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Fernwirkung


Physik


Basiswissen


Als Fernwirkung oder actio in distans bezeichnet man eine Wirkung durch einen völlig leer gedachten Raum. Das klassische Beispiel für eine Fernwirkung ist die Gravitationskraft. Viele Physiker halten eine echte Fernwirkung für ein sehr problematisches Konzept. Das ist hier am Beispiel der Gravitationskraft erläutert.

Die Newtonsche Gravitationskraft als klassisches Beispiel


Isaac Newton[1642 bis 1727] gilt als Begründer der modernen Physik auf der Grundlage von Kräften und Bewegungen. Newton untersuchte unter anderem, wie sich die Himmelskörper (Planeten, Kometen) durch den Weltraum bewegen. Diese Bewegungen waren zu seiner Zeit sehr gut bekannt, etwa durch die Vorarbeiten von Nikolaus Kopernikus, Tycho Brahe und Johannes Kepler und vielen anderen. Was aber zur Zeit Newtons noch fehlte war eine Erklärung, warum sich die Himmelskörper genau so bewegten, wie sie es taten. Gesucht war ein einfaches Prinzip hinter den Phänomenen, im Idealfall einige wenige handliche Formeln.

Newtons Idee war es, die Bewegung der Himmelskörper alleine darüber zu erklären, dass sie sich gegenseitig anziehen. Die gegenseitige Kraft der Anziehung ist die Gravitationskraft. Auf dem Weg hin zu einer formelmäßigen Lösung entwickelte er übrigens - zeitlich mit dem Leipziger Universalgenie Leibniz - die Grundzüge dessen, was wir heute die Differential- und Integralrechnung nennen. Newton fand am Ende tatsächlich drei sehr einfach zu fassende Ausgangspunkte aller Rechnungen. Diese drei Ausgangspunkte oder Prämissen bezeichnen wir heute als Newtonsche Axiome ↗

Um mit seinen Gesetzen, den drei newtonschen Axiomen, die Bewegung der Himmelskörper genau vorausberechnen zu können, nahm Newton ferner an, dass die Anziehungskraft der Körper untereinander auch durch den Weltraum hindurch wirkt. Würde man sich diesen Weltraum als tatsächlich völlig leer vorstellen (was Newton nicht zwingend tat), dann wäre die Gravitationskraft ein Beispiel für eine echte Fernwirkung.

Die Fernwirkung passt nicht in ein mechanisches Weltbild


Die Zeit Newtons war die Zeit erster großer Erfolge der Naturwissenschaften. In Frankreich herrschte Ludwig XIV als Sonnenkönig, in Preußen wurde die Akademie der Wissenschaften gegründet. Grundlage vieler Erfolge war ein sogenanntes mechanistisches Weltbild. Man dachte sich die Welt als Ganzes wie aus vielen kleinen mechanischen Bauteilen aufgebaut. Der französische Philosoph Voltaire schrieb zutreffend: „Alles ist Springfeder, Hebel, Winde, hydraulische Maschine, chemisches Laboratorium vom Gras bis zur Eiche, vom Floh bis zum Menschen, vom Sandkorn bis zu den Welten“[2]. Kannte man jedoch keine passenden mechanischen Bauteile für eine mechanische Erklärung eines Phänomens, entstand eine Erklärungslücke im Weltbild. Eine genau solche Erklärungslücke war die Fernwirkung der Gravitationskraft: man kannte nichts, was sie vermittelt. Siehe mehr zu diesem Weltbild im Artikel Mechanismus ↗

Newton ist selbst kritisch gegenüber einer Fernwirkung


Isaac Newton nahm die Gravitationskraft nur modellhaft an. Er ergänzte sie noch um die Annahme, dass die Wirkung auch ohne Zeitverzug auf die Ursache folgt, man sagt auch, dass sie dann instantan (sofortig) ist. Newton musste diese Annahmen treffen, um mit seinen drei Axiomen die Bewegung der Himmelskörper erfolreich vorhersagen zu können. Newton selbst aber glaubte nicht an eine echte Fernwirkung, er nahm sie nur als Hilfsannahme für seine Rechnungen an. Dazu steht hier ein Originalzitat Newtons aus dem Jahr 1691:

„Es ist undenkbar, dass leblose, rohe Materie (ohne die Vermittlung von etwas anderem, das nicht materiell ist) ohne direkten Kontakt auf andere Materie wirken sollte, [...]. Dass die Gravitation der Materie angeboren, inhärent und wesentlich sein soll, so dass ein Körper auf einen anderen über eine Entfernung durch Vakuum hindurch und ohne die Vermittlung von etwas Sonstigem wirken soll, ist für mich eine so große Absurdität, dass ich glaube, kein Mensch, der eine in philosophischen Dingen geschulte Denkfähigkeit hat, kann sich dem jemals anschließen. Gravitation muss durch einen Vermittler verursacht werden, welcher beständig und nach bestimmten Gesetzen wirkt. Aber die Frage, ob dieser Vermittler materiell oder immateriell ist, habe ich meinen Lesern überlassen.“

Im Original: „It is unconceivable that inanimate brute matter should (without the mediation of something else which is not material) operate upon and affect other matter without mutual contact; as it must if gravitation in the sense of Epicurus be essential and inherent in it. And this is one reason why I desired you would not ascribe innate gravity to me. That gravity should be innate inherent and essential to matter so that one body may act upon another at a distance through a vacuum without the mediation of any thing else by and through which their action or force may be conveyed from one to another is to me so great an absurdity that I believe no man who has in philosophical matters any competent faculty of thinking can ever fall into it. Gravity must be caused by an agent acting constantly according to certain laws, but whether this agent be material or immaterial is a question I have left to the consideration of my readers.“

19tes Jahrhundert: Licht als Fernwirkung


Nicht nur die Gravitationskraft bereitete dem mechanistischen Denken Probleme. Auch die Ausbreitung des Lichts im Weltraum konnte mechanistisch nicht erklärt werden. Das gilt übrigens bis heute. Nachdem der Däne Ole Römer im Jahr 1676 anhand der Beobachtung von Jupitermonden gezeigt hatte, dass Licht zur Ausbreitung im Weltraum Zeit benötigt, versuchte man auch für die Fortpflanzung von Licht durch den Raum eine mechanische Erklärung zu finden. Zwei Theorien lagen im Wettstreit: a) Licht besteht aus mechanisch denkbaren, kleinsten Teilchen, den sogenannten Korpuskeln, sowie b) der Idee, dass Licht ein wellenartiges Phänomen ist, die sogenannte Wellentheorie des Lichts. Um 1800 hatte sich durch optische Versuche des Engländers Thomas Young die Wellentheorie durchgesetzt. Die Wellentheorie aber schuf die Notwendigkeit, ein Medium zu finden, in dem sich das Licht als Welle ausbreitet. So wie eine Wasserwelle Wasser zur Ausbreitung benötigt, so müsste auch eine Lichtwelle einen materiellen Stoff benötigen, der schwingt und Schwingungen weitergeben kann. Solange man keinen Stoff für die Fortpflanzung von Lichtwellen gefunden hatte, musste man die Phänomene rund um Licht im Vakuum modellhaft als Fernwirkung denken. Die Suche nach dem Stoff der Lichtausbreitung sollte letztendlich zu Einsteins Relativitätstheorie führen. Diesen Lichtstoff, den man bis heute nicht gefunden hat, nannte man Lichtäther ↗

19tes Jahrhundert: Coulombkraft als Fernwirkung


Ganz ähnlich wie bei der Gravitationskraft, geht man auch bei elektrischen Kräften davon aus, dass sie sich durch den leeren Raum ausbreiten können[8]. So würden sich der Theorie nach zwei Elektronen im absoluten Vakuum[9] mit ihrer Coulombkraft gegenseitig abstoßen. Die Abstoßung würde zwar mit zunehmender gegenseitiger Nähe der Elektronen wachsen, sie würde aber zumindest theoretisch auch über tausende von Lichtjahren Entfernung noch wirken. Siehe auch Coulombkraft ↗

20tes Jahrhundert: der gekrümmte Raum als Lösung?


Im Jahr 1916 veröffentlichte Albert Einstein seine berühmte allgemeine Relativitätstheorie. Ihr zufolge kann der Raum gekrümmt sein. Die Schwerkraft wäre dann keine geheimnisvolle Fernwirkung mehr. Vielmehr würden sich Körper in diesem gekrümmten Raum gedanklich bergab bewegen. Dazu wäre nur die lokale Wirkung eines Raumkrümmung wichtig, nicht aber eine über die Distanz wirkende Kraft. Das vermittelnde Medium wäre dann die Krümmung des Raumes selbst. Die klassische Analogie wäre ein großes, waagrecht gespanntes Tuch, auf dem eine Kugel liegt. Drückt man das Tuch an einer Stelle etwas nach unten (die Wirkung einer Masse), dann krümmt sich das Tuch und die Kugel beginnt nach unten zu rollen. Dieses Konzept von Albert Einstein kann die Schwerkraft als Folge einer Raumkrümmung erklären, nicht aber die Wirkung elektrostatischer Coulombkräfte. Siehe auch Raumkrümmung ↗

20tes Jahrhundert: spukafte Fernwirkung der Quanten


Zu den vielen ungelösten Problemen, durch welches Medium sich physikalische Wirkungen durch den Raum ausbreiten, kam in den 1920er Jahren ein weiteres, fundamental neues Problem hinzu: die sogenannte Verschränkung von Quanten. An kleinen teilchenartig gedachten Objekten der Physik hat man beobachtet, dass sie über den leeren Raum hinweg und ohne Zeitverzug in ihren Eigenschaften gekoppelt. Man spricht von einer Verschränkung. Der Nobelpreisträger der Physik, Anton Zeilinger sagte dazu unmissverständlich, dass eine Messung an einem von zwei verschränkten Teilchen „instantan“ und durch den leeren Raum hinweg den Zustand des verschränkten zweiten Teilchens beeinflusst[4]. Einstein nannte diese Wirkung wörtlich spukhaft. Wie unklar hier die grundlegenden Prinzipien sind, kommt in Zeilingers Forderung aus dem Jahr 2006 zum Ausdruck, dass die Quantenphysik einen neuen Immanuel Kant benötigt. Mehr zum philosophischen Bedarf der Quantenphysik steht im Artikel zu Zeilingers Kant-Forderung ↗

Die Außenwelt als Hypothese - ein größerer Problemkreis


Die Fragen, welche die Idee einer Fernwirkung aufwarf, waren nur eines von vielen Problemen, die Physiker bereits sehr früh im 17ten und 18ten Jahrhundert klar formulierten, die aber aber bis heute ungelöst sind. Viele der beständigen Probleme der Physik wurzeln in der Frage, was denn die Materie oder überhaupt die Welt für konkrete Eigenschaften haben soll. Für das Problematische bezeichnend sind Stichworte wie Lichtäther, Qualia-Problem, Ding an sich, Esse est percipi, Verlust der Objektivität, die Berkeley-Frage, das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon sowie die quantenphysikalische Verschränkung. Man nennt die Probleme auch perennierend (wiederkehrend) oder aporetisch (ausweglos). Um sie zu umgehen, ob zu Recht oder zu Unrecht, stellten verschiedene Denker alternative Theorien von Welten auf, die ohne Materie oder Raum gedacht werden können. Als einzig sicher gilt diesen Denkern die eigene Sinneswahrnehmung. Nur das sinnliche Innenleben wird als real akzeptiert, alles andere ist Hypothese. In diesem Sinne ist Descartes Cogito ergo sum zu deuten. Sinngemäß übersetzt heißt es so viel wie: Ich denke, also bin ich. Alles andere - auch eine angenommene Außenwelt - bleiben dann nur eine Außenwelthypothese ↗

Die Welt als Computersimulation - eine Lösung?


Schon im frühen 20ten Jahrhundert entstanden in der Science Fiction erste Ideen, dass technische Geräte uns eine eigene Realität vorgaukeln[5]. In der Philosophie spricht man von der Metapher vom Gehirn im Tank. Im Jahr 1969 veröffentlichte der Computerpionier Konrad Zuse dann seine Hypothese von einem rechnenden Raum. Zuse ließ in seinem sehr mathematischen Büchlein die Grenzen zwischen simulierter und materiell wirklich existierender Realität stark zerfließen. Nach der Jahrtausendwende beschäftigten sich dann zunehmend auch Physiker und Kosmologen ernsthaft mit der Idee einer simulierten Realität[7]. Der Gedanke könnte das Problem der Fernwirkung möglicherweise lösen. In einem Computerspiel würde niemand ernsthaft nach dem wahren Abstand einer nur simulierten Insel vom ebenfalls nur simulierten Festland fragen. Die Frage nach Ferne ist für eine Simulation unsinnig. Insofern kann die Idee einer simulierten Welt die ontologischen Probleme der Fernwirkung aufheben. Siehe mehr zur Idee einer simulierten Welt im Artikel zur Simulationshypothese ↗

Fußnoten