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Soziointegrative Degeneration


Kollektive Intelligenz


Definition


Militär-Drohnen im Verband, Zellen in einem Körper, Insekten im Schwarm oder Soldaten in einer Armee: kollektive Ansammlungen von Individuen können als Ganzes betrachtet gerade dadurch intelligenter und effektiver werden, dass die einzelnen Individuen ihre Fähigkeiten beschränken oder sie sogar zurückentwickeln, also degenerieren. Das ist die Kernidee des Konzeptes einer soziontegrativen Degeneration.

Ein Gedankenspiel: Planet der Kinder


Man stelle sich vor, eine zukünftige Weltraum-Expedition landet auf einem fernen Planeten. Dort leben nur Kinder im Alter von höchstens 6 Jahren. In jeder Hinsicht entsprechen sie gleich alten menschlichen Kindern auf der Erde. Nirgends trifft man auf höher gebildete Bewohner mit dem Sachverstand oder Wissen eines irdischen Erwachsenen. Es gibt auch keine zentrale alles steuernde Intelligenz, die das Leben auf dem Planeten regelt. Niemand kann schreiben oder lesen. Dennoch gibt es funktionierende Städte, komplexe Unternehmen und ganze Staaten im Krieg. Es gibt auch Flughäfen, eine funktionierende Wasserversorgung und hochentwickelte Landwirtschaftsbetriebe - aber nirgends trifft man intelligentere Wesen als junge Kinder an. Nach der Idee der soziointegrativen Degeneration wäre ein genau solches Szenario denkbar: die Intelligenz des Kollektivs besteht nicht in der hohen Intelligenz einzelner Individuen sondern in der Art ihrer Verschaltung oder Organisation.

Zur Definition: Degeneration muss einen Vorteil bewirken


Degenerieren die Individuen eines Kollektivs, etwa die Mitarbeiter eines Lieferservice für Essen, dann kann man sich verschiedene Szenarien vorstellen: der Firma geht es SCHLECHTER, etwa die Mitarbeiter Bestellungen durcheinanderbringen, Adressen falsch zuordnen oder von den Regeln zur Hygiene und zur Arbeitssicherheit überfordert sind. In dem Fall liegt keine soziointegrative Degeneration vor. Die Firma kann aber gut oder BESSER laufen OBWOHL die Mitarbeiter degenerieren. Sie kann zum Beispiel durch Glück eine gute Marktnische (Maultaschen in Magdeburg) gefunden haben oder es fehlt im Moment an starker Konkurrenz. Auch in diesem Fall liegt keine soziointegrative Degeneration vor. Es kann aber auch sein, dass die Firma durch DURCH die Degeneration ihrer Mitarbeiter BESSER wird: die Mitarbeiter bleiben ihrem Arbeitsplatz treu, weil sie anderswo kaum Chancen haben, sie fordern keinen Bildungsurlaub und kennen ihre Rechte als Arbeitnehmer nicht. Und sie verlangen einen nur billigen Lohn. Gleichzeitig bleiben sie ausreichend zuverlässig in ihren Kernaufgaben, Computer oder eine gute Organisationsstrukturen sorgen für gute Geschäftsabläufe. Für eine soziointegrative Degeneration im engeren Sinn muss dass Kollektiv nicht trotz sondern wegen degenerierter Individuen erfolgreich sein. Das ist die zentrale originale Idee von Stanislaw Lem.

Zur Definition: Degeneration ist durchschnittlich, nicht individuell


Stanislaw Lem beschrieb die soziointegrative Degeneration am Beispiel von Soldaten und militärischen Führungspersonen sowie Politikern. Der Prozess in Lems fiktivem Beispiel dauerte wohl Jahrzehnte. Wesentlich war nicht, dass ein konkreter General über seine Laufbahn hinweg degenerierte. Vielmehr wurde die Qualität der Generäle über die Zeit immer schlechter. Degeneration heißt also, dass man über einen längeren Zeitraum einen Rückgang der durschnittlichen Qualität über mehrere Individuen beobachtet, nicht über die Lebenszeit eines Individuums.

Zur Definition: Degeneration als ungenutztes Potential


Ein Kollektiv aus Individuen kann auf zwei Weisen die individuellen Fähigkeiten beschränken: es kann bestehende Fähigkeiten zurückformen. Das wäre eine Degeneration im engeren und eigentlichen Sinn. Das Kollektiv kann aber auch mögliche Potentiale an einer Entfaltung behindern. So hatten die Kinderarbeiter in den frühkapitalischen Fabriken den 19ten Jahrhunderts durch aus das Potential für eine akademische Laufbahn. Doch es genügte dem Kollektiv (dem Fabrik-Unternehmen), die reine Muskelkraft oder Geschicklichkeit der Kinder auszunutzen. Hier soll soziointegrative Degeneration auch diese erweiterte Bedeutung einer Verhinderung von Entwicklungsmöglichkeiten von Individuen mit einschließen.

Gegenstände der Degeneration (Beispiele)


Spricht man über Degeneration, so ist es hilfreich, sich klar zu machen, was genau degenerieren, also sich zurückentwickeln, soll. Lems wandte sein ursprüngliches Konzept sowohl auf Menschen, als auch auf Waffensysteme an. In seiner sonstigen Literatur ist das Motiv von Schwarzmintelligenz ein oft durchgängig roter Faden. Je nach dem betrachteten Gegenstand kann man dann verschiedene Dinge in den Blick nehmen, die degenerieren können. Hier stehen einige Beispiele.


Degeneration als Bilanz oder in Teilen?


Eine Köchin, die bisher als Selbständige alleine gearbeitet hatte, vergrößert ihr Geschäft und stellt Mitarbeiter ein. Sie kann manche Fähigkeiten zurückentwickeln (Buchhaltung, Kochen), muss aber vielleicht andere Fähigkeit neu dazuerwerben (Marketing, Mitarbeiterführung, Sozialgesetzgebung etc.). Hier muss man sich bewusst machen, ob man nur Teilfähigkeiten oder die Summe aller Fähigkeiten (Bilanz) betrachten möchte. Möchte man von einer Degeneration des Individuums als Ganzem sprechen, macht die Bilanz aller Fähigkeit mehr Sinn.

Degeneration absolut gesehen


Kann man die Fähigkeiten eines Individuums als Zahlenwert messen, kann man über einen längeren Zeitraum betrachten, ob die durchschnittlichen Fähigkeiten vieler Individuen zu- oder abnehmen. Siehe auch absolut ↗

Degeneration relativ zum Kollektiv


Kann man einen Messwert für die Fähigkeiten einzelner Individuen einerseits sowie die Fähigkeiten des Kollektivs aus Individuen andererseits angebeben, kann man daraus einen Quotienten bilden: individuelle Fähigkeiten im Vergleich zu den kollektiven Fähigkeiten. Nimmt dieser Quotient als Durchschnittswert vieler Individuen über die Zeit ab, kann man von einer relativen soziointegrativen Degeneration im Bezug zu den Kollektivleistungen sprechen.

Degeneration relativ zum Potential


Kann man einen Messwert für die Fähigkeiten einzelner Individuen einerseits sowie die theoretisch möglichen Fähigkeiten eines Individuums andererseits angebeben, kann man daraus einen Quotienten bilden: individuelle Fähigkeiten im Vergleich zum individuellen Potential. Nimmt dieser Quotient als Durchschnittswert vieler Individuen über die Zeit ab, kann man von einer relativen soziointegrativen Degeneration im Bezug zu den individuellen Potentialen sprechen.

Wer hat den Begriff geprägt?


Die ursprüngliche Definition stammt aus einem Buch des polnischen Autoren Stanislaw Lem aus dem Jahr 1980[2]. Lem skizzierte darin eine fiktive Geschichte der Waffensysteme des 21ten Jahrhunderts. Darin beschrieb er, wie Schwärme aus kleinen Flugrobotern (Drohnen) letztendlich teure Kampfjets verdrängten und künstliche Intelligenzen menschliche Entscheidungsträger. Die Idee einer kollektiven Intelligenz ist ein durchgängiges Motiv in Lems Werken zur Science Fiction. Lem entwickelt den Begriff dann in einem anderen Buch[1] weiter aus. Mehr zur Geschichte des Begriffs soziointegrative Degeneration (Stanislaw Lem) ↗

Gibt es eine soziointegrative Degeneration von menschlichen Gesellschaften?


Lem hat den Begriff der soziointegrativen Degeneration nur kurz skizziert. Er hat ihn nicht in einem wissenschaftlichen Sinn weiter ausgearbeitet. Er hat aber angedeutet, dass in seiner fiktiven Geschichte des Militärs des 21ten Jahrhunderts auch Generäle und höhere Militärs dem Effekt erlegen. Ob tatsächlich auch Menschen innerhalb einer Gesellschaft soziointegrative degenerieren können wird untersucht im Artikel soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Verwandte Konzepte


Die Ideen einer soziointegrativen Degeneration ist eng verbunden mit verschiedenen Ausprägungen einer kollektiven, also gemeinschaftlichen Intelligenz. Die klassischen Metapher sind soziale Insekten sowie auch Schwärme kleiner Roboter. Hier stehen einige Beispiele dazu und verwandte Phänomene:


Gibt es seriöse Forschung zur soziointegrativen Degeneration?


Bis zum Jahr 2022 fanden sich keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Stichwort soziointegrative Degeneration. Im Bereich der Robotik wird der Effekt jedoch mit anderen Worten oft ausführlich besprochen. Typische Fachworte sind "simple agents" oder "bots". Man meint damit einfache Individuen die geschickt organisiert leistungsfähige Kollektive ergeben. Im Bezug auf menschliche Gesellschaften gibt es zwar Forschungen zur zeitlichen Entwicklung der Intelligenz[5], sowie auch Sachbücher, die recht präzise vor einer entsprechenden Entwicklung für Menschen warnen[3]. Aber eine wissenschaftliche Theoriebildung zur Höherentwicklung menschlicher Kollektive bei gleichzeitiger Rückbildung individueller Autonomie und Intelligenz ist mir bis dato (2022) nicht bekannt.

Erwähnungen im Internet, Zitate


Eine Internetrecherche mit den Suchmaschinen Google und Bing im Mai 2022 lieferte nur wenige Treffer. Neben den Verweisen auf Lems ursprüngliche Wortschöpfung aus dem Jahr 1983 wurde das Wort nur an zwei weiteren Stellen verwendet:


Fußnoten