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Wissensgesellschaft


Soziologie


Basiswissen


Im Jahr 1966 schlug der US-amerikanische Politologe Robert E. Lane (1917 bis 2017) den Begriff Wissensgesellschaft (knowledgeable society) vor, um einen Wesenszug moderner Gesellschaften zu beschreiben. Bemerkenswert ist, dass in dem Aufsatz das Wort „Knowledge“ 121 mal erscheint, das Wort „Computer“ aber kein einziges Mal. Das hat einen tieferen Grund. Die Worte Wissens- und Informationsgesellschaft werden heute oft synonym verwendet. Tatsächlich aber hatte Lanes ursprüngliches Konzept einer Wissensgesellschaft mehr mit der philosophischen Aufklärung zu tun als mit einem technisierten Gebrauch von Information. Das wird hier mit Zitate kurz vorgestellt.

Wozu Wissen gut sein kann (Beispiele)


Eine deutsche Brauerei, die den zukünftigen Bedarf der Japaner an deutschem Bier richtig einschätzt, kann erfolgreich eine Marktlücke. Eine kriegsführende Nation, die den Munitionsvorrat der Gegenseite kennt, kann eigene Ressourcen schonen und geschickt einsetzen. Küstenländer, die den Anstieg des Meeresspiegels korrekt vorhersagen können, können ihre Deiche anpassen (Niederlande) oder rechtzeitig ihr Land verlassen (Tuvalu). Information und Wissen hilft, gute Entscheidungen zu treffen.

Wissens- oder Informationsgesellschaft?


Dass Information und Wissen hilfreich für gute Entscheidungen sind haben die Worte Informations- und Wissensgesellschaft gemeinsam. Der Begriff der Informationsgesellschaft lässt offen, wie die Information entsteht. Der Visionär Elon Musk warnte im Jahr 2021, dass „the percentage of intelligence, that is not human, is increasing[8]“. Das ist mit einer Informationsgesellschaft verträglich. Lane hingegen sah den Menschen in der Hauptrolle, wenn es um die Schaffung, Prüfung und Nutzung von Wissen ging. Obwohl Computer im Jahr 1966 bereits bekannt und verbreitet waren, tauchen die Worte Computer und Maschine kein einziges Mal in Lanes Artikel auf.

Definition der Wissensgesellschaft nach Robert E. Lane


Lane definiert die Wissensgesellschaft, darüber dass sie, mehr als andere Gesellschaften, a) die Grundlagen ihrer Überzeugungen zum Menschen, der Natur und der Gesellschaft hinterfragt, dass sie b) bewusst oder unbewusst objektive Kriterien von Wahrheit akzeptiert und in der höheren Bildung wissenschaftliche Standards pflegt, dass sie c) große Ressourcen darauf verwendet und damit auch über viel Wissen verfügt, dass sie d) Wissen ständig sammelt organisiert und interpretiert um daraus mehr Bedeutung zu erlangen, dass sie e) dieses Wissen nutzt, um ihre Ziele zu erhellen, voranzutreiben und gegebenfalls auch zu ändern.[1, Seite 650]

Voraussetzungen einer Wissensgesellschaft nach Robert E. Lane


Eine Wissensgesellschaft setzt voraus, dass jedes Thema frei und offen diskutiert werden darf. Die Grenzen dieser Freiheit dürfen keine Drohungen sein sondern die Sorge um den Bestand der Gesellschaft alleine. Die Gesellschaft muss stabil genug sein für längere Prozesse der Wissensbildung. Sie muss genug Vertrauen haben, dass sie die kollektive Bemühung von Gruppen zulässt und fördert. Sie muss reich genug sein für die Bildung ihrer Einwohner. Und es muss genug Unzufriedenheit und Neugier geben, um nach neuem Wissen zu streben.[1, Seite 650]

Offene Fragen Wissensgesellschaft nach Robert E. Lane


Lane hält seine Definition der Wissensgesellschaft nur für vorläufig und grob. Unklar ist ihm zufolge beispielweise noch, wie sich einzelne Menschen oder Gruppen für die Wissensarbeit oder Äußerung qualifzieren, wie man mit mystischen oder religiösem Wissen und Kunst umgehen soll. Und wie soll man mit den ersten Grundlagen der Wissensfindung selbst umgehen, sind sie doch selbst nicht sicher beweisbar sondern bloße Annahmen, also Glaubensakte. [1, Seite 650]

Fehlen von Magie und des Übernatürlichen nach Robert E. Lane


Lane zitiert ein Buch[2], in dem gezeigt wird, dass auch in primitiven Gesellschaften Vernunft, Logik und im Ansatz wissenschaftliches Denken vorhanden sind. Diese Denkweisen sind dort aber beschränkt auf Zusammenhänge, deren Ursache-Wirkungs-Gefüge man erkennen kann, etwa im Bereich des Handwerks. Wo eine enge Verbindung von Handlung und Folge nicht mehr erkennar sind, dort überwiegen mystisches Denken und die Religion. Das "Abwelken" (withering) des Übernatürlichen.[1, Seite 51]. Siehe auch Magie ↗

Langfristige Ansammlung von Wissen nach Robert E. Lane


In einer Wissensgesellschaft darf die Wissenschaft keine vorübergehende oder zyklisch wiederkehrende Modeerscheinung sein. Der Umgang mit Wissen muss kontinuierlich erfolgen und zu einem stetigen Anwachsen von Wissen führen[1, Seite 53]. Ein ähnlicher Gedanke ist enthalten im Begriff der Philosophia perennis ↗

Das Denken wird abstrakter, nach Robert E. Lane


Eine frühe Form des Denkens in primitiven Gesellschaften sei es, Dinge mit Namen zu gruppieren. Das Denken bleibt dabei stets nahe im direkt Erfahrbaren des häuslichen Umfeldes. Auch bei abstrakteren Gedanken ist die Verbindung zum anschaulichen oft noch erkennbar. So soll sich Aristoteles Kausalität mit einem Pferd vorgestellt haben, das einen Wagen zieht. Und Galileo soll sich die Bewegung der Himmelskörper wie die Fahrt eines Schiffes ohne Reibung gedacht haben. In einer Wissensgesellschaft löst sich das Denken zunehmend vom Unmittelbaren (immediate), Persönlichen und Bekannten und wird abstrakter.[1, Seite 53 ff.] Siehe auch Abstraktion ↗

Das Ego löst sich von inneren und äußeren Welten ab, nach Robert E. Lane


Das Ego von Kindern und möglicherweise auch von primitiven Menschen ist eng verbunden mit inneren Vorstellungswelten und den Dingen der äußeren Welt. Erst wenn sich das Ego davon ablöst, kann es Impulse von der Innen- und Außenwelt kontrollieren. Diese Ablösen (differentiation) des Ego sei weniger eine Entfremdung als vielmehr eine notwendige Voraussetzung für alle Denkprozesse, so Lane[1, Seite 54]

Kontrafaktisches Denken wird gefördert, nach Robert E. Lange


Menschen mit wenigen Lebenserfahrungen oder wenig Phantasie tun sich schwer damit, sich selbst in ungewohnten Situationen vorzustellen, etwa als Chef einer Organisation oder im Ausland lebend. Eine solche Fähigkeit aber ist gleichbedeutend mit Empathie. Eine Wissensgesellschaft fördert Denken, das über das unmittelbar Gegebene hinausgeht.[1, Seite 54]. Siehe auch kontrafaktisch ↗

Das Denken hantiert mehrere Aspekte gleichzeitig, nach Robert E. Lane


Lane zufolge können primitive und ungebildete Menschen Arbeitsschritte [task], Glaubenssätze [creed] und ähnliches auswendig lernen, ihnen entgeht dabei das Wesentliche, die Essenz, die sich über eine Analyse auf andere Lerninhalte übertragen ließe. Voraussetzung für ein analytisches Denken ist es, dass man mindestens zwei Aspekte einer Sache gleichzeitig im Kopf halten und dort manipulieren kann[1, Seite 54]. Siehe auch Deep Learning ↗

Fehlende Abstraktion fördert Autoritäre Systeme, nach Robert E. Lane


Lane resümiert, dass man Menschen auf einer Skala zwischen konkretistischem Denken und abstrakt-phantasievollem (imaginative) Denken anordnen kann. Personen und Gesellschaften, deren Denken stets stark am Konkreten hängt, neigen zum Denken in Stereotypen, zum Aufstellen von engen Regeln (oughtness), zum Absolutismus, zu Dogmatismus, zu Katechismen und dem Ritual. Demokratische Gesellschaft hingegen ist gekennzeichnet durch Abstraktion[1, Seite 55].

Objektive Wahrheitskriterien statt Autoritäten, nach Robert E. Lane


In vielen Gruppen gebe es, so Lane, gilt als glaubwürdiger Fakt nur das, was von einer Autorität innerhalb der Gruppe als solcher bestätigt wurde. In einer demokratischen Gesellschaft hingegen werden Aussagen für sich auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht, unabhängig davon wer sie geäußert hat. In den meisten Gesellschaften gilt eine Aussage als wahr, wenn sie von einer mächtigen Person stammt, von einer Person, die zur eigenen Gruppe - "zu uns" - gehört.[1, Seite 55]. Siehe auch Gruppendenk ↗

Freiheit von persönlichen, irrelevanten Motiven, nach Robert E. Lane


Lane zitiert dann einen anderen Autoren[3], der beschreibt, wie abstraktes Denken sich frei machen muss von inneren und äußeren Zwängen, die oft an persönlichen Motiven hängen: der Drang sich selbst positiv zu sehen (self-aggrandizement), das Verdrängen von Sorgen oder der Wunsch bei anderen einen bestimmten Eindruck zu hinterlassen. Verzerrende Einflüsse von außen seien etwa Abneigungen gegenüber den Personen, die eine Aussagen taten, eine Orientierung an externen Belohnungen oder Zurückweisungen sowie Konformitätsdruck. Eine Wissensgesellschaft, so Lane, filtere solche irrelevanten Faktoren heraus.[1, Seite 55]

Die Fähigkeit zum Aushalten von Widersprüchen, nach Robert E. Lane


Eine zum Autoritätsdenken neigende Person hält widersprüchliche Aussagen nicht aus[4]. Sie benötigt eine schnelle und klare Beseitigung von Mehrdeutigkeiten. Sie mag schnelle und einfache Antworten und "entscheidungsfreudige" (decisive) Menschen. Autoritär denkende Menschen neigen dazu, Widersprüche unabhängig voneinander zu speichern, einen Prozess den man in der Psychologie als Kompartmentalisierung bezeichnet.[1, Seite 55]. Mitglieder einer Wissensgesellschaft ertragen Dissonanzen, Ambivalenzen und Konflikte besser als andere Menschen. Siehe dazu auch Doppeldenk ↗

Die Verbindung von Theorie und Empirie nach Robert E. Lane


Lane argumentiert, und zitiert dabei Alfred North Whitehead, dass es in den westlichen Gesellschaften eine enge und fruchtbare Verbindung von spekulativem Denken bei gleichzeitiger Orientierung an Fakten gegeben habe. Damit sei die vorherige Trennung in eine transzendente Wirklichkeit und eine irdische Realität überwunden worden. Die wissenschaftliche Haltung heute behandele Wissen eher funktional und bewerte es stets an beobachtbaren Fakten. Wesentlich für eine Wissensgesellschaft sei, dass Wissen offen sei, mit Quellen versehen ist und objektiv überprüfbar ist. Siehe auch Operationalisierung ↗

Abgrenzung zur Informationsgesellschaft


Lanes Begriff der Wissensgesellschaft behandelt vor allem die Produktion und Handhabung von Wissen aus Sicht der Soziologie. Zur Zeit Lanes wurde aber auch die rasant ansteigende Bedeutung der Computerechnologie zunehmend sichtbar. Dieser technologische Aspekt ist aber weniger mit dem Begriff Wissensgesellschaft verbunden sondern eher mit dem der Informationsgesellschaft ↗

Abgrenzung zu Technikvisionen globaler Organismen


Etwa zeitgleich zu Lanes Betrachtungen entstanden vor allem in Europa erste visionäre Bilder von Gesellschaften, die in Teilen oder in Gänze lebenden biologischen Organismen entsprechen[5][6]. Diese Visionen gehen davon aus, dass Gesellschaften oder Unternehmen einen darwinistischen Selektrionsdruck unterliegen. Dieser Selektionsdruck wird im Sinne einer analogen Evolution auch in Gesellschaften ähnliche Strukturen und Prozesse ausbilden, wie sie in lebenden Organismen vorkommen (Nerven, Gehirne). Ein bedeutsamer Unterschied dieser Technikvisionen zu Lanes Idee einer Wissensgesellschaft liegt in der Rolle der Menschen selbst. Während Lane die tragende Rolle denkfreudiger Menschen betont, werden in den technologisch motivierten Visionen künstliche Gebilde (KI) immer stärker Träger der Denkprozesse. Wissen wird dabei auch immer stärker auch implizit in Strukturen angelegt und ist für Menschen explizit nicht mehr greifbar. Während die Technikvisionen den Pfad hin zu einer technologischen Singularität eröffnen - und damit die Preisgabe menschlicher Kontrolle - geht Lanes Visin gerade davon aus, dass der Mensch selbst in Kontrolle bleibt und Wissen stets auch explizit fassbar ist. Solche Vorstellung mündeten dann 1983[7] in der Idee von einem Global Brain ↗

Beispielhafte Elemente einer Wissensgesellschaft



Gegenteilige Strömungen (weg von einer Wissensgesellschaft)



Fußnoten


hingegen beschränkt