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Soziointegrative Degeneration (ethisch)


Gesellschaft


Fragestellung


Angenommen in menschlichen Gesellschaften laufen Prozesse ab, über die das Individuum zunehmend Autonomie und Fähigkeiten verliert und an das Kollektiv der Gesellschaft übergibt. Der polnische Autor Stanislaw Lem bezeichnete einen solchen Prozess als soziointegrative Degeneration. Welche persönlichen Reaktionen daraus sind möglich? Das ist hier kurz diskutiert.

Einführung


Menschen machen sich als Arbeitskräfte preiswerter, indem sie auf Schulbildung, Freizeit und Mitsprache verzichten. Unternehmen laufen zunehmend besser, wenn Entscheidungen von künstlichen Intelligenz und nicht mehr von Menschen getroffen werden. Starke Persönlichkeiten sind nur ein kurzes Konsum-Erlebnis im Kosmos ständig schnell wechselnder sozialer Medien. In einem solchen Szenario wird der individuelle Mensch zu einem vielleicht funktionalen Teil seiner ihm übergeordneten Gesellschaft. Die Geschicke im Großen kann er aber weder Individuell noch als als Kollektiv steuern, die Steuerung liegt in einem hybriden Mensch-Maschinen Übergebilde. Den Prozess hin zu einem solchen Zustand nannte Stanislaw Lem[2] soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Die ethische Frage


Die Ethik beschäftigt sich mit Kriterien anhand derer man für sich erkennen kann, was richtig und falsch in einem wertenden moralischen Sinn ist. Geht man davon aus, dass sich menschliche Gesellschaften hin zu einem Übergebilde entwickeln, die nicht automatisch zum Wohl des Individuums existieren und in denen sich einzelne oder alle Individuen zum Nutzen des Ganzen zurückentwickeln, dann tun sich verschiedene Möglichkeiten einer eigenen Haltung dazu auf.

Widerstand gegen die Einverleibung


Man kann gewillt sein, der Prozess aufzuhalten. Zwar argumentieren viele Wissenschaftler mit fast naturgesetzlichen Prinzipien, dass der Prozess möglicherweise nicht aufzuhalten ist (evolutionäre Transitionen), doch muss das ja keine Sicherheit sein. Der US-Amerikaner Howard Bloom argumentiert, dass der Prozess nicht erst mit der Entstehung von Computern begann sondern schon immer Teil evolutionärer Prozesse auf der Erde war[3]. In diesem Fall ginge es nicht nur um Widerstand sondern sogar um eine Umkehrung bereits geschehener Dinge. Folgende Einzelschritte könnten im Sinne eines Widerstandes sinnvoll sein:


Hingabe zur Einverleibung


No brain - no pain: auf Deutsch in etwa: wo es kein Gehirn gibt, dort gibt es auch keine Schmerzen. Man kann sich dem Prozess der soziointegrativen Degeneration preisgeben und darauf hoffen, dass man selbst oder die eigenen Nachfahren in einen dumpfen leidlosen Gemütszustand verfallen, so wie man sich vielleicht den Bewusstseinszustand grasender Kühe auf einer Weide vorstellen kann. Nietzsche beginnt seine Betrachtung über den Nutzen und Nachteil der Historie mit diesem Bild[4]. Darauf passt auch gut ein Zitat des Schrifstellers H. P. Lovecraft: "The most merciful thing in the world, I think, is the inability of the human mind to correlate all its contents. We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far. The sciences, each straining in its own direction, have hitherto harmed us little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the light into the peace and safety of a new dark age." Siehe auch H. P. Lovecraft (Zitate) ↗

Emigration, Flucht vor der Einverleibung


Man kann versuchen, die Erde zu verlassen und im Weltraum eine Kolonie der Gleichgesinnten zu gründen. Vor allem die Kolonisierung Nordamerikas bietet hier vielleicht einige historische Vorbilder. Nach dort wanderten viele religiöse Glaubensgruppen aus, um ungestört von europäischen Moralvorstellungen ihre Lebensideale zu verwirklichen. Sollte die soziointegrative Degeneration als Prozess wirksam sein, dürfte die Erde wenig Platz für unabhängige Kolonien bieten, bestenfalls vielleicht einmal Reservate. Daher der Gedanke, Kolonien im Weltraum zu gründen, etwa eine Marskolonie ↗

Opportunismus


Im Jahr 1932 beschrieb der englische Autor Aldous Huxlex einen Weltstaat, in dem die Menschen in vier Klassen eingeteilt waren. Während die Mitglieder der höchsten Klasse Privilegien genossen und das Geschehen steuern konnten, lebten die Anhänger der untersten Schicht, die Deltas, in einem Zustand angeborener Zufriedenheit. Hält man ein solches Szenario für denkbar, könnte man versuchen, selbst zur privilegierten Elite zu gehören, dann auch idealerweise mit vererbbaren Bestandsgarantien für die eigenen Nachkommen. Siehe auch Schöne Neue Welt [Roman] ↗

Fußnoten