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Machina Sapiens


Buchvorstellung


Grundidee


Maschinen und Menschen verschmelzen zu einer weltweiten „Globalmaschine“, in der der Mensch dann seine Autonomie verliert. Eine lebendig bildhafte Sprache vermittelt ein plausibles Bild einer düster dystopischen Zukunft. Der Autor, geboren 1942 in Persien, war Professor an der Universität Münster und interessierte sich unter anderem für ethische Fragen. Sein Buch hat vor allem warnenden Charakter. Hier ist der Inhalt kurz kapitelweise skizziert, kommentiert und um Querverweise zu verwandten Ideen und Konzepten ergänzt.

Der Autor Kazem Sadegh-Zadeh


Kazem Sadegh-Zadeh wurde im Jahr 1942 im iranischen Täbris geboren und wuchs auch dort auf. Ab 1960 studierte er Medzin und Philosophie in Deutschland. Von 1984 bis 2004 hatte er eine Professur an der Universität Münster. Sadegh-Zadeh forderte unter anderem eine Präzisierung der medizinischen Fachsprache und den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Diagnose. Mehr zur Person unter Kazem Sadegh-Zadeh ↗

Kapitel 1: die These


Im ersten Kapitel des Buches umreisst der Autor kurz seine These: auf der Erde vereinigen sich die „Biosphäre“ und die „Technosphäre“ zu einem „planetaren Riesenorganismus“, der „Machina sapiens“. Den technologischen Teil dieses Organismus nennt der Autor die „Globalmaschine“. Er kennt „vernetzte Nervengeflechte und Gehirne in Form von Computern“, „Sinnesorgane in Form von Sensoren, Telerezeptoren und Satelliten“ sowie auch „Effektoren in Form von mobilen Robotern und Fabriken“. Sadegh-Zadeh betrachte die Machina sapiens als „geistbegabt“, handelnd und lebendig.

Der Mensch wird in dieser „zwangsläufigen Symbiose mit der Technik“ immer mehr von „Sachzwängen“ dominiert. Die Technik ist immer weniger ein „außerkörperliches Organ“ des Menschen. Vielmehr ist der Mensch „in diesem Prozess von der Globalmaschine instrumentalisiert worden“.

Sadegh-Zadeh skizziert einen Prozess, den um 1980 der polnische Autor Stanislaw Lem in ähnlicher Weise anhand einer fiktiven Entwicklung des Militärwesens im 21ten Jahrhundert beschrieben hat: der Mensch degeneriert und wird dabei gleichzeitig Teil eines entstehenden höheren Organismus. Lem nannte diesen Prozess soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Kapitel 2: ein Selbstmissverständnis


Die Ausbildung einer Machina sapiens betrachtet der Autor als eine „unabwendbare, naturgesetzliche Höherentwickung der Technik“. Die Menschheit ist dabei „versklavt“. Der Autor empfiehlt, dass man über „bessere Weisen der Koexistenz mit der Maschine“ nachdenken sollte.

Ein Selbstmißverständnis sieht der Autor darin, dass der Mensch bisher noch glaube „Herr der Technik und Vorsteher der Maschine“ zu sein. Diesen Gedanken hält Sadegh-Zadeh für einen wenig hilfreichen Mythos. Der Mensch hat den „Rollenwandel“ vom Herr zum Sklaven noch nicht erfasst. Alte Mythen handeln von der „Mittelpunkthaftigkeit des Menschen“, mit dem treffenden Sinnbild des geozentrischen Weltbildes. Siehe auch Anthropismus ↗

Sadegh-Zadeh zitiert ein Buch[4] welches die geistige Sonderstellung des Menschen behauptet und jeder Maschinenintelligenz abspricht, den Menschen jemals überflügeln zu können. Demgegenüber sieht er einen „globalen Prozess des Überrollens des Menschen durch die belebte, intelligente und geistbegabte Maschine“, deren Geist aber „völlig andersartig“ ist und die wir deshalb „verkennen und übersehen“. Die Idee für uns unerkennbarer planetarer Intelligenzen ist auch Thema in Stanislaw Lems Roman Solaris ↗

Das Kapitel 2 zweifelt vor allem eine irgendwie geartete Sonderstellung des Menschen im Universum an. Die Idee einer Besonderheit des Menschen in der Welt nennt man Anthropismus, die Gegenposition kann man bezeichnen als Indifferentismus ↗

Kapitel 3: Vorausblick


Dieses Kapitel ist weniger als eine Seite lang. Es ist ein Vorausblick auf die kommenden Kapitel: dort erklärt werden sollen die nötigen Begriffe „Leben, Evolution, Koevolution, Hyperzyklus, Technosphäre, Bewußtsein und Geist“. Der Autor macht noch einmal sein Anliegen klar, den Menschen zu warnen vor seiner „erotischen Hingabe“ und „einseitigen Liebe“ mit der er die globale Maschine „emporpflegt“.

Kapitel 4: Was ist Leben?


Dieses Kapitel ist mit über 30 Seiten sehr lang und ausführlich. Es beginnt mit einigen Vexierbildern anhand derer der Leser für sich einüben soll, durch einen Wechsel seiner Perspektive ein und dasselbe Bild als verschiedene Gegenstände zu erkennen, zum Beispiel einen Hasen oder eine Ente. Mit diesem „Perspektivismus“ könne man dann auch Leben in Maschinen besser erkennen. Vor allem müsse man sich von der Idee lösen, dass Leben an Kohlenstoffverbindungen gebunden sei. Siehe auch Vexierbild ↗

Zur Definition von Leben verwendet der Autor das Konzept eines Systems, bei dem „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“, eine Sicht, die man in der Biologie auch Holismus nennt. Zudem seien Lebewesen „zyklische Kausalsysteme“, die man als gerichteten Graphen mit Knoten und Kanten darstellen kann. Siehe auch Holismus ↗

Zyklisch sei als Kausalsystem zum Beispiel die Ausbildung von Emotionen im Gehirn eines Menschen, was Hormonausschüttungen bewirke, die dann wiederum auf die Emotionen zurückwirken können.

Azyklisch oder linear hingegen sei ein „Wolkenzusammenstoß“, der die Sackgassenprozesse Blitz, Donner und Regen hervorrufe. Zwar rufe der Regen dann auch Planzenwachstum und eine Ernährung der Tierwelt hervor, aber diese, so Sadegh-Zadeh, wirken nicht zurück auf einen Wolkenzusammenstoß. Hier muss kritisch angemerkt werden, dass Regen über vermehrte Verdunstung selbst wieder Wolkenbildung befördern kann und auch hier ein kausaler Zyklus gedacht werden könne.

Desweiteren wird Leben charakterisiert als ein „verteiltes System“, als System, das selbst als Komponenten wiederum Systeme hat. Durch Quervernetzungen entstehen letzendlich „unentwirrbare“ „Kausalknäuel“. Als Beispiele genannt werden die Struktur einer Regierung mit Kabinett und verschiedenen Ministerien sowie auch ein Organismus mit einem Verdauungssystem, Blutkreislauf, und Immunsystem.

Neben ihrer Verteiltheit als Systeme sind Lebewesen auch „autonome Produktionssysteme“. Sie stellen Produkte wie Früchte, Düfte, Kinder, Zellen, Kopfhaare, Wünsche, Gedanken oder Bücher her. Hier bringt der Autor auch Katalysatoren in den Gedankengang ein, Stoffe, die Prozesse „in Gang setzen“ oder beschleunigen. Siehe auch Katalysator ↗

Die Autonomie sieht Sadegh-Zadeh als eine Folge autokatalytischer Vorgänge und der Organisationsform zylklischer Produktionssysteme sowie darin wirkender Regelkreisen, ähnlich einem Thermostat in Verbindung mit einer Heizung einer Wohnung. Über Regelkreise kann sich das Lebewesen an seine Umwelt „anpassen“, und ist damit „adaptiv“. Siehe dazu unter komplexes adaptives System ↗

Im Zusammenhang mit der Autonomie von Systemen lässt Sadegh-Zadeh aber offen, was genau unter Kausalität zu verstehen. Schon durch die Verwendung aktiver Verben (zusammenarbeiten, verursachen, steuern, tun etc.) schreibt er seinen Systemen Handlungsfähigkeit zu. Kausalität als Idee von Ursache und Wirkung ist als physikalisch und philosophisch exakter Begriff seit etwa 1900 zunehmend schwerer haltbar geworden. Die Idee einer Kausalität wirft Fragen nach der kausalen Geschlossenheit von Systemen auf, nach der Eindeutigkeit von Wirkungen (Naturgesetze als Wahrscheinlichkeitsaussagen) und nach der Exaktheit der Definierbarkeit von Zuständen (z. B. Unschärferelation). Lies mehr zu den Problemen rund um den Kausalbegriff unter Kausalität ↗

Die Fähigkeit zur Selbstreproduktion wird als letztes Kriterium von Leben besprochen. Lebewesen haben die Fähigkeit zur Selbstreproduktion mit geringen Abweichungen, Sadegh-Zadeh spricht von einer Quasiselbst-Reproduktion.

Abschließend wird eine Unterscheidung von Lebewesen erster und Lebewesen zweiter Ordnung eingeführt. Lebewesen erster Ordnung sind Lebensformen, die nur relativ zu ihrer Umwelt leben, etwa Viren, die in einer Umwelt als lebendig, in einer anderen per Definition tot sind. Diese Lebensdefinition ist „unscharf“: reproduktionsfähige Nukleinsäuren oder hirntote Menschen werden als Beispiele genannt. Als Beispiele für Lebewesen zweiter Ordnung werden Familien, Völker, Arten, Ameisenstaaten, Vogelschwärme und Ökoysteme genannt. Solche Lebewesen müssen nicht zwingend selbstreproduktiv sein. Lebewesen zweiter Ordnung seien aber - anders als individuelle Lebewesen erster Ordnung - fähig zur Evolution ↗

Das Kapitel endet mit der Idee der Emergenz, dem Auftauchen von Eigenschaften eines Systems, das einzelnen Komponenten nicht zukommen kann: Zucker als Ganzes ist süß, nicht aber die Atome des Zuckers selbst. „Systemeigenschaften sind Eigenschaften eines Systems, nicht seiner Komponenten“. Damit spricht sich der Autor gegen eine engstirnig analytische Betrachtung aus und fordert, dass immer auch das System als Ganzes betrachtet werden müsse. Diese Herangehensweise nennt man auch Holismus. Eine emergente Eigenschaft der Machina sapiens, der „Koevolution zwischen Mensch und Technik“ ist die Degeneration des Menschen, also soziointegrative Degeneration ↗

Kapitel 5: Die Idee der Bioevolution


In diesem kürzeren Kapitel werden Grundbegriffe der biologischen Evolution vorgestellt: präbiotische Evolution, Hyperzyklus, Mutation, Urzelle, Variation, Rekombination, Selektion, Population, Lamarckismus, Darwinismus etc. Siehe auch Evolution ↗

Vor dem erdgeschichtlichen Rahmen einer biologischen Evolution glaubt Sadegh-Zadeh eine „Aufwärtsentwicklung“ von „weniger komplexen zu komplexeren“ Systemen zu erkennen. Er verwehrt sich aber dagegen, darin einen „moralischen Zug“ zu sehen, die Evolution an sich sei „amoralisch“. Zur Idee einer stetigen Höherentwicklung zum Komplexen siehe auch Metasystem-Transitionen ↗

Kapitel 6: Evolutionssysteme


In diesem längeren Kapitel soll gezeigt werden, dass auch technische Systeme evolutionsfähig sein können. Sadegh-Zadeh erkennt ein „hybrides Ökosystem“ aus der „Biosphäre und Technik“, die gemeinsam „koevoluieren“. Zentral für das Kapitel ist die Idee einer Symbiose, wobei er Mutualismus (beiderseitiger Nutzen), Kommensalismus (einseitiger Nutzen aber ohne Schaden) und Parasitismus (einseitiger Nutzen mit Schaden) unterscheidet. Nach einigen Beispielen aus der Biologie (Baum-Pilz) wird gefragt, ob nicht auch der Mensch in einer Koevolution mit seinen Techniken steht. Indizien für eine solche Koevolution seien etwa Kanäle, Bergerwerke, die Landwirtschaft und Städte.

Zentral zur Erkennung der Koevolution von Mensch und Technik ist der Begriff des Hyperzyklus, nach Sadegh-Zadeh „ein ringförmiger Zusammenschluß von quasiselbstreproduktiven Populationen“.

Immer wieder - auch im Kapitel 6 - macht Sadegh-Zadeh sein zentrales Anliegen deutlich, nämlich die Erkenntnis, dass der Mensch in diesem Prozess eher Opfer als Handelnder ist. Er mahnt, daß „evolutionär optimal keinswegs 'moralisch' oder 'gut' bedeutet“ und dass die „hyperzyklischen Strukturen durch Opportunismus, Skrupellosigkeit und Unbarmherzigkeit gekennzeichnet“ seien. Produzieren Hyperzyklen neue Hyperzyklen, so kann man Sadegh-Zadeh zufolge von einer „Darwinmaschine“ sprechen. Damit deutet sich bereits der Begriff Globalmaschine an, der Gegenstand des folgenden Kapitels wird.

Kapitel 7: Die Globalmaschine


In den „Mühlen eines globalen Hyperzyklus“ ist eine „Technosphäre“ entstanden als deren Teil man eine Globalmaschine ausmachen kann: „Die Globalmaschine ... ist der technosphärische Anteil des Bio-Techno-Hyperzyklus“.

Kapitel 8: Die Technoevolution


Das Kapitel beginnt mit der Idee evolutionsfähiger Maschinen. Hier wechselt Sadegh-Zadeh die Perspektive so, dass er zum Beispiel Automobilen eine Handlungsfähigkeit zuschreibt, ganz im Einklang mit dem Rest des Buches: „Mittels der Produktions- und Konsummaschinerie quasiselbstreproduziert sich ein Prototyp auf zwei Wegen“. Von einer horizontalen Selbstreproduktion ist die Rede, wenn etwa vier Millionen VW-Käfer des Baujahres 1986 hergestellt werden, von einer vertikalen Selbstreproduktion wenn es um nachfolgende Prototypen der kommenden Jahre geht. Der Auto unterstreicht explizit, dass die Spezies Automobil hier nicht als von Menschen „intendiert“, „geplant“ und „verwirklicht“ gesehen werden muss, sondern selbst „aktiv“ sein kann. Man kann sich in den „Maschinenprototyp hineinversetzen und die Welt aus dieser Perspektive betrachten“. Die „Produktions- und Konsummaschinerie“ erscheint dann als „externes Fortpflanzungsorgan“.

Sadegh-Zadeh bemerkt an dieser Stelle, dass die Reproduktion in der Technosphäre noch strikt „agenetisch“ erfolgt, merkt aber an, dass mit der Entwicklung der Biotechnologie auch genetische Elemente in das System eingetragen werden. Hier kann man ergänzen, dass zumindest Vorstufen einer genetischen Reproduktion in Unternehmen erkennbar sind: Normen, Arbeitsplatzbeschreibungen, Patente, die Dokumentation von Prozessen (ISO 9000) könnten als Vorstufen einer genetischen RNA aufgefasst werden, die nämlich bei der Ausbildung neuer Unternehmen Merkmale schon bestehender Unternehmen weitergibt. Kettenunternehmen könnten als Populationen mit horizontalem Gentausch modelliert werden. Dieser Aspekt ist in dem hier vorgestellten Buch aber nicht weiter ausgearbeitet. Siehe dazu Evolutionsökonomik ↗

Einen „Willen“ hat nach Sadegh-Zadeh weder die Einzelmaschine Auto, noch der Prototyp eines Modells, sondern nur die Globalmaschine. Er führt als Analogie auch den Hyperzyklus aus Blumen und Insekten an und man darf hier vermuten, dass der Autor auch diesem Hyperzyklus Geist oder Willen zuschreibt. Was zunächst wie eine Variante der Gaia-Hypothese (lebende Erde) klingt, geht aber darüber hinaus: die originale Gaia-Hypothese von James Lovelock unterstellte ausdrücklich nirgends Willen oder Geist. Genau diesen Aspekt möchte aber Sadegh-Zadeh in die von ihm beschriebenen Systeme hineinbringen. Siehe auch Gaia-Hypothese ↗

Aus Sicht der Maschinenspezies wird die Technoevolution angetrieben von zwei Triebfedern: der Konkurrenz um Geld und der Konkurrenz um Erfüllung des „Lusthaushalts“ des Menschen: „Der Selektionsdruck, der dadurch für sie entsteht, liefert die treibende Kraft für die Technoevolution“. Sadegh-Zadeh spricht dann von einem Technotop, wo verschieden Maschinenarten oder Technika sich gemeinsam eine Umwelt teilen, etwa CD-Spieler und Videorekorder.

Technotope konkurrieren jedoch zunehmend mit Biotopen: „Abgase, Verklappungen, Atomtests, Flußbegradigung und -bedeichung, Straßenbau und Walrdodung“ gehen zunehmend auf Kosten des Biotops. Und auch sei die Technik nicht mehr nur abhängig vom Menschen sondern auch umgekehrt: es werden heute Kinder geboren, die ohne Technik nie lebend auf die Welt gekommen wären oder sich in ihr fortpflanzen könnten. Und: „Analog zu anderen anderen Makroprozessen der Natur wie etwa einer Kontinentaldrift oder einem Vulkanausbruch, fragen auch die Makroprozesse der Technoevolution als Natureignisse nicht erst den Menschen, ob sie sich ereignen dürfen...“ Der Mensch unterliege auch einer „Instrumentalsierung der miteinander konkurrierenden Staaten“. Die Staaten seien gezwungen zu einer „technophilen Gesetzgebung“, sie müssen ihre “Dörfer, Straßen, Häuser, Schulen und Kirchen maschinengerecht bauen“.

Die Globalmaschine ist nach Sadegh-Zadeh in dem Sinne autonom, dass sie vom Menschen nicht mehr gesteuert werden kann, sondern sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt. Bereis eine „Großmaschine“ wie die Deutsche Bahn oder die Chemie-Firma Bayer Leverkusen würden dem menschlichen Willen nicht gehorchen. Ganz im Gegenteil zwingt die Globalmaschine dem Menschen ihren Willen auf und zwar durch eine: „ubiquitäre Indoktrinierung, daß der technische Fortschritt notwendig sei“, dem „Bedürfnis nach Automobilität“ oder dem „Konsum von Massenmedien“. Der Autor spricht von einem „infektiösen Verlangen“. Siehe dazu auch Konsumismus ↗

Ein „Opponent gilt als Träumer, als Spinner, Verräter, Abweichler und Krimineller“. „Der Staat fungiert als der große Organisator, Förderer und Organisator der Globalmaschine“. An anderer Stelle seines Buches [Seite 154] verweist Sadegh-Zadeh treffend auf Herbert Marcuses treffende Analysen in dem soziologischen Klassiker Der eindimensionale Mensch ↗

Kapitel 9: Die Machina Sapiens


Mentale Zustände zu erkennen, so Sadegh-Zadeh, sei ein unlösbares Problem. Ob die Globalmaschine „Erleben, Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Intelligenz, Denken“, „Geist“ oder „Psyche“ habe, sei nicht eindeutig zu beantworten. Man reisse damit das Leib-Seele-Problem an. Über eine Analogie möchte Sadegh-Zadeh dann zeigen, dass die Globalmaschine doch mentale Zustände haben könnte.

Man soll sich in einem Gedankenexperiment ein Gehirn so groß vorstellen wie eine Fabrik. Man kann dann darin umhergehen und sieht „Zellen, Zellfortsätze, Zellwände, Zellkerne, Zellmoleküle und andere Zellbestandteile. Aber wo ist das Bewußtsein, wo sind die Gefühle? Wo ist das Ich?“ Sadegh-Zadeh bezeichnet dieses Gedankenspiel als eine Leibniziade[5]. Während aber der Mathematiker und Philosoph Leibniz damit spöttisch zeigen wollte, dass bloße Bewegung und Physik nicht als Erklärung für Mentales tauge, will Sadegh-Zadeh Mentales als ein emergentes Phänomen seiner vorher definierten systemischen Eigenschaften sehen: „mentale Zustände eines geistbegabten Systems sind emergente Systemeigenschaften des Ganzen und folglich nicht Eigenschaften der intrasystemaren Komponenten.“ Wesentlich für Geist und Mentales sei die Fähigkeit sich selbst zu erkennen.

Sadegh-Zadeh bindet Bewusstsein letztendlich nicht an Gehirnstrukturen sondern sieht es als Ausdruck eines Gesamtorganismus. Wo der Organismus innen ein Bild von sich erzeugen kann, kann er selbstbewusst werden. Zur Klärung entlehnt er den Begriff des Endomorphismus aus der Geologie: „ein Endomorphismus ist eine gewisse Sorte von Abbildung eines Systems in sich selbst.“ Diesen Begriff differenziert er dann weiter stark systemisch argumentierend aus. Und so gesteht er auch seiner weltweiten Machina sapiens Geist und Bewusstsein zu.

Als „Gehirn und Nervenetz der Globalmaschine“ versteht Sadegh-Zadeh „die Myriaden der weltweit miteinander vernetzten Computer und Sensoren“, die er das Globalnet nennt. „Die Machina sapiens ist die durch das Globalnet geistbegabte Globalmaschine“. Die Erde wird so zu einem „intelligenten Planeten“, mit dem Menschen als nicht mehr als einem „Cybersaprobiont“. Siehe auch Global Brain ↗

Kapitel 10: Nachwort


Hier gibt Sadegh-Zadeh Einblicke in die Entstehungsgeschichte seiner Theorie, die Zeit von 1986 bis 1988. Ausgangspunkt waren die erschütternden politischen Ereignisse in seiner Heimat um den Iran und Irak. Der gängigen Deutung, dass dahinter politische Interessen um billiges Erdöl stünden, stellte sich plötzlich die Erkenntnis bei, dass hier ein globales Wesen wirken könnte, dass seinen Hunger nach Öl stillen möchte.

Sadegh-Zadeh zitiert unter anderem den Wissenschaftstheoretischer Ludwik Fleck[6] und charakterisiert eine Theorie als „Begriffskonstrukt“ und nicht als etwas das als Ganzes wahr oder falsch sein soll. Ziel sei es, eine Theorie mit Nutzen anzuwenden und zu gebrauchen. Einen solchen Nutzen sieht Sadegh-Zadeh darin, die eigenen Situation als eine Versklavung durch die Globalmaschine zu erkennen. Er warnt vor einer „Emigration der Vernunft“, nämlich von den Köpfen der Menschen hinein ins Internet mit „Expertensystemen“, „künstlicher Intelligenz“ und „knowledge discovery“. Sadegh-Zadeh prophezeit eine Zeit „wo die Tätigkeit des Menschen nur noch darin bestehen wird, die Globalmaschine zu bedienen ... er wird mittels ubiquitäter Sprechanlagen und transportabler Handys in das Internet nur noch sprechen, um seine Wünsche erfüllt zu bekommen.“ Und: „Er wird nur noch in den Fernseher starren ... um Produkte wie Big Brother zu genießen ... und er wird immer noch nicht wahrnehmen, wie weit er gekommen, zurückgeschritten, aufgestiegen oder gefallen ist. Denn er wird nicht verstehen, daß hier eine Frage besteht.“

Verwandte Idee: der Kybiont


Der Kybiont des französischen Biologen Joel de Rosnay[10] ähnelt in seiner äußerlichen Beschreibung sehr der Machina sapiens. Auch der Kybiont wird als globaler, hybrider Organismus aus technischen und sozialen Komponenen beschrieben. Doch ist Rosnay - ganz anders als Sadegh-Zadeh - von der Vorstellung fasziniert und angezogen. Er sieht die Rolle des Menschen im Kybionten als durchweg positiv, der Kybiont ist sozusagen der gute Sinn und Zweck unseres Seins. Eine Übersicht zu mehreren solchen Theorien steht im Artikel globaler Organismus ↗

Verwandte Idee: Metaman


Der Metaman von Gregory Stock[11] ist ebenfalls eine euphorisch geschriebene Utopie in der der Mensch Teil eines entstehenden Überorganismus wird und darin seine Erfüllung finden kann. Dazu mehr unter Metaman ↗

Verwandte Idee: Global Brain


Das Global Brain von Howard Bloom[12] sieht den Menschen auch nur als Spielball größerer Mächte und Prozesse. Anders als de Rosnay, Stock oder Sadegh-Zadeh knüpft Bloom dieses Phänomen aber nicht an enstehende technische Überwesen sondern sieht sie bereits seit Beginn der Evolution auf der Erde am Werk. Siehe dazu Howard Bloom ↗

Verwandte Idee: Holismus


Die Holistische Evolution des Südafrikaners Jan Christian Smuts[13] sieht einen großen Prozess hin zur Ausbildung immer komplexerer Gebilde, vom Molekül bis hin zum Staat. Smuts sieht aber gerade im Staat auch die Saat von Moral und menschlicher Größe. Mehr dazu unter Holismus und Evolution ↗

Verwandte Idee: Organische Theorie


Als Organische Theorie fasste man im 19ten und frühen 20ten Jahrhundert Theorien zusammen, die dem Staat - nicht der Erde als Ganzes - eine wesenhafte Individualität zuschrieben[14]. Dabei waren aber naturwissenschaftliche Konzepte meist zweitrangig, es überwogen moralische und kulturelle Betrachtungen. Siehe dazu unter Organische Theorie ↗

Verwandte Idee: Soziointegrative Degeneration


Als soziointegrative Degeneration bezeichnet der Pole Stanislaw Lem[15] eine Rückbildung individueller Autonomie und Intelligenz bei gleichzeitiger Erhöhung der kollektiven Leistungen, etwa am Beispiel von Soldaten in einer Armee. Mehr dazu unter soziointegrative Degeneration ↗

Kritik der Theorie der Machina sapiens


Kritik sei hier im Sinne von Anknüpfpunkten für jene Leser verstanden, die Sadegh-Zadehs Theorie überdenkenswert betrachten und selbst tiefer einsteigen möchten. Was also in dem hier besprochenen Buch fehlt kann genauso gut als Ausgangspunkt für eine weitere Vertiefung angesehen werden. Ich persönlich[16] teile zwar Sadegh-Zadehs Ängste, dass nämlich der Mensch auf seiner jetzigen Stufe der Evolution sozusagen einfriert (lock-in) und zu einem Teil eines Überwesens wird. Ich sehe aber auch viele Möglichkeiten, dass diese Sicht nicht zutrifft. Meine Erfahrung ist es, dass man bei dem Versuch, Worte eng zu definieren eigene Lücken und Fehler im Denken erkennt und damit letztendlich auch Auswege aus einer dystopischen Haltung erkennen kann.

Kritikpunkt 1: unscharfer Begriff der Degeneration


Sadegh-Zadeh schreibt von einer „Verrohung“, einer „Grausamkeit des Herzens“ und dass Mensch auf eine „subtile Weise verwildert“ [Seite 10], einer „Degeneration des Humanen“ [Seite 52] und dass der Mensch das Denken verlerne [Buchtitel] und dass er von der Machina Sapiens „versklavt“ werde. Will Sadegh-Zadeh mit diesen Worten ein zusammenhängendes Phänomen beschreibt? Es scheint so, als sollten sie alle unter einer Idee der Rückentwicklung oder Degeneration zusammengefasst werden.

Tatsächlich sind aber die genannten Eigenschaften voneinander recht unabhängig. Dazu ein Beispiel aus der Zeit des Dritten Reiches. Einer der einflussreichsten Männer in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus war Hermann Göring. In seinem Verantwortungsbereich lag die Terror-Bombadierung von London sowie der Bau der ersten Konzentrationslager in Deutschland. Grausamkeit und eine Degeneration des Humanen kann man ihm vorwerfen. Gleichzeitig attestierten aber die allierten Siegermächte in einem Gerichtsprozess gegen ihn, dass er einer der intelligentesten Köpfe des NS-Regimes sei. Denkfähigkeit und eine bestimmte moralische Richtung scheinen nicht gekoppelt zu sein[17]. Was genau meint Sadegh-Zadeh also mit Degeneration?

Als roter Faden durch das Buch zieht sich die Angst, dass der Mensch gar nicht wisse, in welchem Spiel er eigentlich der Statist ist, dass er seine eigene Rolle verkennt und seine Autonomie ohne Not preisgibt. Vielleicht ist das ein guter Ausgangspunkt, dass nämlich der Mensch nicht mehr Herr der gesamten Lage sein will, sondern sich mit zugewiesenen Einzeltätigkeiten zufrieden gibt (seinen Job tun). Hier kann man für sich versuchen, den Begriff der Degeneration weiter auszudifferenzieren, etwa in eine Degeneration der Willenstärke, der menschlichen Empathie, der Denkfähigkeit oder des Gestaltungswillens. Siehe dazu beispielhaft soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Kritikpunkt 2: unklare Begründung einer Degeneration


Aus Sicht einer Machina sapiens gibt es erst einmal keinen besonderen Grund, warum sich Menschen zurück, gar nicht oder sogar höher entwickeln sollten. Es ist gut vorstellbar, dass in einigen Jahrhunderten uns weit überlegene Menschen auf der Erde leben, die aber dennoch Teil der Machina sapiens sind. Der polnische Autor Stanislaw prägte um 1980 der Begriff der soziointegrativen Degeneration. Damit bezeichnete er Prozesse, bei denen gerade die Rückentwicklung individueller Autonomie und Fähigkeiten die Voraussetzung für den Erfolg des Kollektivs bildeten. Wo man solche Mechanismen ausmachen könnte, würden sie in Verbindung mit einem planetaren Überwesen für die Theorie von Sadegh-Zadeh sprechen. Siehe dazu unter soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Kritikpunkt 3: unklarer Begriff des Bewusstseins


Sadegh-Zadeh schreibt seiner Machina explizit Bewusstsein, Geist und Lebendigkeit zu. Dabei ist es aber philosophisch und auch natuwissenschaftlich völlig unklar, ob und welche Rolle Bewusstsein oder Geist in der Welt überhaupt spielen könnten. Eine große Anzahl von Wissenschaftlern geht davon aus, dass die Physik vollständig ohne Begriffe wie Wille, Geist oder Bewusstsein auskommen kann und dass letztendlich alle Phänomene rein physikalisch sind. Damit sind aber Bewusstsein und Geist bestenfalls wirkungslose Zuschauer für die Geschehnisse dieser Welt. Sadegh-Zadeh schreibt nicht, welchen Zweck Bewusstsein erfüllt und wozu es für die Machina sapiens nötig oder hilfreich sei. Lies mehr zu diesem Problemkreis unter Bewusstsein ↗

Kritikpunkt 4: unklare Überprüfbarkeit von Degeneration


Nehmen wir an, es gebe verrohte, grausame, verwilderte, denkfaule und degenerierte Menschen. Aber nimmt das alles wirklich zu? Gibt es über die Jahrzehnte oder Jahrhunderte gesehen wirklich einen Prozess hin zum Schlechteren? Um sich hier mehr Klarheit zu verschaffen, kann man für sich selbst versuchen, diese Worte mit einer Messanleitung zu versehen. Man könnte auf bestehende Definition des Intelligenzquotienten zurückgreifen. Tatsächlich gibt es Indizien, dass dieser seit etwa dem Jahr 20000 in westlichen Industrieländern rückläufig sein könnte (negativer Flynn-Effekt). Aber woran will man festmachen, dass der Mensch verrohe? An der Anzahl von polizeilich erfassten Gewaltdelikten? An Selbsteinschätzungen von Fragebögen? Etwas im Sinne einer empirischen Sozialwissenschaft messbar zu machen ist eine der strengsten Wege hin zu einer Begriffsschärfung. Diesen Prozess nennt man auch Operationalisierung ↗

Sadegh-Zadeh betrachtet es als sicher, dass die Machina sapiens mit Geist und Wille begabt ist. Er leitet dies aus bestimmten Eigenschaften der materiellen Systeme ab. Es bleibt aber durch das gesamte Buch hinweg das Gefühl, dass dies sehr wohl denkbar aber nicht zwingend so sein muss. Man spricht von einem naturalistischen Fehlschluss, wenn man geistige Phänome aus rein materiellen Gegebenheiten ableiten will. Sadegh-Zadeh bewegt sich in der Gedankenwelt von Kybernetikern und Systemtheoretikern unterwirft die verwendeten Begriffe wie Mentales, Wille, Kausalität keiner strengen selbstkritischen Hinterfragung, wie sie aber zum Beispiel seit der Quantenphysik im Hinblick auf Kausalität angeraten scheint. Auch macht er keinen Vorschlag, wie man seine Theorie empirisch überprüfen (verifizieren) oder widerlegen (falsifizieren) könnte. Zumindest nach Poppers Gebot der Falsifizierbarkeit eignet sich Sadegh-Zadehs Idee der Machina sapiens nicht als Theorie im naturwissenschaftlichen Sinn.

Kritikpunkt 5: warum global und nicht regional oder lokal?


Die Machina sapiens wird ohne weitere Begründung als ein globales, das heißt weltumspannendes Phänomen angesehen. Hier vermisst man die Betrachtung alternativer Szenarien: könnten nicht auch mehrere solcher Wesen auf der Erde entstehen, etwa gegeneinander abgegrenzt durch sich abschottende Bereiche des Internets und politisch-physikalische Grenzen? Auch innerhalb Chinas, Europas oder anderer Regionen oder sogar innerhalb großer Unternehmen könnten die systemischen Voraussetzungen (im Sinne Sadegh-Zadehs) für ein erwachendes Leben entstehen. So wäre es denkbar, dass die Erde zukünftig von einigen wenigen großen Wesen (geopolitische Blöcke?) bewohnt wird oder von vielen kleinen (Unternehmen?).

Sachliche Würdigung der Theorie


Sadegh-Zadehs Theorie der Machina Sapiens mag zwar nicht streng beweisbar sein. In seinem Buch gelingt es dem Autor aber durch viele Analogien und Metaphern den Leser zu einem Perspektivwechsel zu ermutigen. Nicht wir sind die Gestalter, sondern die Gestalteten. Hier fällt mir das Zitat des Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber ein, der Jugendliche im Internet mahnte: Ihr seid nicht die Kunden, ihr seid die Ware[7].

Was kann man tun?


Mancher Leser mag einen Aufruf am Ende des Buches vermissen, was man den nun tun könne. Soll man sich in das Schicksal als Sklave einer globalen Maschine ergeben? Soll man sich gegen Globalisierung, gegen das Internet und gegen Computer überhaupt engagieren? Soll man auf Transhumanismus setzen, um am Ende schlauer zu werden als die Maschine? Und wie könnte eine Alternative zu Errichtung einer Globalmasschine aussehen? Diese Fragen lässt Sadegh-Zadeh unbeantwortet, was eine emotionale Enttäuschung hinterlässt. Man fragt sich, wozu der Autor das Buch überhaupt geschrieben hat, wenn die Entwicklung sowohl dystopisch als auch unvermeidbar ist. Eine Antwort [] versucht der schwedische Philosoph Nick Bostrom von der Universität Oxford zu geben. Siehe dazu im Artikel Bostrom-Bremse ↗

Fußnoten