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Kompartmentalisierung (Didaktik)


Beispiele


Definition


Als Kompartmentalisierung bezeichnet man in der Didaktik eine Abspeicherung von Wissensinhalten in verschiedenen mentalen Bereichen ohne dass bei mögliche Verbindungen genutzt werden. Dazu stehen hier einige Beispiele aus der Praxis einer Lernwerkstatt in Aachen sowie auch ein mögliches Gegenmittel.

Logische Kompartentalisierung: keine Verbindung


Hier speichern Personen Wissensstücke getrennt ab, ohne dass sie selbst logische oder faktische Bezüge nutzen, um etwaige Unstimmtigkeiten oder Gemeinsamken zu erkennen. Dazu ein Beispiel: in einem Versuch wird ein Rad mehrmals hintereinander an einem Maßband entlang abgerollt. Es sollte dann eine Funktionsgleichung gefunden werden, die eine Beziehung herstellt zwischen der Anzahl der Umdrehungen und der dabei insgesamt zurückgelegten Strecke in Zentimetern. Das Rad solle dabei immer bei der Position y=0 cm (Zentimeter) starten. Eine korrekte solche Funktionsgleichung war f(x)=12,5x. Dann sollte das Rad von einer anderen Position, zum Beispiel bei y=4 cm gestartet werden. Die logisch korrekte Funktionsgleichung für dasselbe Rad wäre dann f(x)=12,5x+4. Eine (gute) Schülerin aus der Oberstufe hatte für die zweite Gleichung jedoch f(x)=13x+4 heraus. Sie merkte zunächst nicht, dass hier ein innderer Widerspruch aufgetreten war. Dasselbe Rad kann nicht einmal pro Umdrehung 12,5 und ein anderes Mal 13 cm zurücklegen. Sie kommentierte von sich aus dann recht klar, dass sie Mathematik-Aufgaben bisher nicht hinterfragt habe und dass mit der Änderung der Startpositin eine für sie völlig neue und eigenständige Aufgabenstellung entstanden war. Das interessante hier ist, dass sie die Logik sofort erkannte und auch in Worte fassen konnte, aber ein vernetzendes Denken ihr in der Schule bisher nicht beigebracht worden war.

Thematische Kompartmentalisierung: jedes Fach für sich


In den 2000er Jahren wollte ich als Mathematik-Lehrer unter Kollegen anregen, dass kleine Themen wie etwa Maßstäbe über verschiedene Fächer hinweg abgestimmt vermittelt werden. Das Wort kam zum Beispiel im Kunstunterricht (Basteln), der Physik (Optik), der Erdkunde (Landkarten) und der Mathematik (Strahlensätze) vor. Jeder Lehrer verwendete in seinem eigenen Fach eigene Formelzeichen, Rechenwege und Begriffe. Es gelang mir nicht, dauerhaft eine Abstimmung herbeizuführen. Ein wesentliches Argument war, dass es für die Schüler keinen Vorteil brächte oder sogar verwirrend sein könnte. So erlebte ich dann etwa auch, dass Schüler in Mathematik Aufgaben mit fallenden Gegenständen und Bewegungsgleichungen ablehnten, weil das "Physik" sei. Diese Beobachtung mache ich auch durchgängig in der Arbeit in der Lernwerkstatt Mathematik in Aachen seit 2010. Hier finden es manche Schüler befremdlich, wenn ich Erklärungen in vollständigen Sätzen oder in Form kleiner Aufsätze einfordere. Das sei "Deutsch" und keine "Mathe". Ein großer Nachteil dieser thematischen Kompartmentalisierung ist, dass man stützende Querverbindungen und Interessenslagen der Kinder nicht nutzen kann. Der Schulstoff kommt als isoliertes Schnipselwerk daher, das schwer zu behalten ist.

Zeitliche Kompartmentalisierung: nach jeder Arbeit eine neue Welt


In der Praxis unserer Lernwerkstatt in Aachen ist es eine ständige Beobachtung, dass in der Schulmathematik sehr eng kompartmentalisiert nur auf die nächste Klassenarbeit unterrichtet wird. Nach einer geschriebenen Arbeit kommt "das neue Thema", dass dann meist wie vom Himmel herunter fällt und ohne Bezug zum vorhergehenden Thema unterrichtet wird. Die folgenden Beispiele machen das deutlich.

Brüche und Prozente als Beispiel


So erkennen die wenigsten unserer Schüler den Zusammenhang zwischen Brüchen und Prozentangaben. Dass Prozente etwas mit Hundersteln zu tun haben wird mehr vage gefühlt als wirklich erfasst. Keine der Regeln, die sie zuvor im Zusammenhang mit Brüchen und Anteilen gelernt haben, werden aktiv auf die Idee der Prozente übertragen. Die zwei Wissensbereiche sind in sauber getrennten Kompartmenten abgespeichert. Siehe auch Prozent ↗

Goethes Faust und die Farbenlehre als Beispiel


In der Physik werden Farben, später auch optische Effekte wie Brechung und Dispersion besprochen. Im Deutschunterricht wird Goethes Faust behandelt. Den wenigsten Schülern aus der Oberstufe ist bewusst, dass Goethe sich selbst vor allem als Naturwssenschaftlter sehen wollte und er wahrscheinlich mehr Zeit mit Physik, Botanik und Geologie erbracht hat als mit seinen Dichtungen. Der Faust ist eine weitgehend ablehnende Auseinandersetzung Goethes mit den rechnenden Naturwissenschaften während Goethes Farbenlehre ein Vorschlag einer alternativen Herangehensweise sein soll. Hier wäre eine Brücke zwischen Deutsch, Mathematik und Physik leicht denkbar. Siehe auch Goethes Farbenlehre ↗

Lichtstrahlen mit Wellenlängen als Beispiel


Man lernt in der Klasse 8 anhand der Strahlenoptik, dass sich Licht wie Strahlen durch den Raum ausbreitet. Später, etwa in der Biologie des Auges, lernt man, dass rotes Licht eine Wellenlänge von 640 bis 780 Nanometern hat. Diese zwei Wissens-Stücke sind Kompartmentalisiert, solange man sich nicht bewusst die Frage stellt, was an einem Lichtstrahl eine Wellenlänge sein kann.

Weitere Beispiele


Zunächst kompartmentalisiert abgespeichertes Wissen scheint bei vielen Schülern über zunächst unbewusste Denkprozess (Inkubation?) zu gefühlten Widersprüchen oder (kognitive Dissonanz) zu führen. Sie spüren dann oft eine innere Unruhe, die sie aber oft nicht gut in Worte fassen können (fehlende Explikation). Grund sind oft unglückliche Begriffe, die Unstimmigkeiten zwischen getrennt abgespeicherten Wissensgebieten erzeugen. Eine Liste mit solche Worten steht unter Alogismen ↗

Wie kommt es zu einer Kompartmentalisierung?


Eine Kompartmentalisierung in der Psychologie ist ein psychisches Auseinanderhalten von widerstreitenden Fakten oder Sichten. Durch die Trennung sollen schmerzhafte oder anstrengende Verbindungen vermieden werden. Dieses Motiv findet sich auch im Alltag des Unterrichts an Schulen und Hochschulen.

Zu große Themenfülle als Ursache


Wie viele Themen in welcher Zeit behandelt werden müssen ist Lehrern an Schulen meist von außen vorgegebenen. Dividiert man die verfügbare Zeit durch die Anzahl der Themen kann man zum Beispiel zu Abschätzung der Form 18 Minuten pro Thema kommen. Krankzeiten von Lehrpersonal Klassenfahrten und Krankzeiten von Schülern sollte man hier mit berücksichtigen. Je nachdem wie feindetalliert man die Themen herunterbricht kann man dann zum Beispiel zum Ergebnis kommen, dass man für die Addition von Brüchen 18 Minuten Zeit. Die genaue Zeit ist nicht wichtig, aber die Zeit ist in jedem Fall recht knapp. Um nun die Addition von Brüchen wirklich gut zu verstehen, könnte man auf verschiedene Vorstellungen der Division aus der Grundschule zurückgreifen. Man könnte viele Praxisaufgaben machen und vielleicht auch praktisch durchspielen. Und man müsste in jedem Fall sehr viel trainieren. Dazu genügt die Zeit nicht. Man muss eine Auswahl treffen. Meist fällt die Wahl dann auf ein auswendig zu lernendes schematisches Verfahren. Dieses lässt sich von den meisten Schülern einigermaßen gut für die nächste Arbeit lernen, geht aber wegen fehlender Verbindungen mit älterem Wissen meist schnell wieder vergessen. Schnell zu viele Themen irgendwie behandeln zu müssen empfinden wir in unserer Lernwerkstatt in Aachen als eine der Hauptgründe, dass Kinder den Stoff nicht gut begreifen und verinnerlichen können. Im schlimmsten Fall kommt es so zu gefürchteten Bulimielernen ↗

Kompetenzzwang als Ursache


Es ist für Lehrende schwer Schülern gegenüber Unwissen einzugestehen. Zum einen gibt es Lehrende, die sich bewusst oder unbewusst als allwissend darstellen wollen. Zum anderen erwarten aber auch viele Schüler genau solche Lehrerfiguren. Tatsächlich entstehen durch eine unkontrollierte Verbindung verschiedener Inhalte des Schulstoffs oft schwer bis gar nicht gut zu beantwortende Fragen: wie kann Schwerkraft durch das Vakuum wandern? Wie viele Kommazahlen liegen zwischen der Eins und der Zwei? Wozu braucht man irrationale Zahlen im praktischen, "echten" Leben? Mit einem Verweis, dass das gerade nicht das Thema ist oder das das nicht in der nächsten Arbeit vorkommt, können sich Lehrer aus der Affäre ziehen; entweder weil sie keine gute Erklärung kennen oder weil die Erklärung zu lange dauern würde und vielleicht auch Schüler selbst überfordern könnte. Die Kompartmentalisierung des Stoffs kann helfen, fehlende Kompetenzen zu überspielen und als Lehrer weiterhin kompetent zu erscheinen. Eng verwandt damit ist der sogenannte Showmastereffekt ↗

Schwer handhabbare Schülerfragen als Ursache


Wie groß ist ein Elektron? Was sind die Oszillatoren bei einer elektromagnetischen Welle? Ist ein Gegenstand noch da, wenn man nicht hinsieht? Solche Fragen stellen uns in der Lernwerkstatt Mathematik in Aachen Schüler von der Klasse 3 bis hin ins Studium. Eine befriedigende Antwort würde oft lange Gespräche und tiefergehende Recherchen erzwingen. Ich selbst sehe mich oft in der Lage, dass ich noch nicht einmal weiß, ob man es weiß, ob die Sache selbst von der Wissenschafts geklärt ist oder nicht. Es macht Freude, gemeinsam mit Schülern solchen Fragen nachzugehen, wenn man Zeit hat und keinen Druck von außen. Das ist oft im Einzelunterricht ohne Notendruck der Fall. In kleinen Gruppen oder sogar ganzen Schulklassen ist das nicht mehr handhabbar. Hier hilft wiederum die Kompartmentalisierung, dass man solche Fragen mit dem Verweis auf die nächste Arbeit oder das aktuelle Thema abschneiden kann. Einige Beispiele für schwer beantwortbare und authentische Schülerfragen stehen im Artikel zu Intelligent confusion ↗

Lehrerausbildung mit ohne Breite als Ursache


In der Lernwerkstatt in Aachen haben wir seit 2010 immer wieder Praktikanten aus der Lehramtsausbildung bei uns im Unterricht. Es ist für die Praktikanten selbst wie auch für uns immer wieder ernüchternd, wie isoliert von angrenzenden Fachgebiet die Mathematik an Hochschulen vermittelt wird. Dyskalkulie ist selbst Studierenden in höheren Semestern kaum bekannt, Sachthemen und Allgemeinwissen, die in Schulbüchern bei Textaufgaben oft als bekannt vorausgesetzt werden, werden den Studierenden nicht vermittelt (Deichbau, Fliegerei, Erdkunde, Astronomie, Technik). Die Studierenden selbst verfügen oft über kaum Allgemeinwissen und können dann auch im Unterricht keine entsprechenden Querverbindungen legen. Siehe auch Allgemeinwissen ↗

Was ist das Gegenteil einer Kompartmentalisierung?


Ganzheitlich lernen, ein Spiralcurriculum nutzen, fachübergreifendes Lernen oder auch gezielt nach Widersprüchen und Ungereimtheiten suchen: um einer Kompartmentalisierung entgegen zu wirken kann man verschiedene Stilmittel im Unterricht einsetzen.


Ist eine Kompartmentalisierung nicht auch eine didaktischen Reduktion?


Äußerlich können die zwei Phänomene zunächst gleich aussehen, ein wesentlicher Unterschied ist aber die Entstehung und letztendlich auch der Lernerfolg. Eine didaktische Reduktion ist eine bewusst, zielgerichtete und gewünschte Aufspaltung eines komplexen Stoffes in einzelne bewältigbare Einheiten, im weiteren Sinn also eine analytische Herangehensweise. Entlehnt man den Begriff der Kompartmentalisierung aus der Psychologie und wendet ihn auf die Didaktik an, so übernimmt damit das Moment der Verdrängung. Die Kompartmentalisierung wird damit zum Ergebnis eines Verdrängungsprozessen. Verdrängt werden unserer Beobachtung dabei vor allem schwer vermittelbare Denkkonzepte (z. B. Dezimalzahlen, Quanteneffekte), trainingsintensive Fertigkeiten (Gleichungen lösen, Terme umformen) und fachfremde Bezüge (z. B. historische Kontexte in der Mathematik oder Physik). Siehe auch didaktische Reduktion ↗

Was ist die Idee der soziointegrativen Degeneration?


Ein Kollektiv aus Individuen wird gerade dadurch leistungsfähig, dass die Individuen selbst sich zurückbilden, Autonomie und Kompetenz aufgeben zugunsten von Mechanismen der kollektiven Intelligenz. Diesen Effekt nannt der Autor Stanislaw Lem soziointegrative Degeneration. Lem entwickelte das Konzept am Beispiel von militärischen Armeen, die sich Schritt für Schritt hin zu einer Schwarmintelligenz bestehend aus kleinsten Drohnen oder Mini-Kampfrobotern entwickelt. Aus einem erdgeschichtlichen Blickwinkel fand eine soziointegrative Degeneration möglicherweise immer dann statt, wenn sich Individuen zu Überindividuen zusammengefunden haben: Zellen werden zu Zellkolonien, Zellkolonien zu echten Mehrzehllern, Mehrzeller zu Herden und so fort. Verschiedene Autoren (Gregory Stock, Ray Kurzweil, Peter Russell) sehen den Menschen heute an der Schwelle hin zu einem globalen Überorganismus, lokalen Übergebilden oder am Rande einer sogenannten technologischen Singularität. So wie vielleicht eine einzelne Zelle im Organismus den Anspruch auf einen Gesamtüberblick gar nicht sinnvoll verfolgen könnte, so wenig haben wir als Menschen vielleicht eine Chance, den uns steuernden Überorganismus oder die uns bestimmenden Prozesse zu verstehen. Eine Kompartmentalisierung des Schulstoffs wäre aus dieser Sicht weniger Ausdruck schlechter Didaktik als vielmehr eine Zwangsläufigkeit unsere Position in einem erdgeschichtlichen Prozess, ein sinnvoller Schutzmechanismus, uns auf kleine, isolierte und bewältigbare Aspekte unseres Daseins zu beschränken. Siehe auch soziointegrative Degeneration ↗

~Gunter Heim~

Fußnoten