit des leiblichen Vorganges in der Seele die entsprechende Vorstellung hervor und bei Gelegenheit des Wollens bewege Gott den Leib. Nicht der Körper sei also Ursache für die bewußte Empfindung im Geiste, nicht der Wille sei unmittelbare Ursache der Bewegung, sondern das eine sei nur Gelegenheit für Gott (causa occasionalis), das andere hervorzubringen. Geulincx stützte sich dabei auf den Satz quod nescis, quomodo fiat, id non facis. Wir wissen nicht, wie unser Wille den Leib, unsere Sinnesreizung die Empfindung in Bewegung setzt. Also ist Leibesbewegung und Sinnesempfindung nicht unser Werk. Abgeschwächt ist das Problem bei Nic. Malebranche (1638-1716), welcher alles Tun überhaupt Gott zuschrieb. Gott hat zwei Grundideen, Denken und Ausdehnung, nach denen er alle Dinge geschaffen hat. Von den Körpern, hat er nur die Ideen in sich, die Geister aber hat er nicht nur als Ideen, sondern als Geister selbst in sich. Denn Gott, ist der »Ort der Geister«, die deshalb sich selbst und die Körper erkennen. In beiden, in der Körper- und Geisterwelt, geschieht alles von Gott. Bei Spinoza (1632-1677) schwächte sich das Problem noch weiter ab. Indem er nur Gott die Existenz: zuschrieb, Ansdehnung und Denken aber zu Attributen Gottes herabsetzte, war nur noch die Idee des vollkommenen Parallelismus (s. d.) beider Attribute nötig, um die Übereinstimmung zwischen Seelen- und Körpervorgängen zu erklären. Die Abweichung Malebranches und Spinozas voneinander liegt also, wie Malebranche hervorgehoben hat, nur darin, daß bei ihm selbst das Universum in Gott, bei Spinoza Gott im Universum zu suchen ist. Noch weiter sinkt die philosophische Bedeutung des Problems bei Leibniz (1646-1716), der an Stelle des Occasionalismus die Lehre von der prästabilierten [405] Harmonie setzte. Unter Verwerfung des physischen Einflusses (»die Monaden haben keine Fenster«) leugnete auch er, daß Leib und Seele Wirkungen aufeinander ausüben; um aber nicht ein Wunder ohne Ende anzunehmen, stellte er die Hypothese auf, Körper und Seele folgten spontan den ihnen von Anfang anerschaffenen Gesetzen und stünden, kraft göttlicher Prästabilierung, dabei in steter Harmonie, wie zwei kunstvoll regulierte Uhren. Jede Monade ist mit Rücksicht auf alle anderen geschaffen. Die Seele hat also in demselben Momente eine schmerzhafte Empfindung, wo der Körper geschlagen wird: der Arm streckt sich gemäß den Gesetzen des leiblichen Mechanismus in dem Augenblicke aus, wo in der Seele ein bestimmtes Begehren auftaucht. Erst mit dem Kritizismus Kants (1724-1804), der die Erkennbarkeit des Dinges an sich leugnete, verschwindet das Problem, das den Occasionalismus hervorgerufen hat, und mit ihm der Occasionalismus selbst, aus der Philosophie gänzlich. Vgl. Dualismus, Harmonie, Monade." In: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 404-406. Online: http://www.zeno.org/nid/20003587347