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Moral und Wissenschaft


Biographisch


Definition


Moral ist die Gesamtheit aller Werte, Verhaltensregeln und Verhaltensmuster einer Gruppe, etwa einer Gesellschaft oder einer Kultur. Die Moral ist also kein durchdachtes Gedankengebäude, Moral ist die Summe von wirklich gelebten oder erwarteten Handlungen. Einige reale, biographische Grenzsituationen aus der Wissenschaft sind hier kurz vorgestellt.

Prolog


Der englische Schriftsteller George Orwell erlebte im Herbst 1940 die Bombardierung Londons durch deutsche Bomber als lebendes Ziel der Angriffe. Er schreibt: "Während ich schreibe fliegen hochzivilisierte Menschen über mich hinweg und versuchen mich zu töten. Sie empfinden mir gegenüber keine Feindschaft, noch ich ihnen gegenüber. Sie tun nur ihre Pflicht, wie man sagt. Die meisten sind zweifellos warmherzige und gesetzestreue Männer denen im Privatleben nie der Gedanke an einen Mord käme. Andererseits, wenn es einem von ihnen gelingen sollte mich mit einer gut platzierten Bombe in Stücke zu reißen wird er deshalb nicht schlechter schlafen."[1]

Einführung


Nicht ohne drängende Not lügen, Geschäftspartner nicht unfair über den Tisch ziehen, Mitmenschen in Notlagen helfen, Schwächere nicht bloßstellen, solidarisch zu seinem eigenen Land stehen, höflich sein und anderen nicht vor den Kopf stoßen: kaum jemand wird widersprechen, dass dies gute Beispiele für moralisches Handeln sind. Aber nur über solche offensichtlichen Beispiele lässt sich Moral nicht befriedigend definieren. Situationen im echten Leben sind selten so eindeutig wie die Beispiele. Dazu stehen hier beispielhaft einige biographische Geschichten aus Wissenschaft und Technik.

Werner Heisenberg will Schlimmeres verhindern


Mitmachen um Schlimmeres zu verhindern? Werner Heisenberg, geboren 1901, galt als eines der Wunderkinder der frühen Quantenphysik in den 1920er Jahren. Nach der Regierungsbildung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933, wurden viele seiner Kollegen, vor allem solche mit jüdischer Herkunft, aus ihren Ämtern verdrängt, darunter Max Born und Albert Einstein. Heisenberg jedoch blieb in Deutschland und versuchte dort die Physik weiter voran zu bringen. Als Grund für sein Verbleiben in Deutschland gab er selbst an, dass er für das Deutschland nach der Nazizeit arbeiten wolle[6]. In den 1930er Jahren wurde er für den deutschen Uranverein tätig, eine Einrichtung, die militärische und zivile Nutzungen der Atomphysik erkunden sollte. Unter anderem war Heisenberg dort auch in die konzeptionelle Entwicklung von Uranwaffen eingebunden. Heisenberg selbst stellte dieses Engagement nach dem Krieg als eine Art innere Sabotage dar: er wollte wichtige Stellen im Projekt selbst besetzen, das Projekt aber nicht voranbringen, um Deutschland keine Uranwaffen zu bilden. Historiker sind sich bis heute nicht einig, ob das Scheitern von Heisenbergs Arbeit an Uranwaffen aktiv von ihm gewollt war oder eher auf physikalische Fehleinschätzungen (kritische Masse) zurückzuführen ist. Die zugrundeliegende Frage des Dilemmas bei Heisenberg ist: beim Bösen mitmachen um Schlimmeres zu verhindern? Heisenberg bleibt damit bis heute eine moralisch schwer zu bewertende Figur[7]. Siehe auch Werner Heisenberg ↗

Hans Ernst Schneider fängt neu an


Neues Leben, neuer Mensch? Im Jahr 1995 zeigte sich der Rektor der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) selbst bei der Polizei an: er habe nach dem zweiten Weltkrieg seinen Namen von Hans Schneider umgeändert in Hans Schwerte. Damit hatte er seine Vergangenheit als aktiver Gestalter nationalsozialistischer Besatzungspolitik (Hauptsturmführer SS) in den Niederlanden und Polen vertuscht. Im Nachkriegsdeutschland baute er sich eine neue Identität als liberaler Germanist auf. Als solcher erhielt er zahlreiche Ehrungen und hatte großen Einfluss[8]. Das Dilemma in der moralischen Bewertung hier ist: soll ein Mensch an vergangenen Taten bewertet werden, wenn er später ein makelloses und moralisch akzeptables Leben geführt hat? Siehe auch SS ↗

George Orwell fragt: bringt Wissenschaft Moral?


Wissenschaft schützt vor Unsinn nicht: der Schriftsteller George Orwell greift kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Forderung seiner Zeit auf, dass die Allgemeinheit mehr wissenschaftlich gebildet werden sollte[9]. Nach der Vorstellung seiner Zeit waren damit vor allem die sogenannten exakten Wissenschaften wie etwa Physik, Biologie und Chemie gemeint. Orwell betrachtet die Rolle vieler solcher Wissenschaftler in Deutschland zur Zeit des Dritten Reiches: er vermutet zunächst, dass nach der Machterergreifung sehr viel mehr Literaten und Künstler dem NS-Regime die Mitarbeit versagten als (Natur)Wissenschaftler. Zweitens stellt er fest, dass "ein Großteil der deutschen Wissenschaftler die Monstrositäten der Rassenlehre schluckten" und dass Wissenschaftler seiner Zeit in England die Auswüchse des Kapitalsmus kritiklos hinnehmen. Orwell stimmt abschließend der Idee zu, dass mehr Wissenschaft unterrichtet werden sollte, aber nur, wenn das nicht eine Verengung auf Biologie, Physik und Chemie bringt, sondern auch Literatur und Geschichte mit einschließt. Siehe dazu auch Wissenschaft (George Orwell) ↗

Erklären die Naturwissenschaften Moral?


Ja, zum Beispiel über die Soziobiologie: während metaphysische Erklärungsversuche die Moral über göttliche Wirkungen, spirituelle Einflüsse oder nicht-materielle Prinzipien herleiten könnten, sind die Naturwissenschaften methodisch darauf beschränkt, Moral entweder als Forschungsgegenstand auszulassen. Oder aber sie versuchen, moralisches Verhalten als naturnotwendige Folge rein materieller Abläufe zu erklären. Ein gutes Beispiel dafür ist das Buch "Die Biologie der Zehn Gebote"[2]. Der Autor legt dar, wie die Zehn Gebote der Bibel letztendlich auf darwinistische Erklärungsmuster zurückgeführt werden können. Lies mehr zu diesem Ansatz unter Soziologie ↗

Geben die Naturissenschaften Orientierung?


Ja, indem sie Folgen aufzeigen kann: aufgrund ihrer methodischen Beschränkung können die Naturwissenschaften keine wertenden Urteil fällen. Sie können nicht entscheiden, ob etwas gut oder schlecht ist. Sie können auch nicht beweisen, das Töten böse oder Helfen gut ist. Das einzige was Naturwissenschaften können sind Ursache-Wirkungs-Gefüge aufzeigen oder Eintrittswahrscheinlichkeiten, etwa für eine Polschmelze, anzugeben. Sie können zum Beispiel sagen, dass die weltweite Durchschnittstemperatur mit 95-% Wahrscheinlichkeit um mehr als 2 °C steigen wird[5]. Es gibt aber keine Formel, mit der man berechnen kann, ob das schlimm ist oder nicht. Es ist dann die Aufgabe der Politik, der Gesellschaft, eines jeden einzelnen, sich zu überlegen, ob man das will oder nicht. Wie wenig aber von der Wissenschaft letztendlich von der Gesellschaft wirklich in seiner Bedeutung erfasst wird, das zeigt ernüchternd die Seite Erderwärmung (Zitate) ↗

Fußnoten