R


Zerebralisation


Bionik


Basiswissen


Als Zerebralisation bezeichnet man die räumliche Konzentration von Nervenzellen zur Steuerung eines Organismus. Mit zunehmender Zerebralisation ist ein immer größerer Anteil aller Nervenzellen auf einem immer kleinen Körpervolumen vereint. Das Phänomen kann als Analogie von biologischen Organismen auf technische und soziale Gebilde übertragen werden. Das ist hier kurz vorgestellt.

Welche Vorteile bietet die Zerebralisation?


Der Austausch elektrischer Signale zwischen Zellen kostet viel Energie und er benötigt auch Zeit. Der Aufwand und die Zeitdauer für einen Signalaustausch wachsen dabei mit der Entfernung der Zellen zueinander an. Wenn die effizient Nutzung von Energie und Zeit Vorteile in einem Wettbewerb bietet, dann macht es Sinn, Zellen, die oft Signale austauschen müssen, enger beinander zu platzieren.

Zerebralisation in der Biologie


Über Jahrmilliarden hinweg bestanden tauschten Zellen Informationen über chemische Stoffe aus. Erst mit dem Aufkommen echter Tiere entstand eine gänzlich andere Art der Kommunikation zwischen einzelnen Zellen: die Übertragung elektrischer Signale. Als frühe Entwicklungsstufen werden zum Beispiele Schwämme[3], Quallen[4] oder Würmer[5] vorgeschlagen. Während bei radialsymmetrischen Tieren wie Quallen die Nervenzellen oft räumlich weit verteilt vorliegen, haben sie sich bei Tieren mit einer zweiseitigen Symmetrie meist am vorderen Ende in Richtung der üblichen Bewegung konzentriert, etwa bei Würmern. Der deutsche Biologie Ernst Häckel sah in der Zentralisierung des Nervenvensystems eine Höherentwicklung[9]. Siehe auch Neuronales Netz ↗

Zerebralisation in der Geographie


Man beobachtet in fast allen komplexen Großgesellschaften, dass sich einserseits ländliche Regionen und andererseits städtische Zentren ausbilden[7]. Das Gegengteil wäre eine räumlich gleichverteilte Anordnung der Bevölkerung, etwa in Form von Weilern und in etwa gleich großen Dörfen. Das kommt selten vor. Denkbar ist, dass Städte hier vor allem den Vorteil kurzer Wege für Kommunikation bieten und sich damit als zentrale Steuerorte für den gesamten Staatsorganismus anbieten. Der Vorteil kurzer Wege kommt zum einen produzierenden Gewerben und dem Handel zugute (z. B. Maler, Farben- und Papierhersteller, Galerien etc.). Zum anderen aber könnten auch Diensleistungen mit einem hohen Aufwand an interner Rechenarbeit von einer räumlichen Konzentration profitieren. Das könnte sich geographisch in der Zusammenballung von Rechenzentren ausdrücken, die viele Daten untereinander austauschen.

Zerebralisation in der Informatik


Die Idee einer räumlichen Aneinanderrückung von Prozessen, die oft Daten austauschen findet man unter anderem in der Planung von Supercomputern. Man spricht hier von einer Topologie. So spielen zum Beispiel die Länge und der Platzbedarf von Kabeln bei größeren Rechneranlagen eine wichtige Rolle[6]. Für verteilte Intelligenzen (zum Beispiel Schwärme) könnte die Frage interessant sein, ob die räumlich voneinander entfernten Agenten zur Durchführung von Berechngen mit viel Datenaustausch zeitlich begrenzt enger zusammenrücken. Ein Beispiel könnte sein, dass ein Schwarm von Militärdrohnen näher zusammenrückt, um die verteilten Daten für rechenintensive Erzeugung von Varianten gegnerischer Stellen oder weiterer Kriegsverläufe zu nutzen. Hier stehen einige Indizien für eine Zerebralistion in Prozessen technischer Datenverarbeitung:


Zerebralisation in Großunternehmen


Die meisten Großunternehmen bilden eine Unternehmenszentrale aus. Dort laufen die räumlich verteilt anfallenden Daten aller Unternehmensaktivitäten zusammen und können ab dann mit kurzen Signalwerten gemeinsam ausgewertet werden.

Zerebralisation in der Architektur


Ein sehr bemerkenswertes Beispiel für die effiziente Nutzung von Raum und Datenübertragungswegen ist der „deutsche Turm“ oder die „deutsche Kartei“ des Freiburger Rechtsanwalts Erwin Cuntz[8]. Ende 1934 formulierte er seinen Ideen in einem Schreiben. Cuntz legte zunächst dar, dass zu seiner Zeit das Auffinden des Wohnortes einer Person enorm schwierig gewesen sei: die Daten waren in Adressbüchern über ganz Deutschland verteilt. Diese Adressbücher hätte man alle einzeln ducharbeiten müssen. Als Neuerung schlug Cuntz eine zentrale Kartei in Berlin oder einen „zentraleren Ort“ vor. In einem Turm mit 25 Geschossen sollten die wichtigsten Daten zu allen Einwohnern Deutschland räumlich eng beinander untergebracht werden. In jedem Geschoss sollten zum Beispiel 12 kreisförmig angeordnete Räume sein. Jeder Raum steht für einen Geburtsmonat. In jedem Raum gibt es 30 bis 31 Schränke für die Geburtstage. Auf jedem Geschoss befinden sich dann die Karten aller Personen der Jahrgänge mit 25 Jahren Zeitabstand. Im ersten Geschoss wären zum Beispiel die Jahrgänge 1826, 1851, 1876, 1901 und 1926. Im dritten Geschoss wären dann die Jahrgänge 1828, 1853, 1878, 1903 und 1928. Cuntz argumentiert, dass die „Kartothek“ so eingerichtet sein müsste, dass mit wenigen Angaben eine Karteikarte zu einer Person schnell gefunden werden kann. Cuntz' Turm ist geometrisch ein Zylinder und erinnert von der Form an Datenträger wie Magnetplatten oder Festplatten oder bestimmte zylinderförmige Superrechner. Bemerkentswert ist hier die analoge Evolution ähnlicher Geometrien bei ähnlichen Anforderungen: geht es um den schnellen Zugriff auf gut strukturierbare Daten, so scheint die Zylinderform einen Selektionsvorteil zu besitzen. In jedem Fall aber fördert die Zentralisierung von Datenspeichern und Datenverarbeitungen die Effizienz. Siehe dazu auch analoge Evolution ↗

Fußnoten


SoICT '16: Proceedings of the 7th Symposium on Information and Communication Technology. December 2016. Pages 265–271. Doi: https://doi.org/10.1145/3011077.3011095