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Evolutionsökonomik


Wirtschaft


Definition


Wirtschaft als biologische Evolution: das ist der Grundgedanke der Evolutionsökonomik. Wirtschaftsprozesse laufen in enger Analogie zu Prozessen in der biologischen Evolution ab. Den enstprechenden Theorien fehlt aber meist ein wesentlicher Baustein. Das ist hier kurz erläutert.

Historische Entwicklungspunkte


Bereits kurz nach Erscheinen von Darwins grundlegendem Werk von 1859 über die Mechanismen der Evolution[1] wurden die Konzepte biologischer Evolution auch auf die Gesellschaft und Wirtschaft übertragen. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter sah 1911 den ewigen Wettbewerb und die Idee der Selektion (schöpferische Zerstörung) als einen wesentlichen Antriebsmotor wirtschaftlichen Fortschrittes[2]. Naturwissenschaftler wie der Biologe Hans Hass (um 1970) betrachteten Unternehmen und biologische Individuen beide als Produkt evolutionärer Prozesse mit analog ausgebildeten Merkmalen[3]. In den Wirtschaftswissenschaften werden Analogien zwischen der Biologie und Ökonomie seit den 1970er Jahren explizit angesprochen[13], wobei jedoch selten oder nie die genetischen Mechanismen der Biologie auf die Wirtschaft übetragen werden[20]. Die in Deutschland gebräuchliche Bezeichnung ist Evolutionsökonomik[4], während man im englischen Sprachraum von Evolutionary Economics spricht.

1898: Die Wirtschaftswissenschaften sind hinter der Zeit


Im Jahr 1899 veröffentichte der US-amerikanische Ökonom Thorstein Veblen (1857 bis 1929) ein einflussreiches Essay in dem er eine stärkere Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaften an der Biologie forderte[21]. Wirtschaftliche Theorien ruhten zu einseitig auf der Idee von Naturrechten (natural rights), Nützlichkeitsdenken (utalitarianism) und Verwaltungseffizienz (adminstrative efficiency). Veblen stellt fest, dass die modernen Wissenschaften seiner Zeit als evolutionäre Wissenschaften wahrgenommen werden. Er fragt dann, warum das nicht auch auf die Wirtschaftswissenschaften zutrifft. Veblen sieht die Wirtschaftswissenschaften erstarrt im Auflisten von Fakten (enumeration of data) und einer bloßen Nacherzählung von Geschichte (narrative account). Was fehle ist Theoriebildung. Veblen charaktierisert eine evolutionäre Wissenschaft darüber, dass sie eine Theorie eines Prozesses von sich entfaltenden Abfolgen (unfolding sequence) sei. Dabei fehle den Wirtschaftswissenschaften vor allem eine Beachtung streng kausaler Abhängigkeiten (causal relations), wie es in den Naturwissenschaften üblich sei.

1973: Selektion als Motivation


Neben den augenscheinlichen Analogien zwischen Unternehmen in einer Martkwirtschaft einerseits und biologischen Organismen in einem darwinistischen Wettbewerb andererseits waren es vor allem Kritikpunkte am Fortschritt der Wirtschaftswissenschaften selbst, die ein neues Paradigma nötig erschienen ließen. Ein wegweisender Artikel aus dem Jahr 1973 formulierte als Kernthese dazu[13]: Unternehmen würden tatsächlich nicht immer intelligenter, die Erfolgsprognose für wichtige Entscheidungen lägen oft außerhalb ihres Fassungsvermögens (beyond the grasp of real firms). Stattdessen könnte man Unternehmen als einfacher (more simpleminded not smarter) modellieren und sie gleichzeitig in einem evolutionären Kontext betrachten (Evolutionary versus Neoclassical theories of economic growth). Die in dem Artikel beschriebenen Mechanismen bleiben jedoch auf der Stufe einfacher evolutionärer Algorithmen, vergleichbar mit numerischen Verfahren zum Aufsuchen mathematischer Hochpunkte von Funktionsgraphen. Der zitierte Artikel beschreibt selektive Prozesse, verwendet aber an keiner Stelle Begriffe wie Erbinformation oder Gene.

Augenscheinliche Analogien


Unternehmen konkurrieren gegeneinander um begrenzte Ressourcen wie dies auch biologische Organismen tun, es stellen sich keine stabilen Zustände ein, sondern ein ständiger Kampf ums Dasein. In der Biologie gibt es Variation bei Tieren, etwa in der Ausbildung der Schnäbel von Finken, das gleich kann man bei Unternehmen in derselben ökologischen Nische beobachten, etwa Supermärkten die auf leicht unterschiedliche Produkte setzen. Was in der Ökonomie einer Innovation ist, könnte in der Biologie die Mutation sein. Und in der Biologie gibt es Selektion in Form von frühzeitigem Tod, in der Ökonomie könnte dem die Insolvenz entsprechen. Um aus diesen mehr oder minder einfach fassbaren Ähnlichkeiten aber ein nutzbares Modell zu machen, müssen enge funktionale Entsprechungen definiert werden.

Fortsetzung biologischer Evolution?


Verschiedene Autoren setzen gedanklich die biologische Evolution von Molekülen über Einzeller, Vielzeller, Organismen, Kolonien, Gesellschaften weiter fort hin zu Unternehmen oder Staaten. Die spiralförmig sich wiederholende Fusionierung von Einzelentitäten zu übergeordneten Gruppen wird behandelt unter Stichworten wie Metasystem- oder evolutionäre Transitionen ↗

Biologistische Modellbildung: Individuen


Ein Hase, eine Fichte oder ein Fliegenpilz: biologische Evolutionstheorien definieren Individuen, die als einzelner Organismus (Biont) gegen ihre Umwelt abgrenzbar sind. Für darwinistische Evolutionsprozesse zwingend notwendig ist, dass diese Individuen a) gegeneinander um begrenzte Ressourcen konkurrieren, und b) dass die zeitliche Ausbreitung der Merkmale eines Individuums eine Funktion des individuellen Erfolges im Wettbewerb um die Ressourcen ist. Ein evolutionsökonomisches Modell muss entsprechend definieren, welche wirtschaftlichen Einheiten Individuen in diesem Sinn sein sollen: ein einzelnes Unternehmen? Eine Filiale, etwa einer Tankstellenkette? Eine Branche? Ein Wirtschaftsstandort?

Biologistische Modellbildung: Erbinformation


Zwingend notwendig für den Ablauf einer darwinistischen Evolution ist, dass die anteilige Verbreitung der Merkmale eines Individuums innerhalb einer Population konkurrierender Individuen statistisch vom definierten Erfolg eines jeden einzelnen Individuums abhängt. In der biologischen Evolution spielt das Erbmaterial dabei die zentrale Rolle: neue Individuen entstehen nach einem Bauplan, die Übertragung von Merkmalen von Elternindividuen auf Nachfolgeindividuen regelt. Für eine Modellbildung im Sinne der Evolutionsökonomie muss dann entsprechend Erbinformation für Konkurrenten im Wirtschaftsgeschehen definiert werden[14]. Hier einige denkbare Beispiele:


Von Erbinformation zu sprechen macht jedoch nur Sinn, wenn ein oder mehrere Unternehmen sozusagen als Eltern dienen, und von diesen ausgehend neue Kinder-Unternehmen aus gebildet werden. Dem entsprechende Prozesse könnte man zum Beispiel in der Ausbildung von Franchise-Nehmern sehen. Aber auch wenn größere Unternehmen aufgeteilt werden und Teilunternehmen in andere Unternehmen eingegliedert werden, fließt "Erbinformation" zwischen verschiedenen Individuen. Grundsätzlich ist es nötig, Vorgänge zu definieren, bei denen kodierte Information zu Unternehmensprozessen oder Unternehmensstrukturen von einem zu einem anderen Unternehmen weitergeleitet werden. Siehe auch Unternehmens-DNA ↗

Biologistische Modellbildung: Variation


Die Fellfarbe von einzelnen Füchsen in Polargebieten kann leicht unterschiedlich sein oder auch Körpergröße erwachsener Pinguine in einer Kolonie: für eine sinnvolle Konkurrenz müssen biologische Individuen mindestens kleine Unterschiede aufweisen. Das Erzeugen solcher Unterschiede oder die Unterschiede selbst nennt man Variation. In einem evolutionsökonomischen Modell könnten solche Unterschiede zwischen Unternehmen zum Beispiel sein:


Wesentlich für die Modellbildung ist, dass solche Variationen in der Ausprägung (Phänotyp) von wirtschaftlich konkurrierenden Entitäten einen Einfluss auf die Verbreitung der Merkmale über zukünftige Individuen hat. In der biologischen Evolution spielt die Kodierung über Erbinformation eine Rolle (Genetik), aber es sind auch andere Übertragungsmechanismen bekannt (Epigenetik). Von einer Theorie einer ökonomischen Evolution muss klar dargelegt werden, durch welche Prozesse die Merkmale von wirtschaftlichen Konkurrenten gezielt oder zufällig variieren. Siehe auch Variation (Biologie) ↗

Biologistische Modellbildung: Selektion


Als vor 66 Millionen Jahren ein Asteroid auf die Erde schlug, waren Dinosaurier und verwandte Tierarten davon stärker beeinträchtigt als Säugetiere. Die Säugetiere konnten ihre Merkmale erfolgreicher verbreiten als die Dinosaurier. Die Dinosaurier wurden Opfer einer negativen Selektion, die Säugetiere Profiteure einer positiven Selektion. Verallgemeinert heißt Selektion in der Biologie, dass die Wahrscheinlichkeit zur Verbreitung eigener Merkmale vom Erfolg im Kampf um Ressourcen abhängt. Von einer Theorie einer ökonomischen Evolution muss klar dargelegt werden, wie die Merkmale von wirtschaftlichen Konkurrenten abhängig vom Erfolg sich in der Population verbreiten. Siehe auch Selektion (Biologie) ↗

Biologistische Modellbildung: Intelligenz


Unter dem Stichwort Neuroökonomie werden Ansätze gruppiert, die sich mit der Ausbildung unternehmensinterner Intelligenz nach dem Vorbild von Neuronen, Synapsen und anderen Strukturen von Gehirnen beschäftigen. Siehe dazu unter Neuroökonomie ↗

Vom Modell zur Umsetzung?


In der biologischen Evolution kann man zu verschiedenen Zeiten der Erdgeschichte große Sprünge in der Entwicklung von Arten erkennen: die Erfindung des Zellkerns, die geschlechtliche Fortpflanzung (im Gegensatz zu Baktieren), die Entwicklung vielzelliger Tiere und Pflanzen (Metabionten) oder die Ausbildung von Herden und Schwärmen. Man kann vermuten, dass diese Sprünge mit erheblichen Wettbewerbsvorteilen gegenüber vorherigen Lebewesen verbunden waren. Es stellt sich dann die Frage, ob nicht auch Wirtschaftsentitäten, etwa Unternehmen an der Börse oder Filialen eines Kettenunternehmens gezielt als darwinistisch konkurrierende Individuen gestaltet werden könnten: wie könnte die DNA eines Unternehmens geschrieben werden? Wie könnte man die Geburt neuer Unternehmen als Funktion bestehender Unternehmen gestalten? Wie könnte man die Selektion von Unternehmen gezielt darwinistisch-evolutionär durchführen? Es ist zumindest denkbar, dass ein Wirtschaftsraum, der solche Ideen aktiv testet und entwickelt einen messbaren Wettberwerbsvorteil gegenüber anderen Wirtschaftsräumen erlangt.

Kritik der Theorie


Steven E. Landsburg skizziert die Analogie zwischen Adam Smiths unsichtbarer Hand in der Ökonomie und dem Survival of the Fittest in der Biologie. Landsburg will zeigen, dass dazwischen nicht mehr als eine oberfläche Analogie besteht aber ein fundamentaler Unterschied: Marktpreise in einer Ökonomie können Effizienz hervorbringen, wofür es in der Biologie keine Entsprechung gibt[5]. Als ideenhistorische Fehlinterpretation betrachtet der Biologe H. Allen Orr die Idde, dass der biologische Darwinismus die Ökonomie inspiriert hat[7]. Er argumentiert umgekehrt und zitiert einen anderen Autoren[8]: "The perceived structure of the competitive economy provided the metaphors on which evolutionary theory was built." Darwin habe sich zu seiner Theorie vor allem auch durch die Schriften des Ökonomen Malthus[6] anregen lassen. Um zu einer tragfähigen Theorie einer biologistisch-evolutionären Ökonomie zu gelangen, müssen solche gut begründeten Einwände diskutiert werden.

Ethische Folgen


Der Mensch als Teil darwinistisch oder biologistisch deutbarer Unternehmen: Für Autoren wie Joel de Rosnay[9] oder Gregory Stock[10] und Hermann-Pillath[4] überwiegen optimistische Sichten, während andere, wie etwa der Mediziner Kazem Sadegh-Zadeh[11] darin die drohende "Verblödung" und Rückbildung des Menschen sehen. Lies mehr dazu unter Soziointegrative Degeneration ↗

Fußnoten