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Soziointegrative Degeneration (Indizien)


Soziologie


Basiswissen


Als soziointegrative Degeneration bezeichnet einen Prozess, bei den einzelne Individuen an Autonomie und Intelligenz verlieren und gerade dadurch das Kollektiv aus diesen Individuen leistungsfähiger wird. Der Begriff wurde um 1982 geprägt von dem polnische Autoren Stanislaw Lem[1]. In diesem Artikel hier stehen mögliche Indizien dafür, dass der Prozess in menschlichen Gesellschaften tatsächlich stattfindet.

Kollektive Intelligenz als Grundidee


Der gedankliche Hintergrund der soziointegrativen Degeneration ist die Ausbildung kollektiver Intelligenzen, die sich aus einer großen Anzahl kleiner Individuen zusammensetzen: Ameisenstaaten, Bienenvölker, schwarmartige Drohnen, Populationen von Unternehmen in einer Marktwirtschaft oder Bakterienkolonien.

1.0 Eine kollektive Intelligenz ist mehr als die Summe der Teile.

Der springende Punkt bei der Definition einer kollektiven Intelligenz ist, dass das Kollektiv bessere Entscheidungen trifft oder ganz allgemein leistungsfähiger ist, als die bloße Summe der Einzelindividuen. Das heißt im Umkehrschluss, kein Individuum kann man erfassen, was das Kollektiv tut oder denkt. Und im Bejahen des Kollektiv ist damit im Kern auch die Unterordnung individueller Autonomie unter das Kollektiv enthalten. Siehe mehr unter Kollektive Intelligenz ↗

Abgrenzung zum gesellschaftlichen Verfall an sich


Die soziointegrative Degeneration kann klar von einem rein gesellschaftlichen Verfall an sich abgegrenzt werden. Bei einer allgemeinen Degeneration von Individuen und einer Gesellschaft büßen die Individuen an Intelligenz und Fähigkeiten ganz allgemein ein und dadurch nehmen auch die Fähigkeiten der Gesellschaft als Ganzes ab.

2.0 Es gibt auch Degeneration ohne kollektiven Vorteil.

Der Verfall des römischen Reiches wurde früher so als Folge einer sich verbreitenden Dekadenz ihrer Bevölkerung gedeutet. Bei einer soziointegrativen Degeneration laufen die Prozesse aber paradoxerweise gegensätzlich ab: gerade dadurch, dass die Individuen degenerieren, kann das kollektiv leistungsfähiger werden. Siehe dazu auch Degeneration [an sich] ↗

Zwei notwendige Bedingungen für eine sozioinegrative Degeneration


Auf menschliche Gesellschaften angewandt kann man nun eine klare notwendige Bedingung formulieren, die als Indikator (Indiz) unbedingt zutreffen muss, wenn man von einer soziointegrativen Degeneration sprechen will: man muss a) empirisch messen, dass Individuen degenerieren und b) man benötigt ein Erklärungsmodell warum dadurch die Leistungsfähigkeit des Kollektivs steigen soll.

3.0 Nur wenn man a) Degeneration messbar macht und b) ein theoretisch sauber Gebäude hat, kann man sinnvoll über soziointegrative Degeneration sprechen.

Nur wenn diese zwei Bedingungen erfüllt sind, sollte man im Sinn einer empirischen Forschung vom möglichen Vorhandensein des Effektes sprechen. Siehe dazu auch Operationalisierung ↗

a) sinkender IQ


Sinkt der IQ? Von etwa 1905 bis 1990 konnte weltweit in vielen Ländern ein messbarer Anstieg des durchschnittlichen gemessenen Intelligenzquotienten (IQ) individueller Menschen beobachtet werden. Als mögliche Ursachen kamen eine bessere Bildung, eine verbesserte Ernährung oder auch eine Drift der Gene in Betracht.


4.0 In vielen westlichen Nationen sinkt der IQ.

Das Phänomen erhielt den Namen Flynn-Effekt. Seit dem Jahr 2000 jedoch beobachtet man insbesondere in vielen westlichen Ländern einen Rückgang oder zumindest einen Stillstand im Bezug auf Intelligenz[7]. Lies mehr dazu unter negativer Flynn-Effekt ↗

b) Erschlaffender Durchsetzungwille


Krieg als Motor des Fortschritts? Im 15ten und 16ten Jahrhundert lagen viele der Kleinstaaten Europas ständig im Krieg miteinander. Im Willen zum Kampf und dem damit verbundenen Zwang zur Innovation sah der US-amerikanische Historiker Philip T. Hoffman den Grund dafür, dass europäische Nationen und nicht etwa die Osmanen der Türkei oder das chinesische Großreich die Welt eroberten. Von 1492 bis 1914 hatten europäische Nationen rund 84 Prozent der Landfläche der Erde für sich erobert. Im Jahr 1912 schrieb der Deutsche Friedrich von Bernhardi von einer moralischen Pflicht zum Krieg[15] und befürwortete ausdrücklich einen kriegerischen Sozialdarwinismus: im Ja zu einem Kampf auf Leben und Tod im Sinne einer darwinistischen Evolution sah er ein hohes Kulturgut. Der Engländer George Orwell beschrieb 1947 in seinen Erinnerungen an seine Schulzeit[16], dass aggressive und durchsetzungsstarke Schüler ein hohes Ansehen genossen und auch von der Schulleitung bevorzugt wurden.

5.0 Die Wertschätzung von individuellem Durchsetzungswille schwankt über die Zeit.

Man vergleich damit die Zeit seit vielleicht 1980, zumindest in Europa: Krieg als kulturelle Pflicht ist undenkbar und Gewalt und Rücksichtslosigkeit in der Durchsetzung eigener Ziele wurden durch die Ideale des Teamplayers, des Kompromisses und der sozialen Harmonie ersetzt. Sich einfügen und mitmachen im Gegensatz zur kampffreudigen Durchsetzung mit Machtpolitik können als Degeneration der Willenskraft interpretiert werden. Doch gerade dadurch kann man zu einem zuverlässigen Teil eines Kollektivs werden.

6.0 Wettkampf kontra Solidarität

Sehr interessant ist hier die Beobachtung von Biologen, dass stark sozial lebende Tiere, man spricht von Eusozialität, immer eine Kaste von Individuen aufweisen, die selbst unfruchtbar sind. Diese unfruchtbaren Tieren haben sogar den evolutionsbiologisch starken Willen zur Fortpflanzung aufgegeben. Der Verzicht auf eigene Nachkommen, so die soziobiologische Deutung, befreit die Individuen vom Zwang des egoistischen Gens. Siehe mehr dazu unter zellulärer Flaschenhals ↗

c) Provinzialismus


Provinzialismus als Rückzug aufs allerengste eigene Umfeld, Kleinbürgerlichkeit, Biedermeiertum und Entpolitisierung: im zweiten Weltkrieg wurden deutsche Militärangehörige in England und den USA unter guten Bedingungen gefangen gehalten. Was die Soldaten und Offiziere nicht wussten: sie wurden rund um die Uhr abgehört. So entstanden rund 150 Tausend Protokolle abgehörter Gespräche. Diese Aufzeichnungen gaben ein unverfälschtes Bild der Gesinnung und Gemütslage deutscher Militärangehöriger. Eine fast durchgängige Beobachtung war: so gut wie alle Soldaten und Offiziere interessierten sich kaum für die geopolitische Großlage, für moralische, politische oder geschichtliche Zusammenhänge. Ihr Hauptinteresse lag vielmehr auf ihren Kameraden und ihren unmittelbaren Vorgesetzten in ihrem Hier und Jetzt. Die Autoren eines Buches über diese Abhörprotokolle[17] prägten den dazu passenden Begriff vom "sozialen Nahfeld".

7.0 Desinteresse am Großen Ganzen ist typisch für viele Menschen.

Ähnlich sieht es auch um 2020 aus. Großpolitische Themen wie der Klimawandel, die zunehmende Zuspitzung eines neues Ost-West-Konfliktes (mit China) oder gesellschaftliche Umwälzungen infolge künstlicher Intelligenz spielen in persönlichen Gesprächen im Kreis von Freunden und Bekannten kaum bis keine Rolle. Der Klimawandel bleibt meist nur kurz erwähnt. Reale Gespräche drehen sich eher um die eigene Familie, berufliche Gemeinsamkeiten und Freizeitinteressen der beteiligten Personen. Das könnte man allgemein als ein verengtes oder tunnelblickartiges Interesse bezeichnen. Ein Vorteil davon kann sein, dass man keine Ressourcen auf erfolglose Lernbemühungen verwendet, sondern sich optimal um die Ausführung seiner lokal begrenzten Funktion kümmert. Siehe auch Provinzialismus ↗

d) Verblassende Personalität


Sein eigenes Ding machen, originelle Gedanken haben, ein Fels in der Brandung sein oder Rückgrat haben: Menschen, die sich nicht farbgleich mit ihrer Umwelt machen, die den Mut haben, auch unangenehm aufzufallen und die sich eigenständig Gedanken machen nennt man oft eine Persönlichkeit. Das Gegenteil davon wären langweilige, vorhersagbare Figuren; vielleicht laut, bunt und unkonventiell, aber letztendlich nur ein Produkt ihrer Umwelt ohne echt innerem Kern. Sie setzen ihre Reden zusammen aus vorgefertigten Bausteinen aus Serien und der Werbung, das Internet Kaufportal Amazon kann recht gut ihr Kaufverhalten vorhersagen und bei komplexen Themen hört man von ihnen nur Dinge, die man schon zuvor zig mal gehört hat.

8.0 Individualität baus vorgefertigten Konsum-Bausteinen

Der Vorteil für das Kollektiv kann hier darin bestehen, dass Individuen a) zuverlässig in der Ausführung bleiben und große Stoßkraft durch Konformität (Kriege), also eine gleichsinnige Ausübung von Kräften, erlangen. Typischerweise beeindrucken Militärparaden besonders durch die insektenhafte Gleichartigkeit der Soldaten (Uniform, Haarschnitt, Bewegungsabläufe). Siehe auch Personalität ↗

e) Eugenik durch die Hintertür


Künstliche Intelligenzen geben zukünftigen Eltern eine Beratung, welche Genausstattung ihrer Kinder für einen gesellschaftlichen Erfolg am besten geeignet sind[19]. Dabei können im Sinne einer arbeitsteilig organisierten Planwirtschaft nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage auch sozial niedrige Positionen erfolgversprechend sein.

9.0 Eugenik für eine bessere kollektive Arbeitsteilung

In diesem Sinne könnten auf Empfehlung übergeordneter Algorithmen neu geschaffene Menschen von vorneherein auf einen niedrigen Status festgelegt werden. Könnten Eltern zunächst noch frei über die Annahme der Empfehlungen entscheiden, wäre dies eine Art freiwilliger Selbst-Eugenik. Siehe auch Eugenik ↗

f) Austauschbarkeit der Individuen


Der französische Soziologe Rene Worms verglich gegen Ende des 19ten Jahrhunderts soziale Körper (corps sociale) mit biologischen Organismen[20]. Eine wichtige Gemeinsamkeit sei die Austauschbarkeit der Individuen des Übergebildes. Er beschrieb, wie etwa beim Wechsel der US-amerikanischen Regierung von Republikanern zu Demokraten (oder umgekehrt) nicht nur Minister sondern sehr weitgehend das gesamte Personal der Administration ausgetauscht wird.

10.0 Wichtig ist nicht das Individuum sondern die Funktion.

Im Tierreich könne man das am Beispiel der Hydra (Wasserpolyp) beobachten. Wo das Individuum im Übergebilde aber so leicht austauschbar wird, fehlt dem Individuum ein wesentliche Voraussetzung seiner Selbstbehauptung, nämlich gerade seine Unersetzlichkeit.

g) Google-Effekt (sinkende Gedächtnisleistung)


Im Jahr 2011 wurde im Rahmen einer Studie[21] beobachtet, dass Menschen sich Daten eher weniger dauerhaft merken, wenn sie wissen, dass sie jederzeit digital auf die Daten zugreifen können. Manche Autoren sahen darin Vorboten einer allgemeinen gesellschaftlichen Demenz[22], was aber nicht zwangsläufig aus dem Google-Effekt folgen muss[23].

11.0 Individuelles Gedächtnis wird zunehmend ausgelagert auf Maschinen.

Dennoch können weniger Gedächtnishalte zu einer verminderten Einsicht menschlicher Individuen in tiefere Zusammenhänge führen. Siehe dazu den Artikel zum Google-Effekt ↗

Welchen Nutzen hat die Degeneration für die Gesellschaft?


Hier wurde an einigen Beispielen angedeutet, das scheinbar unerwünschte Prozesse einer (vermuteten) individuellen Degeneration möglicherweise günstig für die Leistungsfähigkeit des Kollektivs als Ganzem sind.

12.0 Die Kernidee: Degeneration des Individuums ist gut für das Kollektiv.

Es ist wichtig das im Blick zu behalten: die Degeneration der Individuen muss einen Vorteil für das Kollektiv bringen. Es ist vielleicht genau dieses Scheinparadoxon, das an Insektenstaaten mit so fasziniert. Weitere positive Effekte einer Degeneration stehen im Artikel soziointegrative Degeneration (Nutzen) ↗

Wie kann man sich ethisch dazu verhalten?


Wer davon ausgeht, dass in menschlichen Gesellschaften Prozesse einer soziointegrativen Degeneration stattfinden, kann daran interessiert sein, das bewerten zu wollen und eine eigene Reaktion darauf zu finden. Lies mehr dazu im Artikel soziointegrative Degeneration (ethisch) ↗

Fußnoten


Asanger Verlag 1989.