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Gordische Linsen


Denkfigur


Grundidee


Die Idee der Materie in der Physik, der freie Wille in der Psychologie, die Schuldfähigkeit im Rechtswesen oder der echte Zufall in der Stochastik: denkt man Kernkonzepte einzelner Fachdisziplinen konsequent hin zu einer abschließende Definition endet man oft in denkerischen Sackgassen und Ausweglosigkeiten. Die Denkbewegung hin zu solchen Aporien soll hier gordische Linse genannt werden. Wie solche gorischen Linsen entstehen und wie sie möglicherweise den Blick auf größere Zusammenhänge eröffnen, ist hier kurz mit einigen Beispielen vorgestellt.

Der Materiebegriff in der Physik


Es erscheint zunächst offensichtlich: wenn man einen Stein in die Hand nimmt, dann hat man auch Materie in der Hand. Ebenso klar erscheint es auch, dass man einen solchen Stein in sehr kleine Bruchstücke unterteilen kann, die dann immer noch Steinmaterie sind. Doch wenn die Bruchstücke klein genug sind (einige Moleküle groß), dann verhalten sich die Bruchstücke physikalisch völlig anders der ursprüngliche große Stein. Die Bruchstücke scheinen zeitweise nicht zu existieren, sie bewegen sich nicht auf irgendwelchen sinnvoll vorstellbahren Bahnen und sie scheinen auf geheimnisvolle Weise miteinander in Verbindung stehen zu können. Die Bruchstücke sind dann sogenannte Quantenobjekte. Wie sehr der klassische Begriff von Materie durch die Physik des 20ten Jahrhunderts zerstört wurde, verdeutlicht ein Zitat des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker: Man meint, den Menschen verstanden zu haben, wennman ihn auf Materie zurückführt. Um diesen Schein zu zerstreuen, genügt die Frage: Was ist denn Materie[1]? Lies mehr dazu unter Materie ↗

Der Freie Wille in der Psychologie


Es ist ein Gefühl, das wir oft haben und unseren Menschen oft unterstellen: etwas zu wollen. Damit verbinden sich zwei ungelöste Probleme: woher stammen die Willensregungen? Macht man sie aktiv selbst? Eher nicht: "Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will" schrieb 1838 der Philosoph Arthur Schopenhauer[3]. Wenn man aber seinen eigenen Willen nicht steuern kann, muss man sich dann für ihn verantwortlich fühlen? Aber auch die Umsetzung dieser irgendwie entstandenen Willensregungen ist philosophisch schwierig. An keiner Stelle haben Physiker bisher eine Stelle im Gehirn gefunden, an der etwa ein Wille auf die Materie des Gehirns einwirkt. Die Frage nach der Freiheit des Willens ist seit der griechischen Antike dokumentiert gehört zu den zähesten Problemen der modernen Psychologie. Siehe auch Freier Wille ↗

Die Schuldfähigkeit im Rechtswesen


Im deutschen Strafrecht neben der Rechtswidrigeit und dem Vorliegen eines Straftatbestandes die Schuld eine von drei Voraussetzungen für eine Strafbarkeit von möglichen Tätern. Die Schuldfähigkeit setzt dabei voraus, dass der Angeglagte sich auch anders hätte entscheiden können, es wird also ein Freier Wille unterstellt[4]. Dass diese Unterstellung aber problematisch sein zeigen andauernde Veröffentlichungen zu dem Thema[5]. Die Rechtswissenschaften gebrauchen das Konzept der Schuld, ohne dass die damit verbundenen naturwissenschaftlichen Fragen nach einer Determiniertheit oder Offenheit des Weltablaufes auch nur ansatzweise geklärt sind. Im Sinne einer gordischen Linse bündelt das Stichwort Schuld viele zusammenhängende Themen auf einen Fokus hin. Siehe auch Schuld ↗

Der echte Zufall in der Stochastik


Die Stochastik ist ein Teilgebiet der Mathematik. Sie verbindet die Statistik mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Neben der Wahrscheinlichkeit ist ein zentraler Begriff der Zufall. Als echten Zufall bezeichnet man Dinge, die ganz ohne Ursache passieren und sich keiner Regelhaftigkeit unterordnen. Ein so gedachter echter Zufall widerspricht aber fundamental dem menschlichen Bedürfnis, dass nichts ohne Grund passiert. Immanuel Kant hatte herausgearbeitet, dass der Mensch wohl nicht anders als in Kausalitäten (Ursachen) denken kann. Man steht hier also vor dem Dilemma, dass einerseits die Stochastik und zum Beispiel auch die Quantenphysik umfangreich Gebrauchen machen von der Idee des Zufalls. Andererseits aber ist dieses Denkkonzept philosophisch äußerst schwer fassbar oder sogar undenkbar. Wieder haben wir einen Begriff, der viele Themen fokussierend bündelt. Siehe auch echter Zufall ↗

Was ist der Nutzen der gordischen Linsen?


Der Begriff der gordischen Linsen soll hier als eine Denkfigur vorgeschlagen werden, die möglicherweise Einsichten in ganzheitliche Zusammenhänge fördert, die einem ohne Anwendung der Denkfigur entgehen würden. Wenn es in verschiedenen Fachdisziplinen Kernprobleme gibt, die sich über Jahrhundert eher erhärteten als verschwanden, so deuten diese vielleicht auf tieferliegende Prinzipien hin. Das muss nicht so sein. Aber die Wissenschschaftsgeschichte kennt doch eine Reihe von Beispielen, dass ehemals getrennte Phänomene aus einem tieferen Prinzip stammen. So fügten sich die ehemals völlig getrennten Gebiete des Magnetismus und der Elektrik zusammen zum heutigen Elektromagnetismus. Und rein mechanisch gedachte kleinste Kügelchen konnten als Teilchenmodell der Physik auch (fast) alle Effekte im Zusammenhang mit Druck und Wärme von Gasen erklären. Die tieferliegenden verbindenden Prinzipien wurden aber immer erst dann erkannt, wenn Wissenschaftler durch Zufall oder Intuition mehrere ehemals getrennte Themen gemeinsam betrachteten. Mehrere gordischen Linsen bündeln dann wiederum ihre Fragen auf einen gemeinsamen Fokus hin. Siehe dazu unter gordischer Brennpunkt ↗

Fußnoten