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Utopie und Wissenschaft


Die Rolle der Naturwissenschaft im utopischen Denken


Basiswissen


Ein kurzer Abriss der Rolle naturwissenschaftlichen Denkens im Spannungsfeld von Optimismus und Pessimismus von 1516 bis heute.

Wortherkunft


Die Wortschöpfung wird dem Engländer Thomas More zugeschrieben. Dieser veröffentlichte 1516 seine Phantasie-Reisegeschichte Utopia. Seeleute lernten auf einer fernen Insel - Utopia - ein Volk in scheinbar perfektem Einklang mit sich und der Welt kennen. More siedelt in seiner Geschichte Gedanken zur Sterbehilfe, zum Strafvollzug, zur Abwehr fremder Aggressoren und viele weitere modern anmutende Themen an. Das Wort Utopie setzt der gelehrte Humanist More aus griechischen Silben zusammen. Wörtlich meint Utopie: ein Nicht-Platz oder ein Nirgendwo. Siehe auch Unvorstellbarkeit der Utopie ↗

Optimismus


Schon vor Mores Utopia gab es Schilderungen idealisierter Staatsformen, etwa Platons Philosophenstaat oder Augustinus' Civitate Dei. Waren diese antiken Utopien als konkret machbare Staatsentwürfe gedacht, wurden nach More utopische Gemeinschaften zunehmend auf ferne Inseln und in eine weiter entfernte Zukunft entrückt. Campanellos "Sonnenstaat" etwa ist in Pazifik angesiedelt und Merciers "Das Jahr 2440" aus der 18ten Jahrhundert sieht die Utopie erst 600 Jahre in der Zukunft. Trotz ihrer räumlichen oder zeitlichen Entfernung ist diesen Utopien ein optimistischer Unterton gemein, getragenen durch einen humanistischen Rationalismus und die greifbaren Erfolge der aufstrebenden Naturwissenschaften. Das änderte sich grundlegend im 19ten Jahrhundert.

Zweifel


Jonathan Swift lässt in seinen Buch "Gullivers Reisen" kein gutes Haar an den Naturwissenschaftlichen. Er verbannt sie literarisch auf die fliegende Magnetinsel Laputa (die Hure), wo sich schrullige Wissenschaftler gleichsam weltblind wie brutal gebärden. Der Allerkärungs- und Heilsoptimismus der Naturwissenschaften wird zunehmend öfters als naiv und übergriffig empfunden. Mit der Literaturgattung der Romantik formierten sich die Zweifler zu einer geschlossenen Gegenbewegung: die junge Mary Shelley lässt ihren Wissenschaftler Frankstein ein Monster erschaffen, dessen tragische Geschichte als Warnung an den Gang der Zeit verstanden werden darf.

Richtungskämpfe


Indes eilten die technisch angewandten Naturtwissenschaften weiter von Erfolg zu Erfolg. Die Atlantiküberquerung wurden zu einer Routinesache, Telegraphen schufen eine Euphorie ähnlich der über das Internet. Die Elektrizität verbannte schwere körperliche Arbeit zunehmend aus den Haushalten. Die technisierten Wissenschaften entkräfteten erfolgreich althergebrachte Wertesysteme, füllten aber die so geschaffene Leere mit wenig überzeugenden neuen Utopien an. Die katholische Kirche, stellvertretend für Alte Ordnungen auf dem Rückzug formulierte noch 1879 den Vorrang mittelalterlicher Theologie vor dem Rationalismus (Aeterni patris). Aber zunehmend machte sich unter dem Publikum Ratlosikeit breit. Nihilistischer Faulpilz wuchs auf dem Totholz abgestorbener Systeme.

Dystopien


Zum Ausklang des 19ten Jahrhunderts bis weit in die 1950er Jahre dominierten pessimistische Sichten die literarisch gedachte Zukunft. Der englische Science Fiction Autor H. G. Wells etwa lässt in seinem Roman "Die Zeitmaschine" die Menschheit in zwei neue Spezies evoluieren: die sanft-dümmlichen Eloi und die brutal-zupackenden Morlocks. Der Niederländer Huizinga war mit seinem Buchtitel "Im Schatten des Morgen" symptomatisch ür einen zunehmenden Kulturpessimismus. Und in "Schöne Neue Welt" sowie "1984" schufen die Engländer Huxley und Orwell Zukünfte, in denen die Technik vom Heilsbringer zum wirkungsvollen Instrument totalitärer Unterdrückung und Manipulation degeneriert ist.

Zwischenfazit


In der Zeit rund um den zweiten Weltkrieg wirkten die Denker der sogenannten Frankfurter Schule: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse sind die bekanntesten Vertreter. Sie charakterisierten rückblickend die Rolle der (Natur)Wissenschaften als eine Art Selbstentwurzelung: begann die Aufklärung mit der Euphorie, die Welt um uns herum rational begreifen zu können, wurde der Mensch plötzlich selbst Gegenstand einer durchrationalisierten praktischen Vernunft. In stark stilisierter Sprache prophezeiten diese Denker eine Gegenwart und Zukunft, in der es dem Individuum nur noch zusteht, die widerspruchsimmune technische Rationalität moderner Industriegesellschaften festzustellen - und in ihr zum Broterwerb eine vorab definierte Funktion anzustreben. Siehe als Beispiel dafür Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch ↗

Mondstädte


In den 1960er und 1970er Jahren blühte erneut ein bunter Wissenschaftsoptimismus auf: Atomenergie, Magnetschwebebahnen, Fortschritt für alle, Städte auf dem Mond und Frieden auf der Erde prägten noch 1975 das Bild des bevorstehenden neuen Jahrtausends.

Gegenwart


Seit der Jahrtausendwende spätestens ist man der großen Entwürfe, aber auch der großen Zweifel, müde. Man spürt einerseits, das Unvorhersehbares seinen Gang nimmt: kein Soziologe hat das Inernet als Alltagstechnik vorhergesehen. Künstliche Intelligenz, Schwarmroboter und die Life Sciences lassen Großes erahnen, aber es fehlt das Gefühl der Gestaltungsmacht. Welche Rolle kann hier die Naturwissenschaft einnehmen? Siehe auch Wissenschaft (George Orwell) ↗

Ausblick


Der (naturwissenschaftliche) Rationalismus kann erfolgreich Gedankengebäude zerstören. Er kann helfen, die Welt technisch zu gestalten. Er kann aber von sich selbst keine glaubwürdigen Utopien erschaffen. Eine konstruktive Rolle kann er dennoch einnehmen: und zwar indem er die wesentliche Zutat seines Erfolgsrezeptes als Medizin anbietet für Welterklärungs-Ismen aller Art: der Erfolg der Naturwissenschaften beruht auf dem Verzicht auf sichere Erkenntnis. Jede Erkenntnis im naturwissenschaftlichen Sinn ist vorläufig und muss immer neu an der Wirklichkeit überprüft werden. Eine so verstandene Welt darf uns unverständlich erscheinen. Wir dürfen uns wie erste Entdecker auf einem großen Ozean fühlen. Wir dürfen aber vor allem darauf verzichten, abschließende Weisheiten über "die Welt" zu erfassen und diese verteidigen zu müssen. Wo der einzelne Denker eine Haltung zur Welt sucht, da mag er von den Naturwissenschaften vor allem übernehmen: wir wissen sehr, sehr wenig; aber wir haben eine Methode, wie wir zu mehr Wissen kommen können.