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Konsumismus


Definitionen


Basiswissen


Als Konsumismus bezeichnet man eine Lebenseinstellung oder Theorie, die es für gut heißt, Bedürfnisse vorrangig durch Konsum (Kaufakte) zu befriedigen. Die Nachsilbe (Suffix) ismus deutet dabei oft an, dass der Autor eine gewisse Skepis hat, ob die Versprechen des Konsums gehalten werden können. Als Theorie der Wirtschaftswissenschaften steht Konsumismus für den Gedanken, dass eine Förderung individuellen Konsums zu mehr Wachstum führt. Beide Aspekte sind hier näher erläutert.

Konsum als Endverbrauch


Konsum wird in den Wirtschaftswissenschaften abgegrenzt von Investitionen. Während man bei einer Investition Güter (z. B. Geld) in der Hoffnung einsetzt, am Ende mehr Güter daraus machen zu können, werden beim Konsum Güter endgültig vernichtet, ist also der "Verbrauch materieller oder immaterieller Güter durch Letztverwender"[4][8] und ohne "Erwerbszweck"[4]. Das lateinische Wort consumo heißt so viel wie verzehren oder verbrauchen. Wenn man Getreide zu Brot backt und das Brot isst, ist der ursprüngliche Wert des Getreides vernichtet. Wenn man dasselbe Getreide als Saatgut nutzt, kann man daraus am Ende mehr Wert machen, es also investieren. Siehe mehr zu dieser Unterscheidung im Artikel Konsum ↗

Konsumismus als Lebenshaltung


Konsumismus geht über den reinen Konsum hinaus und bezeichnet als "Ismus" eher eine Lebenshaltung, eine Weltsicht, eine mehr oder minder bewusste oder unbewusste Praxis des Lebens. Verschiedene Definitionen von Konsumismus sind sich darin einig, dass die Befriedigung von Bedürfnissen im Wesentlichen über Konsum gesucht wird[8], oft in übersteigerter Form[3].

Mathematik-Lernen als Konsumismus?


Das Wort Konsumismus enthält meist einen Unterton an Kritik, dazu ein Beispiel: angenommen, man habe den Wunsch, mathematische Gleichungen schnell und sicher lösen zu können. Statt sich mühevoll in ein bewährtes Lehrwerk hineinzuvertiefen, kauft man bei aufkommenden Widrigkeiten direkt neue Bücher, sucht neue Apps, besucht ständig wechselnde Webseiten und so weiter. Der Glaube ist hier, dass man nur das richtige Buch oder die richtige Lernmethode finden müsse, dann wird es schon klappen. Der Erfolg ist in diesem Denken weniger eine Frucht des Fleißes als vielmehr der richtigen Kaufentscheidung. Diese Grundhaltung nennt man - mit einem Unterton an Skepsis - Konsumismus.

Weitere Beispiele eines skeptisch gesehenen Konsumismus



Konsumismus aus soziologisch-, psychologischer Sicht


Es gehört zur Grunderfahrung des Lebens, dass unablässig Bedürfnisse oder Wünsche - im weitesten Sinne - in uns aufkeimen: der Wunsch Hunger und Durst zu befriedigen, der Wunsch nach Wissen, Geborgenheit, Freundschaft, Anerkennung, Sinn und viele mehr. Von Konsumismus spricht man, wenn zur Befriedigung dieser Wünsche stark vorrangig Kaufhandlungen genutzt werden. Tritt die reine Kaufhandlung in den Vordergrund, wird der Konsum zu einem "übersteigerten Bedürfnis"[3], spricht man von Kaufzwang ↗

Konsumismus aus wirtschaftlicher Sicht


Konsumismus (englisch consumerism) steht aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften für die Theorie, dass individuelle Konsumausgaben der wesentliche Antriebsmotor wirtschaftichen Wachstums sind. Der individuelle Konsum eignet sich damit auch als Maß für die Produktivität einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung[1]. Um eine Wirtschaft anzukurbeln, ist es daher folgerichtigerweise zweckvoll, den individuellen Konsum zu fördern. Siehe auch Konjunktur ↗

Konsumismus als Selbstversklavung


Wer als Konsument einen rund-um-die-Uhr 24h-Service von einer Pizzeria verlangt, und gleichzeitig in einer Tankstelle arbeitet, hat die Möglichkeit, zwei Seiten der Medaille Konsumismus zu erfahren: als Konsument genießt man die rundum-Verfügbarkeit von Produkten, als Arbeitnehmer leidet man unter schwer planbaren Arbeitszeiten, möglicherweise mit wechselnden Schichten und zestörten Wochenenden. Der ständige Leistungsdruck zu mehr Produktivität wird einerseits als Quelle von Stress beklagt, andererseits von anderen Personen indirekt ständig verlangt. Täter und Opfer sind hier dann oft dieselben Personen, sodass man im Blick auf die Menschen als Gruppe letztendlich von einer Selbstversklavung sprechen kann. Ein Ausdruck dieses Zwang hin zu ständig mehr Produktivität ist die sogenannte Entfremdung ↗

Konsumismus als Machtinstrument


Der Soziologe Herbert Marcuse sah im Konsumismus vor allem ein Werkzeug herrschender Mächte zur Unterdrückung[2] der Masse. Mit Hilfe sogenannter repressiver Bedürfnisse würden Menschen in den Konsum- und Produktionsapparat gezwungen, um dort nach den Regeln anderer zu funktionieren[2]. Siehe auch Marcuses Analyse der US-amerikanischen Konsumgesellschaft der 1950er Jahre Der eindimensionale Mensch ↗

Konsumismus als Scheinbefriedigung


Ein häufiger Vorwurf gegen den Konsumismus ist, dass Konsum Bedürfnisse nur scheinbar, oberflächlich und kurzfristig befriedigt[1], wenn überhaupt. Offensichtlich ist dies beim Konsum von Alkohol um drückende Alltagsprobleme, etwa Geldsorgen, zumindest vorübergehend vergessen zu können. Der kurzen gefühlten Entlastung gegenüber stehen durch den Konsum wachsende Probleme: der Kauf des Alkohols selbst kann Geldprobleme verschärfen, das Trinken von Alkohol die eigene Erwerbsfähigkeit vermindern oder sogar zu Depressionen führen. Weniger drastisch, aber dennoch typisch, ist die Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialer Anerkennung durch den Kauf teurer Markenartikel infolge von Gruppenzwang, um damit in der Gruppe anerkannt zu werden. Die Scheinhaftigkeit der Anerkennung ist entlarvt, wenn man sich die Artikel nicht mehr leisten kann und für die Gruppe dadurch uninteressant wird. Siehe auch Esoterik [als Konsum-Industrie] ↗

Konsumismus als kollektive Realitätsverweigerung?


Es ist die intensiv wahrgenommene Lebenserfahrung des Autoren hier, dass die Zeit von 1970 bis mindestens 2020 von einem realitätsfernen Konsumismus geprägt war. Nahrungsmittelhersteller wetteiferten in der Werbung über Jahrzehnte hinweg, noch cremigere Süßspeisen anbieten zu können. Reiseanbieter bauten Ferienanlagen in südlichen Ländern, in denen man sich als Urlauber abgeschottet von Land und Leuten ganz auf Essen, Trinken und Freizeitspaß reduzieren konnte. Autohersteller priesen schnellere, komfortablere und größere Premium-Versionen ihrer Modelle an. Und so fort. Das wäre kaum schlimm gewesen, hätte es vielleicht 10 % der Lebensenergie von Menschen und Firmen in Anspruch genommen. Tatsächlich aber drehte sich ein großer Teil von privaten Gesprächen fast ausschließlich um die Abenteuer und Erlebnisse aus der Welt des Konsums: wie war das Frühstücksbuffet im Urlaub auf Hawaii? Wo kann man einen Schrank gerade etwas billiger kaufen? Welcher Brandy schmeckt am besten? Der Konsums war in mit den Worten Marcuses totalitär. Gleichzeitig vermisste man bei den Geprächen, aber auch in Zeitungen und den Fernsehsendern, eine angemessene Wahrnehmung physikalischer, äußerer Realitäten: der demographische Wandel verbunden mit einem Schwund von Arbeitskräften wurde über Jahrzehnte völlig ausgeblendet, die materiellen Grundlagen des Wohlstandes, etwa Energie- und Rohstoffinfrastrukturen funktionierten unbewusst im Hintergrund. Das führte dazu, dass auch namhafte Politiker auf alle möglichen Krisen stets mit dem Reflex reagierten, den Konsum zu steigern (z. B. Abwrackprämie für Dieselautos 2009 oder der Tankrabatt im Jahr 2022), während gleichzeitig die Zerbröselungsprozesse im Fundament unseres Wohlstandsgebäubdes nahezu ungehört fortschritten. Gut dokumentieren lässt sich diese durch Konsum betäubte Realitätsblindheit an der massiven, jahrzehntelangen, kollektiven Verdrängung des Klimawandels. Siehe dazu auch Erderwärmung (Zitate) ↗

Konsumismus als Evolutionsmotor?


Ein wenig beachteter aber sehr produktiver Aspekt von Konsum ist die Aufrechterhaltung eines ständigen und hohen Selektionsdruckes im darwinistisch-evolutionären Sinn: stehen in einem Supermarkt zwei ähnliche Pudding-Packungen nebeneinander, so wird der Konsument sich oft für die etwas billigere Version entscheiden. In einer ausgeprägten Konsumgesellschaft in Verbindung mit einer Marktwirtschaft sind Unternehmen ständig gezwungen, Artikel mit definierter Qualität zu niedrigen Preisen und mit hoher Verfügbarkeit herzustellen. Um das erreichen zu können, müssen sie abstrakte und komplexe Fähigkeiten entwickeln: IT-Sicherheit, Lagerwirtschaft, Finanzplanung, Personalplanung, Logistik, Hygiene, Qualitätsmanagement und viele mehr. Diese Fähigkeiten stehen einer Gesellschaft dann aber auch jenseits der ursprünglichen Konsumakte zur Verfügung: eine Logistik-Kette für Tiefkühlfisch kann in einer Pandemie auch für Arzneimittel-Transporte verwendet werden. Eine leistungsstarke Flugzeug-Modell-Branche kann im Kriegsfall schnell auch kleine Drohnen zur Bekämpfung von Panzern liefern (Ukraine 2022). Und Baumärkte, die sich auf Wellness-Räume in Privathäusern verstehen, können leicht auch Sanitärbedarf für einen klimawandel-tauglichen Badumbau liefern. So gesehehen liegt der gesellschaftliche Nutzen des Konsumismus weniger auf der vordergründigen Befriedigung durch den Konsumakt selbst als in der Ausbildung einer sekundären organisationalen Intelligenz auf Seiten der Anbieter. Siehe dazu auch Evolutionsökonomik ↗

Askese als Gegenteil


Betrachtet man Konsumismus als den meist irreführenden Glauben, Konsumakte könnte uns glücklicher machen, so bietet sich als eine mögliche Alternative eine weitgehende Verweigerung des Konsums an. In der extremen Form bis hin zur Reduzierung der Kalorienaufnahme und bis hin zum Schlafen unter freiem Himmel spricht man von Askese. Religiös motivierte Askese versucht meistens die Bedürfnisse des Körpers im Sinne einer Übung auszuschalten um letztendlich auch die Tätigkeiten des Geistes durch den eigenen Willen in gewünschte Bahnen lenken zu können. Siehe dazu auch unter Askese ↗

Buddhismus als Gegenteil


Der Buddhismus versucht als Grundlebenshaltung die Fähigkeit zu entwickeln, Bedürfnissen nicht mehr zwanghaft nachgehen zu müssen. Anders als bei asketisch geneigten Praktiken akzeptiert der Buddhismus aber die körperlich-sinnlichen Freuden. Man soll sie genießen können, ohne sich aber von ihnen treiben zu lassen. Damit ist der Buddhismus technisch vereinbar mit einer Konsumgesellschaft, benötigt diese aber nicht. Siehe auch Buddhismus ↗

Nachhaltiger Konsum als Gegenteil


Fasst man Konsumismus verengt auf als ein selbstschädigendes, blindes und zwanghaftes Konsumverhalten, so befreit man sich vom Konsumismus, wenn eben das Schädigende, Blinde und Zwanghafte unterlassen wird, der Konsum an sich aber bleibt, nur intelligenter wird. Der Konsum wird gleichzeitig eingebettet in eine Lebenshaltung, in der Befriedigung auch aus anderen Quellen gespeist werden kann. Der Konsum wird dabei so angelegt wird, dass er ohne großen Schaden auch dauerhaft aufrecht erhalten werden kann. Im Bezug auf Strom und andere Energieformen kommt dies zum Beispiel zum Ausdruck in der Vision von einer nachhaltigen Energiewirtschaft. Siehe als Beispiel dazu unter Grüner Deal ↗

Investitionsorientierte Wirtschaftspolitik als Gegenteil


Versteht man unter Konsumismus die wirtschaftstheoretische Position, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vor allem durch eine Förderung von individuellem Konsum gefördert wird, dann ist das Gegenteil davon eine investitionsorientierte Wirtschaftspolitik. Würde man dem Konsumismus folgend etwa Verbrauchern Steuerentlastungen oder staatlich subventionierte Kaufprämien geben, so würde man einer investitionsorientierten Wirtschaftspolitik zufolge die Steuern von Firmen senken oder Sicherheits- und Umweltauflagen abschaffen. Siehe auch Investition ↗

Ausblick


Unbezweifelt ist die Tatsache, dass es Menschen gibt, die zwar einen großen Teil ihres Lebensenergie auf Konsum verwenden, damit aber dennoch nicht glücklich werden. Das zeigt zunächst zur, dass Konsum nicht immer zuverlässig zu Glücklichkeit führt. Auch unbezweifelt ist, dass ein unreflektierter Konsum ganze Gesellschaften zumindest kurzfristig in Sackgassen führen kann, wie man etwa im Zusammenhang mit dem Klimawandel sehen kann. Wer aber den Konsumismus in Gänze verteufelt, muss klar ausformulieren, was an einem intelligenten und reflektiertem Konsum falsch sein soll und auch machbare Alternativen aufzeigen. Dieses Unterfangen aber trägt den Charakter einer Utopie ↗

Leseempfehlungen



Fußnoten