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Unvorstellbarkeit der Utopie


Denkgrenze


Einführung


Bisher ist es keiner Religion und auch keinem einzelnen Autor gelungen, einen Ort oder Zustand zu beschreiben, in den sich ein größerer Teil der Menschheit freiwillig dauerhaft begeben würde. Weder das christliche, islamische noch das antike Paradies können überzeugen. Ewiges Glück ist nur denkbar als Abwesenheit von Leid. Das ist die Kernthese von der Unvorstellbarkeit der Utopie. Möglicherweise gibt es dafür tieferliegende Gründe dafür, die in der Beschaffenheit von Geist und Universmus bereits angelegt sind.

Beispiel: Autonomie als Denkunmöglichkeit


Von Soziologen wird die Autonomie, das heißt Selbstbestimmtheit, von indiviuellen Menschen als ein sogenanntes postmaterielles Gut bezeichnet. Fasst man Autonomie als völlige Selbstbestimmtheit auf, so muss die Autonomie des einen Menschen dort ihre Grenzen haben, wo die Autonomie des anderen Menschen beginnt. Wo nun aber mehrere Menschen in einer gemeinsamen Welt zusammenkommen, und wo diese Menschen nicht immer gleiche Ziele verfolgen, kann die Autonomie eines jeden Einzelnen nicht mehr in vollem Umfang erfüllt werden. Das Dilemma ist eng verwandt mit der begrenzten Freiheit des Einzelnen in einer Gemeinschaft. Das Ideal absoluter Freiheit oder Autonomie ist unerreichbar. Die (spekulative) Idee, dass die Gesetze der Physik einen Kompromiss zwischen individueller Autonomie und gemeinschaftlicher Berechenbarkeit darstellen ist behandelt im Artikel kollaborative Physik ↗

Beispiel: Frieden als Evolutionsbremse


Im frühen 20ten Jahrhundert entstanden im westlichen Kulturkreis eine große Anzahl sozialdarwinistischer Schriften. Eine Grundangst vieler Autoren schien es gewesen zu sein, dass Frieden und Kooperation jeden Wettbewerb und damit auch jede Höherentwicklung abtöten würden. Sollte das Argument auch nur in Teilen zutreffen, spräche dies gegen eine dauerhaft und zuverlässig einrichtbare friedfertige Gesellschaft, die Utopie wäre damit aus evolutionärer Sicht undenkbar. Siehe dazu auch Bernhardi-Barriere ↗

Politischer Hintergrund


Der englische Autor George Orwell wirkte etwa von 1927 bis zu seinem Tod 1950. Zentrale Themen seines Denkens waren die Freiheit und Eigenständigkeit des Denkens, das professionelle Manipulieren von Gedanken sowie die tagesaktuellen Geschehnisse in der Politik, hier vor allem der kontinentaleuropäische Totalitarismus sowie der zweite Weltkrieg. Seine politische Position war demokratisch-sozialistisch. Reaktionär-konservative Politiker, so Orwell, würden sozialistische Ideal immer wieder damit herabwürdigen, dass jede Vorstellung eines dauerhaft utopischen Zustandes undenkar bis weltfremd oder verschroben wirken. Mit diesem Vorwurf setzte sich Orwell in einem längeren Essay aus dem Jahr 1943 ausführlich auseinander[1].

Die Unvorstellbarkeit der Utopie nach George Orwell


Orwell beginnt mit einer Szene aus der weltberühmten Weihnachtsgeschichte (Christmas Carol) von Charles Dickens: eine arme Familie mit Kindern feiert Weihnachten. Weihnachten ist die einzige Zeit des Jahres, in dem die Familie genug zu essen hat. Die Mitglieder der Familie genießen jede Sekunde und haben Freude aneinander. Diese Szene von Charles Dickens, so Orwell, sei einer der bestmöglichen Darstellungen von Glück. Aber sie tauge nicht als Vorlage für ein Paradies: man kann sich schlecht einen Ort vorstellen, an dem ewige Essensfreuden und Familienglück herrschen und in dem man gerne freiwillig einziehen möchte. Aber genau so reduziert auf ewige Sinnesfreuden sind seien die religiösen Vorstellungen eines Paradieses: für islamische Männer ein ewiges Harem, für Christen Gesang und Paläste aus Edelsteinen, für die Germanen ein endloses Biergelage. Orwell zitiert Beispiele aus der Literatur, in denen zwar überzeugend realistisch eine Hölle gezeichnet wurde, kann aber nach eigenen Worten keine wirklich verlockende Schilderung eines Ortes ewigen Glückes finden. Glück ist immer nur das Fehlen von Leid und damit komplementär als Teil eines Dualismus aufzufassen. Die Utopie als Ort ewigen Glückes ist eine Aporie[2] und damit als politisches Ziel durch Gegner leicht ins Lächerliche gezogen.

Ständiges Optimieren als Lösung von George Orwell


Für Sozialisten besteht das politische Ziel, so Orwell, nicht darin eine perfekte Welt, einen Ort ewigen Glückes anzustreben. Orwell will mit dieser Aussage die Angriffe politischer Gegner abwehren, die den Sozialisten weltfremde Ziele, im abwertenden Sinn utopisches Denken vorwerfen. Damit riegeln sich die Gegner aber auch gegen sofort machbare Ziele ab. Für Orwell besteht Sozialismus darin, die gegenseitige wirtschaftliche Ausbeutung in machbare Schritten abzubauen. Wer tiefer in das politische Denken Orwells einsteigen möchte sollte die gesammelten Essays[1] lesen. Siehe auch George Orwell (Zitate) ↗


Die Unvorstellbarkeit der Utopie nach Stanislaw Lem


Der polnische Schriftsteller Stanislaw verfasste in den 1960 bis in die 1980er Jahre eine große Anzahl von phanatstischen Kurzgeschichten. In ihnen lässt er seine tragikomischen Helden immer wieder vergeblich nach dem Glück suchen. Unter dem Stichwort Felizotologie stellt er satirisch eine Reihe solcher kontraproduktiven Versuche vor. So sollte zum Beispiel die chemische Substanz Altruizin jeden Menschen mitfühlend für seine Mitmenschen machen: jede Mensch spürt dann Freude und Leid seiner Mitmenschen. Die Hoffnung war, dass sich dann jeder altruistisch um das Glück der anderen kümmert. Doch der Versuch schlug ins Gegenteil um: bekam ein Mensch Zahnweh, fühlten alle Mitmenschen die Schmerzen. Sie wussten sich nicht besser zu helfen, als die Quelle des Leids totzuschlagen. Die Idee, dass ein gutgemeinter Versuch ins Gegenteil umschlägt nennt man auch kontraproduktiv. Mehr zu Lems pessimistischen Utopie-Versuchen steht im Artikel zur Felizitologie ↗

Fußnoten