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Graduell


Mathematisch


Definition


Graduell heißt, dass sich etwas in sehr kleinen, kaum wahrnehmbaren Schritten ändert: die Übergänge zwischen dem Hell der Sonnenscheibe und den vorbeiziehenden Wolken war graduell. In der Mathematik kommt die Idee des Graduellen sowohl in der Stetigkeit von Dezimalzahlen vor (zwischen zwei Zahlen gibt es immer noch mehrere andere) sowie im Formalismus der Grenzwertbildung. Beides wird hier kurz erklärt.

Stetigkeit


Von der Dezimalzahl 2,4 kann man in beliebig kleinen Schritten sich auf die Dezimalzahl 2,5 zubewegen: 2,40 ⭢ 2,41 ⭢ 2,42 ⭢ 2,43 oder noch feiner 2,4000 ⭢ 2,4001 ⭢ 2,4002 ⭢ 2,4003 und so weiter. Diese Idee beliebig feiner Übergänge heißt in der Mathematik Stetigkeit ↗

Das Sekantenverfahren (h-Methode) der Analysis


Von einem Funktionsgraphen kann man die Steigung zwischen einen linken und rechten Punkt bestimmen. Nun kann man den rechten Punkt in beliebig kleinen Schritten immer näher an den linken Punkt heranführen. Die Steigung zwischen den beiden Punkten wird dann immer mehr zur Steigung in genau einem Punkt. Das ist formalisiert im sogenannten Sekantenverfahren ↗

Graduell in der Biologie


Der Biologe Ernst Haeckel (1834 bis 1919) sprach in einem Vortrag darüber, wie Bewusstsein sowohl in der Evolution, als auch beim Heranreifen eines Kindes sowie auch im Gegenwartsleben eines Menschen stets ein graduelles Phänomen ist. Kein scharfes An und Aus von Bewusstsein ist der normale Zustand, sondern eher fließende Übergänge: "Auch ist ferner die Tatsache jetzt wohl allgemein anerkannt, daß mindestens ein Teil der Seelentätigkeiten, insbesondere Wille und Empfindung, bei den höheren Tieren sich ähnlich wie beim Menschen verhält; und eine psychologische Vergleichung der verschiedenen Tiere zeigt uns eine lange Stufenleiter von verschiedenen Entwicklungsraden der Tierseele [Seite 6]." Haeckel benutzt als Gedankenmodell eine "vergleichende Seelenlehre der Tiere eine lange Stufenleiter der Entwickelung, auf der alle denkbaren Stufen der Vernunft und des Bewußtsein vertreten sind, vom ganz unvernüftigen bis zum ganz vernünftigem Tiere, vom Schwamme und Polypen bis zum Hunde und Elefanten [Seite 22]" Diese Stufenleiter sieht Haeckel auch bei heranreifenden Kindern: "Zweitens sehen wir an jedem Kinde, wie an jedem höheren Tiere daß Vernunft und Bewußtsein bei der Geburt noch nicht vorhanden sind, sondern sich erst langsam und allmählich entwickeln [Seite 22 und 23]." Und auch an sich selbst kann man einen Übergang feststellen: "Drittens endlich nehmen wir an uns selbst wahr, daß eine scharfe Grenze zwischen bewußter und unbewußter Seelentätigkeit so wenig als zwischen vernünftigem und unvernünftigem Denken existiert, daß vielmehr diese Gegensätze ohne fixierte Grenze vielfach sich berühren und ineinander übergehen [ Seite 24]. In: Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen. Vortrag gehalten am 22. März 1878 in der Concordia zu Wien. Als Buch herausgegeben vom Verlag Alfred Krömer im Jahr 1909. Der gedankliche Hintergrund zu diesem Zitat ist beschrieben im Artikel zu Zellseelen und Seelenzellen ↗