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Kybiont


Weltwesen


Definition


Der Kybiont ist ein hypothetischer planetarer Organismus aus sozialen, biologischen und maschinellen Komponenten, also ein technosoziales Überwesen. Der französische Biologe und Zukunftsforscher Joel de Rosnay veröffentlichte 1997 ein Buch[1], in dem er die Entstehung eines solchen globalen Superwesens, des Kybionten voraussagte. Innerhalb des Kybionten wird der Mensch seine Erfüllung als symbiotische Lebensform finden. Diese Vision ist hier ausführlich vorgestellt.

Eigenschaften des Kybionten


Rosnay beschreibt in der Einleitung seines Buches[1] die Entstehung von einem "Makro-Leben im planetaren Maßstab, das mit der menschlichen Gattung eine Symbiose eingeht. Dieses zugleich biologische, mechanische und elektronische hybride Leben" entstehe zurzeit vor unseren Augen. Als Zellen dieses neuen Wesens tragen wir, so Rosnay, zu "seinem Stoffwechsel, seinem Kreislauf, seinem Nervensystem bei", welche bestehen aus "Ökonomien, Märkte, Straßen, Kommunikationsnetz oder Datenautobahnen". Rosnay nennt diese Strukturen "Lebensorgane und -systeme eines entstehenden Superorganismus". Er schlägt vor, "diesen planetaren Organismus Kybiont zu taufen, ein Neologismus, den [er] ausgehend von den Begriffen Kybernetik und Biologie gebildet [hat]." Menschen sind "Zellen" oder "Neuronen" in diesem "Superorganismus". Im Kapitel "Die Seele des Kybionten" charakterisiert Rosnay das Überwesen als "planetares Hirn" oder "denkendes Netz", bestehend aus "Synapsen" und "Neuronen", die in Analogie zu einem neuronalen Netz lernfähig sind (Hebbsche Regel). Es entsteht "ein reflektiertes globales Bewußtsein", ein "selbst bewußtes Bewußtsein".

Zwanghaftigkeit der Abläufe


Bereits 1970 hatte der deutsche Biologie und Tauchpionier Hans Hass eine ähnliche Theorie aufgestellt[4]. Auch Hass verband ökonomische Strukturen, Menschen und andere Lebensformen zu einem hypothetischen Überwesen, das er Energon nennt. Beide Autoren betrachten ihre Konzepte als zwangsläufig. So schreibt Rosnay in der Einleitung[1]: "Es gibt nämlich Naturprinzipien, die sehr viel stärker sind als diejenigen, von denen unsere Gesellschaften geleitet werden. Prinzipien [...] die zur Entstehung der Moleküle, Zellen, Insekten oder Menschen führen". Diesen Gedanken drückt Hass im Kapitel II seines Buch[4] aus: "die Strukturen, zu denen wir gelangen, sind weitgehend vorgezeichnet. Sie werden von anderswo diktiert. Die gesamte menschliche Machtentfaltung ist Bestandteil eines größeren Vorganges, der vom ersten Augenblick an nie Herr seiner selbst war." Siehe auch Energon ↗

Die Theorie als Panpsychismus


Rosnays Kybiont ist als Träger eines selbst bewussten Bewusstseins ein psychisches Geschöpf. Die Vorstellung, dass auch nicht eindeutig lebende Wesen wie Menschen oder Tiere ein psychisches Leben haben könnten nennt man Panpsychismus. Rosnay schreibt dem Kybionten explizit ein psychisches Innenleben zu, lässt aber offen, wie dies empirisch überprüft werden könnte, welchen Einfluss das Psychische auf materielle Einflüsse hat oder wie die Psyche des Kybionten durch die materiellen Abläufe seiner Organe beenflusst wird. Siehe auch unter Panpsychismus ↗

Die Theorie als Holismus


Der südafrikanische Philosoph und Staatsman Jan Christian Smuts prägte das Wort Holismus, die Idee, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile[3]. Smuts sah in der Welt einen Prozess hin zu immer mehr Komplexität: "Material structure, e.g. a chemical compound ⭢ Functional structure in living bodies ⭢ Animals, which exhibit a degree of central control that is primarily implicit and unconscious ⭢ Personality, characterized as conscious central control ⭢ States and similar group organizations characterized by central control that involve many people". Rosnay denkt ähnlich und schreibt in der Einleitung seines Buches[1] dazu: "Die Natur wendet zur Erzeugung von beständig komplex werdenen Strukturen immer die gleichen Verbindungsregeln an: durch die erneute Verknüpfung von elementaren Modulen werden diese zu Bausteinen höherer Entwicklungsstufen. Elementarteilchen, Atome, Moleküle, Zellen, mehrzellige Organismen, Familien, Stämme, Bevölkerungen, Unternehmen, Städte, Gesellschaften, Nationen und Ökosysteme [...] Siehe auch Holismus und Evolution ↗

Der Kybiont als eine künstliche Intelligenz


Der Kybiont ist eine natürlich enstehende Intelligenz insofern er als Ergebnis naturhaft zwangsläufiger Prozesse gesehen wird. Er ist eine künstliche Intelligenz in dem Maße, in dem der Mensch als bewusster oder unbewusster Erschaffer oder zumindest Miterschaffer dieser Intelligenz angesehen wird. Rosnay schreibt seinem Kybionten auch eine Psyche zu, womit dieser dann auch unter die Definitionen einer starken Intelligenz fällt. Siehe auch künstliche Intelligenz ↗

Der Homo Symbioticus als Utopie


Der Mensch lebt innerhalb des Kybionten als Zelle, als Neuron oder intelligenter Agent. Unter der Überschrift "Der Weg zum symbiotischen Menschen" beschreibt Rosnay ein Zusammenwachsen der "Biosphäre" mit der "Technosphäre". Dabei wird der Mensch "zu einem in das von ihm selbst geschaffene Nervensystem integrierte Neuron der Erde". Rosnay hält diese Tendenz als wünschenswert. Im Vorwort zum Homo Symbioticus heißt es: "Man könnte es eher als eine zu verwirklichende Utopie denn als ein Zukunftsszenarium betrachten. Eine Utopie, deren Aufgabe darin besteht, unserem alltäglichen Tun einen Sinn zu geben, um gemeinsam die Welt von morgen bauen." Diese Bewertung Rosnays kann verwundern. Rosnay beschreibt die Entwicklung hin zum planetaren Kymbionten an anderen Stellen im Buch als einen nahezu naturnotwendigen Weltprozess. Dem Menschen werden damit aber Freiwilligkeit der Mitwirkung und sogar weitgehend auch die Gestaltungsfreiheit in der Ausprägung genommen. So bleibt vom Bild eines bestimmenden Baumeisters eher das Bild eines ausführenden (Zwangs)arbeiters übrig. Eine ähnliche Theorie wie die des Kybionten aber klar pessimistisch gedeutet ist die der Machina Sapiens ↗

Kritik des Begriffs Kybiont


Metaman, Machina Sapiens, Global Brain, Gaia, Energon: seit etwa 1980 sind eine Reihe von Neologismen geschaffen worden, um einen planetaren Organismus in seiner Individualität zu bezeichnen. Kybiont ist eines dieser Worte. Die erste Silbe des Wortes steht für Kybernetik, die Wissenschaft der Steuerung biologischer, technischer und sozialer Systeme. Die Wahl ist treffend, sie deutet an, dass der beschriebene Überorganismus aus biologischen, technischen und sozialen Komponenten und Mechanismen besteht. Irreführend kann die zweite Silbe, Biont, sein: das Wort Biont ist innerhalb einer bereits vorher entwickelten biologischen Theorie besetzt und bezeichnet ein zelluläres Wesen innerhalb eines Holobionten. Ein Holobiont ist in der Theorie definiert als ein eukaryotischer Organismus, also ein Organismus aus Zellen mit Zellkern. Innerhalb dessen ist ein Biont eine Zelle mit Kern, eine Bakterie oder ein Virus. Nicht mit eingeschlossen in den Begriff sind maschinelle Komponenten, die aber im Wort Kybiont ausdrücklich mitgedacht werden sollen. Siehe dazu Holobiont ↗

Kritik der Wissenschaftlichkeit


Der Philosoph Michael Hampe (geboren 1961) sah vor allem de Rosnays vage Begrifflichkeit kritisch. 1997 schrieb er in der Neuen Züricher Zeitung[5]: "Joël de Rosnay [sieht] in seinem Werk „Homo symbioticus“ die im Internet kommunizierende Menschen bereits als Bestandteile eines entstehenden „Kybionten“, einer „höheren Instanz“ (…). Da wird die „Zukunftsforschung“ zur Science-fiction. (…) Philosophisch sieht das alles wenig plausibel und begrifflich vage aus. Es bleibt unklar, wo hier noch methodisch geleitete Erfahrung und kontrollierte Terminologie am Werke sind und wo sich lediglich eine ursprünglich allein der Veranschaulichung dienende Analogie verselbständigt hat." Diese Einschätzung trifft zu. Worte wie Bewusstsein oder Leben beispielsweise sind philosophisch sehr schwer definierbar, wurden aber von de Rosnay ohne scharfe Definition auf den Kybionten angewandt. De Rosnay machte auch keinen Vorschlag, wie seine Theorie empirisch durch Beobachtung oder Experimente überprüft werden könnte. Gerade die experimentielle Kontrolle ist aber ein wesentliches Gültigkeitskriterium der (Natur)Wissenschaften. Siehe zu diesem Gedanken auch den Artikel zum Empirismus ↗

Würdigung der Kybionten-Metapher


Rosnays Entwurf des Kybionten wurde verschiedentlich als unwissenschenschaftlich und begrifflich unpräzise abgewertet. Die Kritik fehlender Wissenschaftlichkeit muss akzeptiert werden, da Rosnay keine Vorschläge einer empirischen Überprüfbarkeit seiner Theorien macht. Auch der Vorwurf begrifflicher Unschärfe ist berechtigt. Rosnay nutzt unkritisch Worte wie Intelligenz, Leben, Information und Bewusstsein, vier Worte die zu den am schwierigsten definierbaren Worten überhaupt zählen. Der Wert der Metapher vom Kybionten liegt im Wechsel der Sichtweise, einem Perspektivwechsel also. Man muss nicht - kann aber - Verflechtungen von Maschinen und Menschen als Symbiose betrachten. Man muss nicht - aber kann - die enge Verzahnung von Bio- und Technosphäre als organisches Gewebe ansehen. Man muss nicht - aber kann - scheinbar unbelebten Strukturen Bewusstsein zuschreiben. Rosnays Buch tut dies auf viele sinnfällige Weise. Ein praktischer Nutzen kann daraus entstehen, wenn dem Pespektivwechsel die Formulierung weiterführenden Forschungsfragen oder technologischer Anwenden folgt. Das soll hier abschließend beispielhaft angedeutet werden.

Sehen alle Autoren die Entwicklung so euphorisch?


Nein. Ähnlich naturwissenschaftlich inspiriert wie Joel de Rosnay, arbeitete auch der Mediziner Kazem Sadegh-Zadeh die Vision einer Verschmelzung von Menschen und Maschinen in einem globalen Überwesen aus. Doch so euphorisch Rosnay seinen Kybionten sieht, so düster und dystopisch zeichnet Sadegh-Zadeh seine Machina sapiens. Der Mensch wird versklavt, degeneriert und verliert völlig die Herrschaft über sein eigenes Schicksal. Lies mehr zu dieser Dystopie unter Machina sapiens ↗

Beispielhafte Fortführung der Idee


Im Kapitel "Neuronen der Erde" verwendet Rosnay in seinem Buch[1] Begriffe wie Neuron, Synapse und Gehirn. Mit der Hebbschen Regel zitiert er einen Algorithmus zur neuronalen Speicherung von Information in einem Gehirn. In einem eigenen Kapitel über die "Neuen Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine" definiert Rosnay eine Synapse als ein "Verbindungsstück zwischen zwei Welten, derjenigen der Moleküle und derjenigen der Ionen." Es folgt eine kurze Benennung der chemischen Vorgänge. Nach Rosnay ist dann jede Schnittstelle zwischen den biologischen und der elektronischen Welt eine Synapse: Tastaturen, Knöpfe, Bildschirme, Spracherkennung und so weiter. Es fehlt in diesem (umfangreichen) Kapitel aber eine Erwähnung neuronaler Lernmechanismen wie sie aus der Theorie der neuronalen Netzwerke bekannt sind, etwa Backpropagation. Ebenfalls unerwähnt bleibt die Idee der synaptischen Plastizität, also der Fähigkeit von Schnittstellen zwischen Neuronen, die Wahrscheinlichkeiten zu ändern, mit denen Signale dort übertragen werden. Dieser Blinde Fleck bezüglich algorithmisierbarer Lernmechanismen scheint auch im Kapitel "Forschung im Netz und fraktale Produktion" gewirkt zu haben: Rosnay skizziert dort, dass Forschungsgruppen oft wie "Neuronennetze" organsiert sind, erwähnt aber wieder keine Mechanismen neuronalen Lernens. An dieser Stelle könnte die Metapher des Kybionten hin zu einer empirisch überprüfbaren These weiterentwickelt werden: eine gezielte Gestaltung einer Organisation aus Menschen und Maschinen, die Mechanismen neuronalen Lernens verwendet und bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit quantitativ bewertet werden kann. Lies mehr dazu unter neuronale Organisation ↗

Fußnoten